23

»Pete!«

Kat lag quer über der Konsole unter ihm, den Rucksack an die Brust gepresst, die Stimme angsterfüllt.

»Mir geht’s gut.« Er hob den Kopf so weit, dass er durch die nun fehlende Windschutzscheibe blicken konnte, und entdeckte einen Mann, der ganz in ihrer Nähe hinter einen Baum trat und in der Hand etwas hielt, das im Licht der Straßenlaterne metallisch glänzte.

»Los, raus hier! Schnell!«

Halb schob und halb zog er sie aus dem Wagen heraus. Sie kamen beide auf dem Pflaster auf seiner Seite des Autos auf, als ein weiterer Schuss fiel, eine Kugel durch den Mietwagen flog und die Heckscheibe zertrümmerte.

Glassplitter übersäten die Straße und schienen in seiner Kleidung zu stecken. Er blickte in Kats große, verängstigte Augen und begriff, dass sie beide tot waren, wenn sie sich nicht schleunigst davonmachten.

»Bist du getroffen?«, fragte sie mit panischer Stimme.

»Nein. Ich bin « Scheiiiiße! »… okay. Und du?«

Sie schüttelte heftig den Kopf und versuchte, auf die Beine zu kommen und dabei hinter dem Auto in Deckung zu bleiben. Sie stopfte das Tagebuch, das sie aus Lathams Haus mitgenommen hatten, in ihren Rucksack. Er sah sich rasch um und wusste, dass sie sich entweder zur Wehr setzen oder die Beine in die Hand nehmen mussten. Er griff nach der Pistole in seinem Rücken, lud sie durch und bewegte sich Stück für Stück um den Wagen herum, um einen gezielten Schuss abgeben zu können. »Wenn ich ›Los!‹ rufe, dann rennst du!«

»Pete –«

»Keine Diskussion.« Er sah, dass der Mann zehn Meter näher war als gerade eben noch. Und, oh ja, der hier war auch auf der Farm in Pennsylvania gewesen. Kein Zweifel. Als der Kerl die Waffe hob und auf sie zielte, feuerte Pete einen Schuss ab und schrie: »Los!«

Sie musste gehorcht haben, denn sie war weg, ehe er es merkte. Er schoss noch ein paarmal, hörte einen Schrei, gefolgt von einer Salve von Flüchen, und betete, dass er den Drecksack irgendwo getroffen hatte, wo es richtig Schaden angerichtet hatte.

Dann rannte er hinter Kat her auf ein offenes Tor zu, das er zwischen zwei Häusern entdeckte. Etwas zischte für einen Sekundenbruchteil an seinem Ohr vorbei, und Holz splitterte vom Zaun direkt vor ihm ab.

Mist!

Er duckte sich zur Seite, und ihm wurde klar, dass er es niemals schaffen würde, anzuhalten und nachzuladen, ehe der Kerl weitere Schüsse abgeben würde. Aber falls ihr Verfolger verletzt war, konnten sie ihn abhängen. Vor sich konnte er gerade noch erkennen, wie Kat im Schatten davonraste. Gute Idee.

Er rannte weiter. Sie huschten durch Hinterhöfe, gingen bellenden Hunden aus dem Weg und kletterten Zäune hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Seine Schulter, mit der er auf dem Straßenpflaster gelandet war, tat höllisch weh. Aber das musste er Kat lassen: Sie blickte sich nicht ein einziges Mal um, nicht einmal, um nachzusehen, ob er davongekommen und jetzt hinter ihr war oder nicht.

Als sie eine gute Strecke hinter sich gebracht hatten, wurde sie schließlich langsamer und lehnte sich an einen Baum, um wieder zu Atem zu kommen.

»Ich denke wir haben ihn abgehängt«, sagte er und rang nach Atem. Verflucht, die Frau war echt in Form. Besser als er.

»Konntest du ihn erkennen?« Ihre Brust hob und senkte sich, während sie sich auf der ruhigen Straße umsah, die sie gerade überquert hatten, aber sie schnaufte lange nicht so wie er. »War es Busir oder Minyawi?«

Er schüttelte den Kopf, beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie. Okay, er sollte wieder mit seinem Lauftraining anfangen. Sobald dieser ganze Albtraum vorbei war. »Es war einer von den Typen aus dem Park. Ich glaube, ich habe ihn getroffen. Ich bin aber nicht sicher.«

»Sie können uns nicht gefolgt sein. Sie müssen damit gerechnet haben, dass ich versuchen würde, Latham zu treffen.«

Er nickte und schnappte weiter nach Luft. »Ja das wäre auch mein Tipp gewesen.«

»Bist du sicher, dass es dir gut geht? Du siehst nicht so aus.«

»Mir geht’s bestens«, sagte er wieder. In diesem Moment klingelte das Wegwerf-Handy, das er gekauft hatte. Er nahm es aus der Tasche, wusste, dass nur eine einzige Person die Nummer hatte, und holte noch einmal tief Atem. »Ich höre.«

»Freut mich auch, dich zu hören«, sagte Hailey süffisant. »Schlechten Tag gehabt?«

»Das willst du gar nicht wissen.«

»Aus irgendeinem Grund glaube ich dir das sogar. Aber lass dir das gesagt sein: Dein Tag wird gleich noch schlimmer werden.«

»Wunderbar. Schieß los.«

»Ich habe endlich Rückmeldung von Jill Monroe bei INTERPOL bekommen.«

Während Hailey sprach, sah Pete Kat an, die ihn mit eindringlichen Blicken musterte. »Und?«

»Ägyptische Befreiungsarmee. Sagt dir das was?«

»Den Namen habe ich schon mal in den Nachrichten gehört«, sagte er zögernd. »Was hat das hiermit zu tun?«

Hailey stieß einen langen Atemzug aus. »Aten Minyawi ist als Auftragskiller für eben diese ELA bekannt. Man geht davon aus, dass sie aus dem Ägyptischen Islamischen Dschihad hervorgegangen ist. Dschihad, Al-Dschihad, heiliger islamischer Krieg. Nenn es, wie du willst, auf jeden Fall sind das wirklich schlechte Neuigkeiten.«

»Großer Gott«, murmelte Pete und raufte sich die Haare.

»Ja, du tust gut daran, dein Gebet zu sprechen, Pete. Denn wie es aussieht, ist dein Mädchen die einzige Zeugin eines womöglich größeren internationalen Fiaskos.«

Kat griff nach ihrem Medaillon und spielte damit, während sie Pete beim Telefonieren beobachtete. Er sah sie an, aber die Art, wie er in Alarmbereitschaft versetzt worden war, sobald er die ersten Worte gehört hatte, sagte ihr, dass das, was er gerade erfahren hatte, nichts Gutes sein konnte.

Er bedeutete ihr weiterzugehen, während er sein Gespräch fortsetzte. »Ja, verstanden. Was noch?«

Sie liefen einen weiteren Block entlang und näherten sich einer größeren Durchgangsstraße. Das Glück schien auf ihrer Seite zu sein, als ein Taxi angefahren kam. Kat hielt es an, und sie stiegen ein.

Pete hielt das Telefon einen Moment beiseite und gab dem Fahrer Anweisungen, dann wandte er sich wieder der Person am anderen Ende der Leitung zu, wer auch immer sie sein mochte.

Kat blendete sein Gespräch aus und starrte durch das dunkle Fenster auf die verschwommen vorbeirasenden Lichter hinaus. Ihr Herz hämmerte immer noch wie verrückt.

Das Taxi bog auf das Gelände einer Art kleinen Lokalflugplatzes ein. Wortlos bezahlte er den Fahrer, stieß die Tür auf und gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen, dabei unablässig weitertelefonierend. »Ja, ich bin sicher, Hailey. Sieh zu, was du über seine Verbindungen herausfinden kannst. Und ob du an ein Foto von ihm kommst. Dieses Billigtelefon, das ich mir besorgt habe, kann Fotos empfangen, nur keine verschicken.«

Kat musste sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Sie überquerten den Parkplatz, traten in das kleine Terminal und auf der anderen Seite wieder durch eine Doppeltür hinaus auf das Rollfeld. Tausende von Fragen schossen ihr durch den Kopf, doch sie hatte nicht die Kraft, sie zu stellen. War einfach nur dankbar, dass sie denjenigen abgehängt hatten, der durch die Bäume hindurch auf sie geschossen hatte.

Pete zeigte auf einen schnittigen Jet mit blinkenden Lichtern und laufenden Motoren und hielt das Telefon ein wenig vom Mund weg. »Geh an Bord«, sagte er zu ihr. »Ich komme sofort nach.«

Kat starrte von ihm auf die glänzende Bombardier Challenger 850 und wieder zurück. Als sie nur staunend dastand, schob er sie vorwärts und widmete sich wieder seinem Gespräch.

Allein stieg Kat die Stufen zum Flugzeug empor. Ihr Blick fiel auf cremefarbene Ledersitze, ein langes Sofa, Teakholzeinrichtung und große Fenster.

Sie ließ ihren Rucksack auf einen Sitz fallen und beugte sich zur Seite, um aus dem Fenster zu sehen. Pete telefonierte immer noch. Sein Haar war zerzaust und sein Hemd verdreckt. Seine Jacke hatte er irgendwo unterwegs verloren, und sein Gesicht war voller Kratzer von seinem Aufprall auf dem Asphalt, doch er war nicht ernsthaft verletzt. Und er lebte.

Noch. Und das war nicht ihr Verdienst.

Dieser Gedanke erregte Übelkeit in ihr, während sie den schmalen Gang hinunterging, vorbei an einer Gruppe von vier Sesseln mit niedrigen Tischen. Am Ende des Korridors war eine Tür. Sie stieß sie auf. Links von ihr befand sich die Bordküche, mit allen Spirituosen, die sich ein Mensch nur wünschen konnte, und einer Auswahl an Snacks. Rechts der Waschraum. Geradeaus eine weitere Tür.

Sie riss vor Erstaunen weit die Augen auf, als sie hineinsah. Was auch weitere Sitzgelegenheiten hätte beherbergen können, war in Wahrheit ein Schlafzimmer mit allem Drum und Dran: ein dick gepolstertes Bett und Kissen, zwei Beistelltische aus dunklem Teakholz und ein riesiger, schräg stehender Spiegel, der an der Wand gegenüber hing.

Das gesamte Flugzeug war größer als das Haus, in dem sie bei ihrer Mutter in Washington aufgewachsen war. Dieses eine Zimmer hatte wahrscheinlich mehr gekostet als ihre Wohnung in Upstate New York. Und war eindeutig opulenter und wesentlich komfortabler. Und sehr, sehr verlockend. Ihr Mund wurde trocken, als ihr einfiel, dass sie die nächsten paar Stunden allein mit Pete in diesem Flieger eingeschlossen sein würde.

»Wir starten gleich«, sagte er hinter ihr.

Erschrocken fuhr Kat herum. »Ich habe dich gar nicht reinkommen gehört.«

Er blickte von ihr auf das Bett. Dann kehrte er wieder in die Hauptkabine zurück. »Du musst dich hinsetzen, damit wir von hier verschwinden können.«

Einen Moment lang stand sie wie angewurzelt da. Fragte sich, was sie sich beim Anblick dieses Bettes gedacht hatte. Fragte sich, ob er sich daran erinnerte, was sie letzte Nacht in diesem Motel getan hatten.

Ach ja. Er war ja ihretwegen fast draufgegangen. Nur eine Idiotin würde zu einem Zeitpunkt wie diesem an Sex denken.

Kat folgte ihm in die Hauptkabine und sank in einen Sessel rechts neben ihm. »Wohin fliegen wir?«

Er drückte einen Knopf an der Konsole zu seiner Linken. »Wir sind so weit, Steve. Wann immer Sie bereit sind.«

»Verstanden, Mr Kauffman«, antwortete eine Stimme aus einem Lautsprecher in der Decke. »Wir haben bereits Starterlaubnis. Wir müssten jeden Moment abheben können.«

Endlich sah Pete sie an. »Das war eine Geschäftspartnerin am Telefon. Ich hatte sie gebeten, ein paar Nachforschungen anzustellen, bevor ich dich heute aufgespürt habe. Das hier ist ihr Firmenjet.«

Kat hatte eine Reihe von Fragen, zum Beispiel, was »Geschäftspartnerin« wohl bedeutete, und was für eine Person das war, dass sie ihren eigenen Luxusjet besaß, doch sie stellte sie zurück, um das zu erfahren, worauf sie wirklich neugierig war. »Was für Nachforschungen?«

Er wischte sich mit einem Handtuch, das er sich aus der Bordküche mitgenommen haben musste, über sein schmutziges Gesicht. »Hintergrundinformationen.«

Sie suchte nach irgendeinem Anzeichen dafür, dass er verletzter war, als er wirkte. Sie konnte keins erkennen. »Über wen?«

Er beugte sich über sie und zog ihren Sicherheitsgurt fester, dann reichte er ihr das Handtuch. »Über deinen Freund Minyawi. Wie sich herausgestellt hat, gehört er zur ELA

Seine unbewusste Geste hätte sie sicher berührt, doch bei seinen Worten überlief Kat ein eiskalter Schauer. Die anderen Fragen, die in ihrem Kopf umhergegeistert waren, hatten sich in Luft aufgelöst, als sie nach dem Handtuch griff. Sie spürte kaum, wie das Flugzeug die Startbahn entlangschoss oder wie das Fahrwerk eingezogen wurde, während sie sich zurückerinnerte an das, was sie über die Terrororganisation gehört hatte, als sie in Kairo gearbeitet hatte. »Die Ägyptische Befreiungsarmee.«

»Jepp. Man geht davon aus, dass sie eng mit dem Ägyptischen Islamischen Dschihad zusammenarbeitet, der zur –«

»Muslimbruderschaft gehört«, beendete sie den Satz für ihn. »Der größten politischen Oppositionspartei in Ägypten.«

Pete nickte. »– und eine enge Verbündete von al-Qaida ist. Ich weiß nicht, ob du in letzter Zeit Nachrichten gehört hast, aber mehrere Mitglieder der Bruderschaft – sogar bedeutende Geschäftsleute – stehen im Moment in Ägypten vor Gericht wegen Geldwäsche und, wie die Presse es nennt, ›Finanzierung einer illegalen Gruppierung‹.«

»Der ELA«, sagte sie leise, als sich eins ins andere fügte.

»Das vermute ich auch. Auf die Bruderschaft entfallen mehr als ein Fünftel der Sitze im Parlament. Sie würden alles tun, um die ägyptische Regierung zu unterwandern.«

Kat blickte zu ihm auf. »Sie würden sogar so weit gehen, die archäologischen Schätze ihres Landes zu plündern, um ihre Ziele durchzusetzen.«

»Bingo«, sagte Pete. Stirnrunzelnd nahm er ihr das Handtuch ab und beugte sich hinüber, um ihr die Wange abzuwischen. »Und wenn das der Fall ist, bedeutet das, dass ein hohes Tier in der Regierung weiß, was da vor sich geht, und sich entweder nicht darum schert oder durch den Tauschhandel einen Arschvoll Geld verdient. Nur so konnte es dazu kommen.«

»Vielleicht jemand beim Supreme Council of Antiquities«, sagte sie, »weshalb meine Berichte nie etwas bewirkten.«

»Ja, das würde ebenfalls Sinn ergeben.« Er warf das schmutzige Handtuch quer durch die Kabine auf das Sofa.

Schweigend dachte sie über seine Worte nach. Dann blickte sie auf. »Wenn das stimmt, wer war dann der Mann im Park?«

Ehe Pete antworten konnte, ertönte wieder die Stimme des Piloten über die Sprechanlage. »Wir haben unsere Reiseflughöhe erreicht. Das Wetter müsste den ganzen Flug über bis zur Küste ziemlich ruhig sein, Sie können sich also frei in der Kabine bewegen. Ich gebe Bescheid, falls wir auf Turbulenzen stoßen.«

Pete löste den Gurt und stand auf. »Und noch eine interessante Information konnte meine Kontaktperson ans Licht holen.« Er stieß die Tür zur Bordküche auf. Kat drehte sich in ihrem Sitz herum und sah zu, wie er Eiswürfel in zwei Gläser gab, bernsteinfarbene Flüssigkeit hineingoss und zurückkam. Er reichte ihr eines davon, während er sich hinsetzte. »Der Mann im Park wurde als Dean Bertrand identifiziert.«

Sie nahm das Getränk, das er ihr anbot. »Der Name sagt mir nichts. Sollte er?«

»Ich bezweifle es. Er war früher bei INTERPOL. Er arbeitete für die Außenstelle in London. Vor drei Jahren unterstützte er die britische Regierung nach einem Terroranschlag in der Londoner U-Bahn. Du hast es sicher damals in den Nachrichten gehört.«

»Ja, ich denke schon.«

»Dreimal darfst du raten, wen INTERPOL unter Verdacht hat, an diesem Anschlag beteiligt zu sein?«

Kats Glas verharrte auf halbem Weg zu ihrem Mund. »Minyawi?«

»Haargenau. Und laut Aufzeichnungen von INTERPOL war Bertrand der einzige Agent, der ihm jemals dicht auf den Fersen war. Doch die Operation lief aus dem Ruder, und Minyawi konnte entkommen. Und der Teil wird dir gefallen: Dafür, dass er ihn fast geschnappt hätte, machte Minyawi Bertrands Frau ausfindig, als dieser nicht in der Stadt war, vergewaltigte und tötete sie und schickte Bertrand dann die Fotos seiner Tat mit FedEx.«

»Oh mein Gott!« Kat schloss die Augen.

»Nicht gerade ein netter Kerl, dieser Minyawi«, sagte Pete leise.

Nein, ganz und gar nicht. Sie erinnerte sich, dass sie Fotos davon gesehen hatte, was sie Shannon angetan hatten. Petes Beschreibung dessen, was mit Bertrands Frau passiert war, kam dem allzu nah. Kat drehte sich der Magen um.

Sie versuchte sich auf die Fakten zu konzentrieren und nicht auf eine Vergangenheit, an der sie nichts mehr ändern konnte. »Aber woher wusste dieser Bertrand, wo er uns findet? Ist er mit Marty befreundet?«

Pete stürzte seinen Whiskey hinunter und schüttelte den Kopf. »Nein. Jetzt wird es noch interessanter: Gestern Nacht berichtete eine Frau in Philly von etwas Seltsamem in der Wohnung gegenüber. Die Polizei ging rein und fand eine Leiche. Identifizierte das Opfer als den FBI-Agenten im Ruhestand, David Halloway. Ihm war in den Kopf geschossen worden. Die Behörden haben noch keinen Verdacht, aber meine Verbindungsperson bei INTERPOL hat gesagt, dass Bertrand regelmäßig mit der Abteilung für Kunstraub des FBI zusammengearbeitet hat, der Halloway vor seiner Pensionierung angehört hatte.«

Allmählich begann alles einen Sinn zu ergeben. »Marty hat den Terrorismus in Nordafrika bekämpft. Wenn er ahnte, dass es diese Verbindung zwischen der Schmuggelei und der ELA gab, erklärt das, woher er Halloway kannte. Sie hatten zusammengearbeitet.«

Es erklärte auch, warum Marty angefangen hatte, mit ihr auszugehen. Obwohl sie darüber jetzt nicht so genau nachdenken wollte. Das Wissen, dass sie von drei Männern benutzt worden war, die ihr etwas bedeutet hatten, war im Moment ein bisschen zu viel für sie.

»Möglich.«

»Und Halloway und Bertrand?«, sagte sie. »Was war mit ­denen? Arbeiteten sie auch zusammen? Das passt irgendwie nicht.«

»Oder sie spielten sich gegenseitig Informationen über ungelöste Fälle zu. Aus irgendeinem Grund war keiner von den Kerlen je aus dem Rennen gewesen, obwohl sie nicht mehr auf den Gehaltslisten standen.«

»Also ist es möglich, dass Halloway Bertrand mitgeteilt hat, dass ich angerufen habe.«

»Sieht ganz danach aus.«

»Und Bertrand hat ihn getötet? Um an mich ranzukommen?«

»Nicht an dich, Kat. An Minyawi.«

Kat dachte an die Szene mit Bertrand im Park zurück. Wie viele haben Sie noch, Minyawi? Wir können das die ganze Nacht machen. Aber ich garantiere Ihnen, eher lege ich die Kleine selbst um, als dass ich sie Ihnen überlasse!

Nein, Pete hatte recht. Bertrand hatte nicht sie gewollt. Er wollte Rache an dem Mann üben, der seine Frau auf dem Gewissen hatte.

Sie starrte auf den Ledersitz vor sich, während sich ein schweres Gewicht auf ihre Brust legte. Dieser ganze Albtraum war noch viel gewaltiger, als sie gedacht hatte. Wie um alles in der Welt konnte sie jemals erwarten, ihren Namen reinwaschen und Pete dabei raushalten zu können, wenn sie mit alldem konfrontiert waren?

»Und was nun?«, fragte sie in die Stille hinein, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte.

»Jetzt holen wir deinen Halsschmuck zurück.«

Kat sah ihn an. »Woher?«

»New York City.«

Ihre Brauen zogen sich zusammen. »Da kommen wir doch gerade her.«

»Ja.«

Und da wurde ihr klar, wer seine Freundin war, der er ihren Anhänger gegeben hatte. »Oh!«

Die Übelkeit, gegen die sie die ganze Zeit angekämpft hatte, kam augenblicklich zurück, als das Flugzeug sich nach links neigte und die tiefschwarze Nacht durchschnitt. Sie umklammerte die Armlehne an ihrem Sessel, schloss die Augen und versuchte verzweifelt, die Gedanken an Terroristen und korrupte Politiker und eine Bande, die nichts lieber wollte, als sie tot zu sehen, aus dem Kopf zu bekommen.

Und es gelang ihr. Denn so banal es auch war, wenn man bedachte, was sie gerade alles durchgemacht hatte: Das Einzige, woran sie im Moment denken konnte, war die Tatsache, dass sie auf direktem Weg in die Gewässer des Piranhas steuerte.

Hailey Roarke spähte in die dunklen Fenster von Lauren Kauffmans Luxushaus auf Key Biscayne. Kein Licht brannte am Eingang oder in den vorderen Räumen, aber das musste nicht heißen, dass Lauren nicht zu Hause war. Es musste auch nicht heißen, dass sie es war.

Hailey klopfte erneut und wartete, und als nichts geschah, nahm sie den Schlüssel, den sie auf Petes Geheiß aus seinem Büro in der Odyssey-Galerie geholt hatte, und steckte ihn ins Schloss.

Die Tür sprang auf, und Hailey trat ein, ging zur Alarmanlage und gab den Code ein. Als das Licht grün aufleuchtete, stieß sie mit dem Fuß die Tür hinter sich zu. Sie stand im spärlich beleuchteten Eingangsbereich und lauschte auf irgendwelche Geräusche im Haus. »Lauren?«

Das Letzte, worum Pete Hailey gebeten hatte, war gewesen, bei Lauren vorbeizuschauen und sicherzugehen, dass seine Schwester nicht zu Hause war. Und falls sie es doch war, sie zu überreden, für eine Weile zu verschwinden. Zumindest bis sich bei ihm die Wogen wieder geglättet hatten. Er traute es der ELA durchaus zu, sich seine Schwester zu schnappen, um an ihn und Kat heranzukommen, und Hailey ebenfalls.

Als keine Antwort erfolgte, ging Hailey die unteren Räume durch und suchte nach Anzeichen dafür, dass Lauren nach ihrem letzten Fotoshooting zu Hause gewesen war. Sie pflegte ohne Ankündigung nach Miami heimzukehren und wieder auszufliegen, was Pete jetzt am meisten beunruhigte.

Die Küche war makellos aufgeräumt, ebenso wie die übrigen Zimmer im Erdgeschoss. Keine hingeworfenen Jacken, keine kreuz und quer herumliegenden Schuhe. Keine der zehntausend Taschen, mit denen Lauren für gewöhnlich reiste, stand auf dem Boden herum.

Hailey beruhigte sich von Sekunde zu Sekunde mehr, lief leichtfüßig nach oben, in Laurens Arbeitszimmer, um nachzusehen, ob hier irgendwo ihr Kalender herumlag, dem sie vielleicht entnehmen konnte, wann sie zurück sein würde oder wo sie sich im Moment aufhielt. Pete hatte keinen blassen Schimmer, wo seine Schwester im Augenblick war, wollte aber, dass sie gefunden wurde, und in Anbetracht der Tatsache, dass es wesentlich mehr Spaß machte, ein Supermodel aufzuspüren als sich mit der kleinkarierten Sekretärin ihres Vaters herumzuschlagen, hatte Hailey die Chance zu helfen, mit Kusshand angenommen.

Davon abgesehen, mochte Hailey Lauren gut leiden. Natürlich war sie manchmal eine Primadonna, aber sie hatte Schneid. Und jede Frau, die Peter Kauffman in seine Schranken weisen konnte, war in Haileys Augen eine Freundin.

Sie stieß die Tür zum Arbeitszimmer auf, knipste das Licht an und überflog den Kalender auf Laurens elegantem Glasschreibtisch. Als sie sich in einem vornehmen Ledersessel niedergelassen hatte und Laurens Terminkalender durchblätterte, klingelte das Telefon. Ihre Hand blieb in der Luft hängen, während der Anruf auf dem Anrufbeantworter landete.

»Lauren, ich bin’s, Blake. Ich weiß, dass du zu Hause bist. Nimm ab!«

Zu Hause? Hailey blickte auf.

»Hör zu, Schatz«, sagte Blake, »wir müssen miteinander reden. Lauren? Hörst du mich? Verdammt! Ich weiß doch, dass du da bist.« Er stieß einen langen Seufzer aus. »Ruf mich einfach zurück, okay?«

Mit einem Tuten endete der Anruf, ehe Hailey den Hörer abnehmen konnte. Der Name sagte ihr etwas. Laurens Leben wurde oft in der Klatschpresse breitgewalzt, und Blake Warner war ihr neuester Liebhaber. Zwischen den beiden war offenbar etwas vorgefallen. Der gute, alte Blake hatte sauer geklungen. Und ein bisschen verzweifelt.

»Ärger mit den Männern«, murmelte Hailey und blickte wieder auf den Kalender, der vor ihr lag. »Gut zu wissen, dass ich nicht die Einzige bin.« Haileys Miene verfinsterte sich, während ihr Blick über das Blatt wanderte und ihre Gedanken zu ihrem eigenen Ärger mit Männern abschweiften.

Wobei es nicht viel Ärger gab, denn man musste einen Mann haben, um Ärger mit ihm haben zu können, und das traf auf Hailey definitiv nicht zu. Der letzte Kerl, an dem sie auch nur entfernt interessiert gewesen war – ein Mordinspektor aus Chicago, mit dem sie geglaubt hatte, auf der Hochzeit von Rafe und Lisa vor ein paar Wochen angebändelt zu haben –, hatte sie bereits am nächsten Morgen versetzt, als sie sich eigentlich zum Frühstück treffen wollten. War das nicht wieder einmal typisch für ihr Pech? Ihre Misserfolgsbilanz mit Männern nervte sie. So viel zu der Hoffnung, dass sich das einmal ändern würde.

Das Telefon in ihrer Tasche piepte, und sie zog es heraus, sah sich die SMS ihrer Freundin Jill bei INTERPOL an und lächelte. Sie leitete die Nachricht gleich an Pete weiter und hoffte, dass er sein Telefon eingeschaltet hatte.

Hailey weigerte sich, weiter über Shane Maxwell und seine geheimnisvollen sexy Augen nachzudenken, und klappte den Terminkalender zu, steckte ihr Telefon wieder in die Tasche und stand auf. Nach Blakes Nachricht zu schließen, war Lauren vielleicht in diesem Moment auf dem Weg nach Hause.

Draußen wurde eine Autotür zugeschlagen, das Geräusch war durch die ruhige Abendluft deutlich zu hören. Hailey hob den Kopf und lauschte. Schritte waren vom Eingang her zu hören.

Bingo.

Sie drückte auf den Lichtschalter und rannte die Treppe hinunter. Sie wollte Lauren abfangen, bevor das arme Ding den Schreck fürs Leben bekam, wenn sie merkte, dass die Haustür nicht abgeschlossen war.

Am Eingang angekommen, zerrte Hailey die schwere Mahagonitür auf. Dann hielt sie abrupt inne.

Das Wesen, das ihr gegenüberstand und sie anstarrte, war nicht das blonde Supermodel, das sie erwartet hatte. Es war ein Kerl von gut eins neunzig mit einer dunklen Mähne, Vollbart und schwarzen, gefühllosen Augen. Eine dünne Narbe verlief über seine linke Gesichtshälfte und vermittelte den Eindruck eines knallharten Typen.

Und als er lächelte, jagte sein langsames fieses Grinsen Hailey einen Schauer dunkler Vorahnung über den Rücken. Sie kannte das Gesicht, denn sie hatte es erst vor wenigen Augenblicken auf dem Display ihres Handys gesehen.

»Hallo, Miss Kauffman«, sagte er mit einem starken Akzent. »Sie werden von meinem Partner schon sehnsüchtig erwartet.«

Oh fuck! Minyawi.

Hailey wollte die Tür mit aller Kraft zuschlagen, doch Minyawi steckte eine Hand und einen Fuß hindurch und packte sie an den Haaren, ehe sie auch nur zwei Schritte zurückweichen konnte. Ihre Pechsträhne nahm kein Ende: Sie hatte ihre Browning im Handschuhfach ihres Wagens gelassen.

Im nächsten Moment lag sie auf dem Bauch, und ihr Gesicht wurde auf die glänzenden Fliesen gepresst, über die sie gerade noch gelaufen war, ein Knie wurde ihr in den Rücken gerammt. Ihr Telefon schlitterte über den Boden und landete hinter einer großen Topfpflanze. Die Luft wich ihr zischend aus den Lungen, als ihr etwas Scharfes in den Arm gestochen wurde.

Das Letzte, woran sie denken konnte, waren Petes Sticheleien, dass sie nie eine besonders gute Polizistin gewesen sei.

Was du nicht sagst.