11
Der Transporter schaffte es schlingernd bis auf die Zufahrtsstraße, doch dann wurden Pete und Kat auf der vereisten Straße zur Seite geschleudert. Pete griff nach dem Armaturenbrett, als die Reifen ausbrachen, schließlich auf dem Pulverschnee Halt fanden und sich das betagte Gefährt wie von selbst wieder in die richtige Position brachte und aus der Einfahrt schoss.
Als sie endlich um eine Ecke bogen und damit außerhalb der Sichtweite der Farm waren, atmete Kat hörbar auf. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Durch den Rückspiegel warf sie einen Blick auf die alte Baracke, die nun schon halb von den Flammen verschlungen hinter den kahlen Bäumen zu sehen waren.
»Was war das denn?«
»Propangas«, sagte Pete. »Eine Flasche in der Küche.« Er entfernte das aufgebrauchte Magazin aus der Glock, die er gefunden hatte, setzte das neue ein und drehte sich nach hinten um. Durch den Wald um sie herum und die frühmorgendliche Dunkelheit, in der sie die weiße Landstraße entlangrasten, war nicht viel zu erkennen, doch das rote Glühen der Flammen war immer noch durch die Baumkronen zu sehen, und der Geruch von brennendem Gummi drang durch das offene Seitenfenster herein.
Es würde nicht lange dauern, bis dieses Feuerwerk von Anwohnern entdeckt werden würde. Er hoffte für sie, dass der Schlägertrupp sich bis dahin verzogen haben würde.
Es war zum Verzweifeln. Wie hatte Busir sie bloß so schnell gefunden? Der andere Kerl, der Langhaarige von der Auktion, war auch da gewesen. Der, von dem Pete glaubte, ihm irgendwo schon einmal begegnet zu sein, aber nicht wusste, bei welcher Gelegenheit.
Erst nach einigen Kurven warf Kat wieder einen Blick in den Rückspiegel. Mit ruhigerem Atem, aber ganz sicher noch durch die Aufregung genügend aufgeputscht, um einen ganzen Marathon zu laufen, sagte sie: »Ich sehe niemanden hinter uns.«
»Noch nicht.« Er setzte sich auf der zerfetzten Sitzbank zurecht und hätte alles dafür gegeben, einen Hummer zu fahren wie die Männer, die hinter ihnen her waren. Es war wieder einmal typisch, dass er ausgerechnet in einem durchgerosteten alten Pick-up gelandet war. »Ich glaube, ich habe an ihrer Riesenkiste mindestens einen, vielleicht zwei Reifen zerschossen. Wir haben also ein bisschen Vorsprung. Aber sie werden schon noch kommen.«
Die Morgendämmerung erhob sich gerade über den Hügeln. Er überlegte, dass ihnen fünfzehn Minuten blieben, vielleicht auch weniger, wenn es ihr nicht gelang, auf diesen verschneiten Nebenstraßen einen Zahn zuzulegen. »Da wir gerade beim Thema sind. Was meinst du, wie sie uns gefunden haben könnten?«
Sie schüttelte den Kopf, wandte ihre Augen aber nicht von der Straße ab. »Ich weiß es nicht. Wir hatten einen Zusammenstoß mit ihnen vor der Wohnung des Pir–« Sie verstummte abrupt und schürzte die Lippen. »Vor der Wohnung deiner Freundin.«
Seine Augenbrauen senkten sich. Und obwohl die Szenen, die ihm durch den Kopf schossen, nicht viel Sinn ergaben, erinnerte er sich vage daran, dass er in einem Seitenweg mit jemandem gerungen hatte, der Busir verdächtig ähnlich gesehen hatte. Und dass er über Kats Auftauchen starr vor Erstaunen gewesen war.
Er hob die Hand, um mit den Fingern sein blaues Auge zu betasten. »So, so, einen Zusammenstoß. War das bevor oder nachdem du mich unter Drogen gesetzt hast?«
»Vorher. Und ich habe dich nicht unter Drogen gesetzt, sondern die. Ich habe nur dafür gesorgt, dass sie dich nicht mitnahmen. Ihre Befragungsmethoden sind nicht gerade nett.«
Sie konnte ihn nicht ansehen, und der Anflug von Übelkeit, den er in ihrem Gesicht zu erkennen glaubte, schien ihm gar nicht zu der knallharten Lügnerin zu passen, als die er sie zuvor eingeordnet hatte. Als er Slades Garagenwohnung betreten hatte, war er so darauf fixiert gewesen herauszubekommen, was sie wohl mit ihm angestellt haben könnte, dass er nicht einen Moment überlegt hatte, wie sie ihn überhaupt nach Pennsylvania geschafft hatte. War es möglich, dass sie ihn irgendwie vor einem noch viel schlimmeren Schicksal bewahrt hatte?
Wovon war sie eigentlich in diesem Grab Zeugin geworden? Was hatten Busir und sein Kumpan ihrer Mitbewohnerin überhaupt angetan?
Er war nicht sicher, ob er es überhaupt wissen wollte. Denn wenn es so schrecklich war, wie er allmählich zu glauben begann, war es ein verdammt guter Grund, sich für sechs Jahre in Luft aufzulösen.
»Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt?«, fragte er stattdessen.
»Acht Meilen, vielleicht auch mehr. Aber da gibt es nichts. Eine Tankstelle. Ein Geschäft. So früh am Morgen sind sicher beide zu, vor allem nach so einem Sturm wie letzte Nacht.«
Genauso hatte er sich das vorgestellt. Er blickte über die Schulter zurück. Immer noch keine Spur von Busir. Alles in allem, überlegte er, war das immerhin ein Lichtblick.
»Wo hast du gelernt, so zu fahren?«
Die Frage schien sie zu überraschen, was ihm klarmachte, dass es in all den Stunden, die sie auf engstem Raum zusammen verbracht hatten, das erste Mal war, dass er sie etwas Persönliches fragte.
»Im Bundesstaat New York. Man kann sich sechs Monate im Jahr im Haus verkriechen oder lernen, bei Schnee zu fahren. Da mir schnell die Decke auf den Kopf fällt, habe ich eben gelernt, bei Eis und Schnee zu fahren.«
Dort hatte sie sich also die ganze Zeit versteckt. Und darum hatte sie auch einfach so auf der Auktion in New York City auftauchen können.
»Wo hast du gelernt, so zu schießen?«, fragte sie ein paar Minuten später.
Er warf ihr über die Sitzbank hinweg einen Blick von der Seite zu. Die Morgenröte beschien ihr Profil. Er musste immer noch zweimal hingucken, wenn er sie mit diesem kurzen schwarzen Haar sah, doch ihr Gesicht war genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Als wäre sie nicht einen Tag gealtert, seit er sie mit fünfundzwanzig kennengelernt hatte.
Ein heftiges Kribbeln setzte tief unten in seinem Bauch ein und bewegte sich langsam, aber sicher noch weiter abwärts. Er erstarrte, schob die Glock zu seinem anderen Oberschenkel hinüber und umfasste dabei das kühle Metall, damit sein Körper sich auf eine andere Empfindung konzentrieren konnte. »Eine Fähigkeit, die in meiner Branche nützlich sein kann.«
Er blickte aus dem Fenster auf die allmählich aufgehende Sonne über den verschneiten Hügeln und redete sich ein, dass ihm ihre Reaktion egal war.
Sie hielt die Augen auf die Straße gerichtet, während sie der scharfen S-Kurve folgte, doch er hörte sie murmeln: »Sicherheit am Arbeitsplatz.«
Er sah sie wieder an. Und dachte daran, mit was für Männern er es zu tun gehabt hatte, bevor er ihr begegnet war.
Sie hatte keinen Schimmer von Sicherheit am Arbeitsplatz und davon, was er getan hatte.
Schweigen breitete sich im Fahrgastraum aus. Pete stützte den Ellenbogen auf dem Fensterrahmen ab, fuhr sich mit der Hand über den Mund und überlegte, was sie sagen würde, wenn er es ihr erzählte.
Dann verfinsterte sich seine Miene. Sie würde gar nichts sagen. Nach all ihren gemeinsamen stürmischen Monaten, nach allem, was er geglaubt hatte, ihr zu bedeuten, wusste er, dass es sie nicht kümmerte. Und warum sollte es das auch? Wenn ihre Geschichte auch nur ansatzweise der Wahrheit entsprach, hatte sie allen Grund, ihn abgrundtief zu hassen.
Der Wagen bog um eine Kurve, und die Kleinstadt Keeneyville tauchte vor ihnen auf. Während Kat die Hauptstraße entlangfuhr, richtete er sich auf und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart.
Ganz wie sie angekündigt hatte, bestand die Innenstadt lediglich aus ein paar hingestreuten Wohnhäusern, einer Tankstelle mit zwei Zapfsäulen und einem hin und her schaukelndem grün-weißen Schild, das horrende Preise auswies. Und es gab einen Tante-Emma-Laden, in dem die Einwohner wahrscheinlich Bier und Zigaretten kauften und über die örtliche Highschool-Footballmannschaft fachsimpelten, als seien sie die Super-Bowl-Champions. Zu dieser frühen Stunde war noch niemand unterwegs, auch kein anderes Auto. Die einzige Ampel im ganzen Ort wiegte sich sanft im Wind und blinkte gelb, als seien während des Sturms die anderen Funktionen ausgefallen.
»Fahr da rein!«
Kat riss die Augen auf, doch sie fuhr, ohne zu fragen, auf das Grundstück hinter dem Laden und parkte neben einem blauen, schneebedeckten Pathfinder aus den frühen 1990er Jahren. Pete riss die Tür des Pick-ups auf, noch ehe sie vollständig gehalten hatte.
»Warte mal, Pete! Du blu–«
Er sprang aus dem Auto, bevor sie ausreden konnte, und hörte das Knirschen der zu kleinen Stiefel beim Gehen im Schnee. Ein rascher Blick durch das Beifahrerfenster bestätigte ihm, dass kein Schlüssel steckte, es aber auch keine Alarmanlage gab.
Er lief um den Geländewagen herum und suchte auf dem Boden nach einem Stein, um die Scheibe einzuschlagen, konnte aber unter dem Schnee, der das ganze Gelände bedeckte, nichts Brauchbares entdecken. Als er die Fahrerseite erreichte, zog er am Türgriff, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass derjenige, der die Karre hier hatte stehen lassen, vergessen hatte, sie abzuschließen. Und wie es der Zufall wollte, ließ sich die Tür öffnen.
Vielleicht meinte es das Schicksal zur Abwechslung ja doch einmal gut mit ihm.
Er war gerade hinter das Steuer des Pathfinder geschlüpft und beugte sich hinunter, um einen Blick unter die Lenksäule zu werfen, als er Schritte hörte, die durch den Schnee stapften, gefolgt von Kats überraschter Stimme.
»Was machst du denn da?«
Er nahm die Abdeckung ab, fand die beiden Drähte, die er für die richtigen hielt, und zog daran. »Meinen Hintern retten«, sagte er, während er sich aufsetzte. »Deine Freunde werden nach einem verrosteten Ford suchen, nicht nach einem abgewrackten Nissan.«
Mit den Fingernägeln schälte er die Isolierung ab, verband die Drähte miteinander und lächelte, als der Motor ansprang und dessen Geräusch wie Musik in seinen Ohren klang.
»Also klaust du ihn einfach?«
»Jepp. Und jetzt geh zur Seite, sonst fahr ich dich noch um.«
Aus dem Augenwinkel konnte er ihr entsetztes Gesicht sehen, doch er ignorierte es. Sie waren nicht mehr auf der Farm. Sie hatte ihr eigenes Transportmittel. Sie brauchten einander nicht mehr.
Er salutierte mit zwei Fingern, während er vom Gelände herunterfuhr und auf die Straße bog.
Und machte dann den Fehler, in den Rückspiegel zu blicken.
Kat stand mitten auf dem verschneiten Grundstück und starrte ihm mit ausdruckslosen, resignierten Augen nach. Sie hatte damit gerechnet, dass er sie auf diese Art verlassen würde. Und gerade hatte er wieder mal jeden einzelnen ihrer Glaubenssätze über ihn bestätigt.
Am Ende des Häuserblocks trat er auf die Bremse, umfasste mit beiden Händen das Lenkrad und ließ den Kopf nach vorne fallen.
Scheiiiiiiße!
Wenn er in ihren Zügen Verletztheit oder gar Fassungslosigkeit gesehen hätte, wäre er davongebraust, ohne noch einen Gedanken an sie zu verschwenden. Aber nicht, wenn ihr Gesicht diesen Ausdruck … kalter Gleichgültigkeit trug.
Er fluchte vor sich hin, über sie, über sich, über die ganze Situation. Er fuhr einmal um den Block und trat vor dem leeren Platz neben dem Laden wütend auf die Bremse. Kat stand immer noch an derselben Stelle und beobachtete ihn ungerührt.
Er beugte sich über den Sitz und stieß die Beifahrertür auf. »Steig ein!«
Sie starrte ihn eine Weile an, dann drehte sie sich zu dem Transporter um, beugte sich hinein und kramte darin herum. Als sie Sekunden später wieder zum Vorschein kam, hielt sie einen Rucksack in den Händen, der ihm vorher nicht aufgefallen war, und einen kleinen weißen Kasten.
Sie stieg neben ihm ein und schloss wortlos die Tür.
»Wofür ist das?« Er wies mit dem Kopf auf den Verbandskasten.
»Du blutest«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.
Er verrenkte sich, um einen Blick auf die Wunde zu erhaschen, zog den Rücken des abgetragenen Sweatshirts zur Seite, konnte aber nichts erkennen, als ein paar rote Flecken auf dem grauen Baumwollstoff.
Sie sah ihn immer noch nicht an. Und wenn er erwartet hatte, auf ihrem vertrauten Gesicht so etwas wie Dankbarkeit zu entdecken, dass er zurückgekommen war, oder Sorge um sein Wohlergehen, dann hatte er sich gründlich getäuscht. Sie sah aus, als scherte sie sich im Moment einen feuchten Kehricht um ihn oder das Auto oder irgendetwas, das nichts mit ihr zu tun hatte.
»Wir sollten fahren, bevor sie hier sind.«
Ihre Stimme war tonlos, ihre Augen blickten überallhin, nur nicht auf ihn. Als er ihr entschlossenes, perfektes Profil betrachtete, fragte er sich unwillkürlich, was aus der sanften und gefühlvollen Frau geworden war, für die er einst sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte.
»Sie ist gestorben.«
Ihm war nicht bewusst gewesen, dass er seine Gedanken laut ausgesprochen hatte, bis er ihre Stimme hörte. Er blickte wieder auf und sah ihr in die Augen, doch ihr Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. Wenn überhaupt, wirkte er jetzt noch steinerner.
Ja, die Frau, die er gekannt hatte, war tot. Diese hier war eine Fremde.
Pete legte den Gang ein und nahm den Fuß von der Bremse. Als sie den Ortsausgang erreicht hatten, wurde er langsamer. »Wo geht’s lang?«
Kat zögerte so lange, dass ihm ein Schauer über den Nacken lief. »Geradeaus. Nach Wellsboro.«
Was sie also nach Philadelphia führen würde. Nicht zurück nach New York.
Verdammt, er war nicht das Hinterletzte, für das sie ihn hielt. Er wusste nicht, warum er den Drang verspürte, ihr zu beweisen, dass er wenigstens noch einen Funken Anstand besaß.
Bevor er es sich anders überlegen konnte, trat er aufs Gas. »Ich bringe dich nach Philly, aber von da an bist du auf dich allein gestellt.«
»Meinetwegen.«, sagte sie ruhig, während sie die Straße entlangrasten. »Das ist nur fair. Danke.«
Pete runzelte die Stirn. Von wegen fair. Und auf ihre Dankbarkeit konnte er auch verzichten.
Die Ironie der Situation wurde ihm klar, als in seinem Kopf die Erinnerung daran aufblitzte, als er sie das erste Mal verlassen hatte. Damals hätte er einfach alles getan, um mit ihr eingesperrt zu sein, egal, wo. Aber jetzt? Jetzt war alles, woran er denken konnte, sie so weit wie möglich hinter sich zu lassen.
»Bedank dich nicht zu früh«, murmelte er. »Noch sind wir nicht da.«
Sechseinhalb Jahre früher
Kairo
»Ich glaube, ich habe dich markiert.«
»Hm?« Pete saß auf Kats Bettkante und band sich die Schnürsenkel. »Wo denn?«
Kat, die noch unter der Decke steckte und herrlich wild zerwühlt aussah, setzte sich auf und fuhr ihm mit dem Finger unter den Kragen seines blauen Hemds. Ein Kribbeln lief ihm über die Haut, wo sie ihn berührte, und die Lust schoss ihm von Neuem in die Lenden, als er sah, dass der Träger ihres Unterhemdes ihre nackte Schulter hinunterrutschte. »Genau hier. Ich glaube, ich habe noch nie jemandem einen Knutschfleck verpasst.«
Bei der Erinnerung daran, wie sich ihr Mund auf seiner Haut angefühlt hatte, wie sie ihn geleckt und geküsst hatte und immer tiefer hinabgeglitten war, begann es in seinem Bauch zu ziehen. Lächelnd stand er auf, dann machte er sich daran, die letzten paar Sachen in seinem Koffer zu verstauen. »Freut mich, dass es etwas gibt, bei dem ich für dich der Erste war.«
Seufzend ließ sie sich wieder in die Kissen sinken, und ihr dunkles Haar legte sich wie ein Fächer um sie herum. Mit schweren Lidern sah sie ihm zu, und er musste sich beherrschen, weiter einzupacken und nicht wieder zu ihr unter die Decke zu kriechen und das zu wiederholen, womit er sie vor nur einer Stunde hellwach gemacht hatte.
Mann, er konnte einfach nicht genug von ihr kriegen! Liebte es, neben ihr zu liegen, in ihr zu sein, liebte es, sie zu berühren und den Lauten zu lauschen, die sie von sich gab, wenn sie sich ihm völlig hingab. Und das war neu für ihn. Er liebte die Frauen, aber er hatte noch nie den Wunsch verspürt, einer Frau so nah zu sein. Schon gar nicht für eine so lange Zeit.
Er war bereits länger in Kairo geblieben als geplant, und wenn er nicht bald abflog, würde er noch sehr viel länger bleiben. Sie hatten zwei Nächte zurückgezogen in seiner Suite im Mena House verbracht und die letzten beiden in ihrer Wohnung. Gestern hatte sie arbeiten müssen, was ihm die Gelegenheit gegeben hatte, seine Termine zu verlegen und einigen dringenden Papierkram zu erledigen, aber noch länger konnte er seine Besprechungen nicht aufschieben.
Und die Tatsache, dass er nicht sagen konnte, wann er wieder bei ihr sein würde, ging ihm jetzt schon an die Nieren.
War es erst vier Nächte her, dass er in Kairo eingetroffen war und ihr Herz im Sturm erobert hatte? Ihm erschien es wie Monate. Es gab noch tausend Dinge, die er gerne über sie wissen wollte, obwohl er das Gefühl hatte, sie schon ewig zu kennen.
Sie sah ihn immer noch mit diesem lockenden Blick an, und er wusste, wenn er nicht etwas sagte, um sie beide abzulenken, würde er mit Sicherheit seinen Flug verpassen.
»Bewunderst du dein Kunstwerk?«, fragte er, während er seinen Gürtel durch die Schlaufen seiner kakifarbenen Hose zog und dann sein Rasierzeug in den Koffer warf.
»Ja. Macht es dich nervös?«
»Es macht mich heiß. Hör auf, mich so anzusehen!« Er schloss die Gürtelschnalle. »Ich bin sowieso schon spät dran.«
Ihr Kussmund verzog sich zu einem warmen Lächeln. »Du wolltest ja unbedingt unter die Dusche. Hättest du es gelassen, hätten wir stattdessen Runde vier einläuten können. Oder war es fünf?«
Er zog den Reißverschluss seines Koffers zu. »Wenn du mich jetzt ärgerst, wirst du später dafür bezahlen.«
»Versprochen?«
Seine Augen blickten in ihre dunkleren, und er sah, wie sich dort dieselben Dinge widerspiegelten, die auch er fühlte. Sie ließ es sich nicht anmerken, aber das hier gefiel ihr genauso wenig wie ihm.
Mist, er hätte an jenem Abend, als sie zusammen essen waren, auf die leise Stimme in seinem Kopf hören und sich von ihr fernhalten sollen.
Er nahm den Koffer vom Fußende des Bettes und stellte ihn an die Tür, dann kam er zurück und setzte sich neben sie. »Muss ich mir Sorgen machen wegen deines Ex, von dem Shannon immer spricht?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie mit einem anzüglichen Lächeln. »Bist du denn besorgt?«
»Ein bisschen«, gab er zu. »Er ist hier, und ich werde es nicht sein.«
Sie strich ihm mit der Hand über den Unterarm. »Marty ist nur ein Freund, Pete. Wir waren eine Weile zusammen, aber das war nichts Ernstes. Er ist mit seinem Job verheiratet.«
»Was macht er denn?«
Sie sah aus, als hätte sie nicht vor zu antworten, dann zuckte sie die Achseln. »Er arbeitet für die amerikanische Regierung.«
»Hier in Kairo? Und was genau?«
»Anti-Terror-Kram.«
Pete hob die Augenbrauen. »Etwa für die CIA?«
»Ich weiß nicht genau. Er hat nicht viel darüber gesprochen, aber ich glaube schon.«
Mist! Pete blickte auf die rosafarbene Wand gegenüber. Ihr Ex war bei der CIA. Fabelhaft.
Mach dich vom Acker!
Der neckende Ton kehrte wieder in ihre Stimme zurück. »Sofern du nicht irgendwelche Verbrechen begangen hast, musst du dir wegen Marty überhaupt keine Sorgen machen.«
Neuer Plan: Mach dich nicht nur vom Acker. Lauf, was das Zeug hält!
Pete bemühte sich, nicht das Gesicht zu verziehen, während er weiter die Wand anstarrte und versuchte, sich all die Schnüffler vorzustellen, die er in der Gegend kannte. »Gut zu wissen«, murmelte er.
Ihr Finger beschrieb träge einen Kreis auf seinem Unterarm. »Ähm, ich muss dir etwas gestehen.«
Er sah sie an und beobachtete, wie sie sich auf die vollen Lippen biss. Wie er in den letzten Tagen erfahren hatte, tat sie das immer dann, wenn sie wegen etwas nervös oder besorgt war. »Was denn?«
»Ach, nichts. Was ganz Blödes, wirklich. Du wirst dich kaputtlachen. Aber« – sie biss sich wieder auf die Lippe – »als du mich am ersten Tag mit ins Mena House genommen hast und ich, äh, was Falsches von dir gedacht habe –«
»Dass ich dich nicht will? Ich dachte, das hätten wir geklärt.«
Sie wurde rot. »Ja. Na ja. Ich dachte, du wärst nur an mir interessiert, weil du etwas über meinen Arbeitsplatz erfahren wolltest. Aus einigen der benachbarten Gräber sind Ausgrabungsgegenstände verschwunden, und es wird gemunkelt, dass in der Gegend eine Schmugglerbande ihr Unwesen treibt. Deshalb liegen die Nerven einiger Mitarbeiter ziemlich blank.«
Pete erstarrte und hoffte inständig, dass sie es nicht bemerkte.
»Verrückt, was?«, sagte sie kichernd. »Ich meine, dass ich dachte, du würdest so etwas tun. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Schätze, ich war nur übernervös.«
Pete wandte sich ihr ganz zu. »Ich würde dich nie derart ausnutzen, Kit-Kat. Niemals. Das weißt du doch, oder?«
Ihr Lächeln erstarb. Sie spürte, dass er ihr ein Versprechen gab, und obwohl sie die Tragweite dieses Geschenks nicht begreifen konnte, war ihr sehr wohl bewusst, dass dies ein bedeutender Moment zwischen ihnen war. »Ja, natürlich weiß ich das.«
Sie ergriff ihn beim Handgelenk. »Was meinst du, wann wirst du wieder zurück sein?«
Zu deinem eigenen Besten kann ich nur sagen: Hoffentlich niemals.
Er strich ihr eine Locke aus dem Gesicht, bewunderte die Zartheit ihrer Haut und bezichtigte sich selbst zehnerlei Formen der Dummheit.
Warum sie? Warum musste ausgerechnet sie die Frau sein, die ihm unter die Haut ging, wo er es doch all die Jahre tunlichst vermieden hatte, irgendeine Frau an sich heranzulassen?
Das Einzige, was er mit Sicherheit wusste, war, dass sie das gewisse Etwas hatte. Etwas Echtes und Frisches und Heiles, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Etwas, das auch ihn sich heil und frisch und echt fühlen ließ. Und so kitschig es auch klingen mochte, er konnte nicht genug von ihr bekommen. »Ich weiß es nicht.«
Sie legte ihre Hand auf seine, die immer noch an ihrer Wange ruhte, und schmiegte mit einer Bewegung, die so zärtlich war, dass es ihm einen Stich versetzte, ihren Kopf an ihn. »Das ist wirklich zu blöd, oder? Wir haben nicht die geringste Chance, dass das hier funktioniert.«
»Doch, das haben wir«, hörte er sich selbst sagen, obwohl er wusste, dass es ein Fehler war. »Weil das, was wir geschafft haben, viel mehr ist, als die meisten Paare hinkriegen, die in ein und derselben Stadt leben.«
»Und was ist das?«
»Alles.«
Ihre dunklen Augen fixierten die seinen, als durchsuchten sie seine Seele nach irgendeiner Wahrheit, die er nicht beweisen konnte. Dann reckte sie sich und schlang ihre Arme um seinen Hals. Ihr Kopf legte sich in die Vertiefung zwischen Hals und Schulter, und sie hatte das Gefühl, als gehörte er genau dorthin. »Ich bin sehr froh, dass du viermal hintereinander meine Führung mitgemacht hast, Peter Kauffman.«
Er schloss die Augen und hielt sie fest in seinen Armen. Und hoffte, dass sie das auch noch in einem Monat sagen würde.
Bevor ihm ein Grund einfiel, es sich anders zu überlegen, löste er sich von ihr und hob seinen Koffer vom Boden hoch. »Ich will dir etwas geben.«
Er ließ sie nicht aus den Augen, während er ihr das kleine Holzkästchen überreichte. Er hatte hin und her überlegt, ob er es ihr geben sollte oder nicht. Dann hielt er den Atem an, als sie es öffnete.
Sie bekam riesengroße Augen und blickte ihm dann ins Gesicht. »Wie hast du –«
»Er stammt aus einer privaten Sammlung«, sagte er schnell und betete, dass das stimmte. »Ich bin letzte Woche in Europa auf ihn gestoßen, und, na ja, er hat mich an dich erinnert.« Behutsam hob sie die Kette an. Der goldene Anhänger in Form eines kauernden Pharaos lugte über den Rand der Verpackung. »Ich habe den Herkunftsnachweis dafür und alle Papiere, nur zu deiner Information.«
Sie schien ihn gar nicht zu hören. »Der muss ein Vermögen wert sein.«
Das war er. Aber wenn er jetzt ihre Reaktion darauf sah, die Ehrfurcht in ihren Augen, während sie das Stück betrachtete, bestand nicht die geringste Chance, dass er ihn jemals verkaufen würde.
»Ich möchte, dass er dir gehört, Kat. Er bedeutet dir mehr als irgendeinem alten muffligen Sammler.«
»Sieh dir diese Details an.« Sie fuhr mit den Fingern über das glänzende Gold. »Er ist so wunderschön. Wie für eine Königin gemacht. Er gehört eigentlich in ein Museum.«
Sanft nahm er ihr die Kette aus den Händen und streifte sie ihr über den Kopf, sodass der goldene Pharao über ihr Medaillon des heiligen Judas Thaddäus fiel und zwischen ihren üppigen Brüsten hing. »Für mich sieht er aus, wie für dich gemacht. Und er ist nicht einmal annähernd so schön wie du.«
Ihre Augen hoben sich zu seinen, und sein Herz machte einen Satz, als er sah, wie viel Zärtlichkeit in ihnen lag. Und welches Vertrauen. Und als sie »Pete« flüsterte und ihn mit einer Hand dicht an sich zog, fühlte er sich wie im Himmel. Und aus seiner Erfahrung wusste er, dass sie ihn genau dahin bringen konnte. Und er ergab sich und streifte mit seinen Lippen sacht über ihre.
Sein Kuss sollte eigentlich zärtlich werden, das war wirklich seine Absicht, doch in dem Moment, als sie ihre Hände hob, um sein Gesicht zu umfangen, und sich seinem Mund öffnete, wurde sein Entschluss ins Wanken gebracht. Er zog sie fest an sich, öffnete die Lippen und stieß mit seiner Zunge gegen ihre, bis sie beide atemlos waren und vor Verlangen fast vergingen. Dann presste er seine Stirn an ihre und wartete bis zur allerletzten Sekunde, ehe er schließlich von ihr abließ und aufstand.
Er griff nach seinem Koffer. »Es klingt abgedroschen, wenn ich sage, ich ruf dich an.«
Sie schlang sich die Arme um die Knie. »Aber wenn dir dein Leben lieb ist, rate ich dir, es zu tun.«
Ihr vielversprechendes Lächeln und das schelmische Funkeln in ihren Augen brachten ihn zum Lächeln, und er erstickte endgültig die leise Stimme, die ihn aufforderte, sich aus dem Staub zu machen. Es wäre einfach nicht mehr gegangen, selbst wenn er es gewollt hätte. »Das werde ich, Kit-Kat. Versprochen! Wenn du heute Abend ins Bett gehst, stell dir vor, ich liege neben dir.«
Sie stieß einen zufriedenen Seufzer aus. »Das werde ich.«
Er öffnete die Tür des Taxis, das er gerufen hatte, und hielt kurz inne, um noch einmal an ihrem Haus zu ihr hochzuschauen. Sie stand im Fenster des ersten Stocks und beobachtete ihn mit einem sehnsüchtigen Blick. Den goldenen Pharaoh trug sie um den Hals. Und da wusste Pete, dass er, außer seiner Galerie, nie irgendetwas gehabt hatte, das ganz und gar ihm gehörte und woran er aufrichtig hatte festhalten wollen. Und dass es nun anders war.
Er winkte und stieg dann ins Auto.
»Flughafen?«, fragte der Fahrer.
Als sie auf die Straße bogen, rieb Pete sich sein Kinn. Jeder Zweifel daran, was er als Nächstes zu erledigen hatte, war verschwunden. »Nein.« Er gab dem Fahrer die Adresse einer Bar in einem verwahrlosten Viertel in Alt-Kairo. »Es gibt noch eine letzte Sache, die ich abschließen muss.«