21

Wenn sie doch bloß ihre neue Sekretärin niederschießen könnte und nicht dafür zur Rechenschaft gezogen würde – sie würde ohne Weiteres eine Laufbahn als Kriminelle einschlagen.

Hailey Roarkes Miene verfinsterte sich, als die Tür zu ihrem Büro zugezogen wurde, und sie dachte wehmütig an ihre Dienstwaffe.

Zu dumm, dass sie das verdammte Ding hatte abgeben müssen, als sie ihre Beurlaubung von der Polizei in Key West angetreten hatte, um in diese Hölle zu kommen, die auch unter dem Namen Roarke Resorts bekannt war.

Ihr Intercom piepte, und die nasale Stimme von Gail-der-grimmigen-Türhüterin-Florentes tönte durch den Raum wie tausend über eine Schiefertafel kratzende Fingernägel. »Ms Roarke. Sie haben einen Anruf auf Leitung drei. Ein Mr Kauff­man. Der Name sagt mir nichts. Ihr Neun-Uhr-Termin wartet schon seit über zehn Minuten.«

Der unterschwellige Vorwurf entging ihr nicht. Peter Kauffman hat nichts mit der Firma Roarke zu tun, sonst wüsste ich das. Das bedeutet, dass der Anruf privat ist, und das ist unakzeptabel. Fassen Sie sich kurz! Der Anwalt Ihres Vaters wartet.

Aber diesmal wusste Hailey, dass sie gewinnen würde. Zum ersten Mal an diesem Tag ging ein Lächeln über ihr Gesicht. Auf keinen Fall würde sie Pete für den spießigen Anwalt ihres Vaters warten lassen. Sie drückte auf den Knopf an der Sprechanlage. »Danke, Mrs Florentes. Bringen Sie Mr Arnold einen Kaffee, oder was immer er möchte, und sorgen Sie dafür, dass er sich wohlfühlt. Ich muss diesen Anruf entgegennehmen, und es könnte eine Weile dauern.«

Ein missbilligendes Knurren drang durch die Leitung. Haileys Lächeln vertiefte sich.

Sie nahm den Hörer ab, warf sich in dem luxuriösen Ledersessel ihres Vaters zurück und schwenkte herum, um durch das Fenster im sechzehnten Stock auf die Skyline der Innenstadt von Miami zu blicken.

»Was für eine Überraschung. Wie man hört, hast du dich mit der Euro-Schnecke in New York ins schöne, warme Häuschen verkrochen.«

»Schön wär’s.«

Hailey lächelte noch mehr. Als Geschäftspartner ihres Exmannes von der Odyssey-Galerie kannte sie Pete und vertraute ihm bedingungslos. Sie betrachtete ihn als guten Freund, und das würde sich niemals ändern. »Das wirft natürlich die Frage auf: Warum rufst du mich an, wenn du die Euro-Schnecke ganz für dich allein hast? Komm schon, Pete! Rette meinen Tag und sag mir, dass sie nicht genug Frau für dich oder einen anderen Mann ist.«

»Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber ich bin nicht bei Maria.«

Irgendetwas in seiner Stimme brachte sie dazu, sich aufzusetzen und ihre Entgegnung hinunterzuschlucken. Pete war selten ernst. Ein Witzbold. Ein Playboy. Jedermanns Freund. Er hatte das Aussehen eines guten Kerls und das Benehmen alter Schule, wodurch die Menschen sich von Anfang an wohl bei ihm fühlten. Hinter dieser lässigen Art hatte Hailey jedoch schon immer die Andeutung von etwas Dunklem gespürt, einer Vergangenheit, über die er nie sprach. Was der Grund dafür war, dass sein plötzlich ernster Ton in ihrem Kopf Warnlichter aufleuchten ließ.

»Aha«, sagte sie, »also, das ist allerdings eine Überraschung«. »Lisa hat mir erzählt, dass Rafe versucht hat, dich zu erreichen.«

»Ich habe mein Handy verloren. Wie geht’s Rafes Mom?«

Sein Handy verloren? Pete? Ja, klaaaar.

Hailey beobachtete den Hubschrauber eines Nachrichtenkanals, der über der Innenstadt kreiste. »Unverändert. Im Moment. Sie hält durch. Aber man weiß nicht, wie lange noch.«

»Verdammt! Ich sollte bei ihm sein.«

Haileys Brust schnürte sich zusammen, als sie an Teresa Sullivan dachte. Eine Frau, die in den wenigen Jahren mehr eine Mutter für sie gewesen war als ihre eigene Mutter in ihren ganzen vierunddreißig Jahren. Obwohl Hailey und Rafe sich schon kurz nach ihrer Spontanhochzeit in Vegas, die am besten nie stattgefunden hätte, wieder hatten scheiden lassen, waren sie immer noch Freunde. Und Teresa würde für Hailey immer zur Familie gehören.

»Wo bist du?«, fragte sie und schob den Schmerz beiseite, den bereits der Gedanke an Teresas Krankheit bei ihr verursachte.

Im Hintergrund hörte sie Federn quietschen, wie von einer Matratze. »Keine Ahnung. Irgendwo in Süd-Jersey, glaube ich.«

»Du hast keine Ahnung?« Was war da los? Das Letzte, was sie von Rafe über Pete erfahren hatte, war gewesen, dass dieser in einer Luxuslimousine und mit der verführerischen Maria Gotsi vom Kunstinstitut Athen im Schlepptau die unglaublich erfolgreiche Auktion verlassen hatte und in die Winternacht verschwunden war. Rafe hatte Hailey gegenüber seinen Verdacht geäußert, dass es mit den beiden allmählich etwas Ernstes wurde, obwohl sie alle hofften, dass das nicht stimmte. Maria war ein Tigerhai.

»Das ist eine lange Geschichte.«

Hailey dachte daran, was auf der anderen Seite der Tür auf sie wartete. »Leg los! Ich habe massenhaft Zeit, glaub mir.«

Es dauerte nicht so lange, wie sie erwartet hatte, doch ihr wurde irgendwann klar, dass sie den Mund halten und aufhören musste ständig Wirklich? und Im Ernst? zu fragen. Denn sie verlangsamte damit den Erzählfluss. Außerdem merkte sie selbst, dass sie begann, sich wie eine gesprungene Schallplatte anzuhören.

Sie wusste von Petes zwielichtigen Geschäften in der Vergangenheit. Zum Teufel, sie war mit einem Dieb verheiratet gewesen, der für ihn gearbeitet hatte, und nichts davon war neu für sie. Sie wusste auch, dass er sich über die letzten Jahre hinweg gebessert hatte. Daher war es weniger das, was er sagte, das Fragen bei ihr aufwarf, sondern eher das, was er ausließ.

Was natürlich Haileys Interesse erregte. Sowohl auf persönlicher als auch auf professioneller Ebene.

»Konntest du den Typ im Park erkennen?« Erregung hatte sie erfasst. Sie war nun seit drei Wochen von der Polizei freigestellt, solange sie aufgrund der Krankheit ihres Vaters in dessen Unternehmen einsprang. Er hatte sie ausdrücklich um Hilfe gebeten, und sie hatte nur aus irgendeinem nicht nachvollziehbaren Schuldgefühl heraus eingewilligt. Sie mochte diesen Job eigentlich nicht. Und ihr Vater wusste das auch. Sobald es ihm wieder besser ging, würde sie sich wieder in den Süden davonmachen.

»Ja. Stämmig. Mittelgroß. Etwa fünfzig, würde ich sagen. Gut in Form für sein Alter. Graues Haar. Hat behauptet, er heißt David Halloway.«

Sie notierte es sich auf einem Block auf ihrem Schreibtisch. »Aber du glaubst nicht, dass er vom FBI war?«

»Nein. Auf keinen Fall. Obwohl er so etwas angedeutet hat. Irgendwoher kannte er Slade, könnte also sein, dass er bei der CIA war, aber ich bezweifle es. Ich tippe auf INTERPOL

»Hm. Interessant. Ich habe eine Freundin bei INTERPOL. Jill Monroe. Sie war mal bei der Polizei in Miami.«

»Deshalb rufe ich an.«

Der düstere Ton in seiner Stimme entging ihr nicht, und sie lächelte. Es klang vielleicht rührselig und pathetisch, wenn man bedachte, dass sie jetzt eine mehrere Millionen schwere Firma leitete, aber es war ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden. Nicht bloß ausgenutzt.

Hailey machte sich noch eine Notiz. »Ich ruf sie an. Mal sehen, ob sie etwas über ihn rausfindet.«

»Das wäre schön. Ich brauche außerdem etwas Hintergrundinformation. Ich würde mich ja selbst drum kümmern, aber ich habe noch ein paar andere Dinge zu erledigen, und Rafe möchte ich angesichts Teresas Zustand nicht damit behelligen.«

»Ich bin froh, wenn ich dir helfen kann. Was brauchst du?«

»Vor allem erst mal Bargeld. Ich will meine Kreditkarte nicht benutzen, für den Fall, dass sie mich überwachen, und mir geht langsam die Kohle aus. Kannst du Liddy bei Odyssey bitten, mir telegrafisch etwas Geld zu schicken?«

Sie notierte sich, seine Assistentin anzurufen. »Kein Problem. Sonst noch was?«

»Ich brauche die Adressen der Personen, mit denen Kat in Kairo zusammengearbeitet hat.«

Hailey kritzelte auf dem Block unter ihrem Ellenbogen herum, während er Namen vorlas. »Das kann ich auch machen. Aber warum gehst du nicht den einfachsten Weg und fragst sie selbst, wo diese Leute sind?«

Er antwortete nicht, und sein Schweigen ließ ihren Stift mitten in ihrer wilden Kritzelei innehalten. »Oh«, sagte sie, als sie allmählich begriff. »Sie ist nicht da, oder?«

»Bingo.«

»Was hast du denn mit ihr gemacht?«

»Warum gehst du davon aus, dass ich etwas gemacht habe?«

Sie lächelte wieder. »Reine Mutmaßung.«

»Tja, diesmal liegst du falsch.« In seiner Antwort lag ein eindeutig defensiver Tonfall. Und das überzeugte Hailey davon, dass es noch mehr gab, was er ihr nicht gesagt hatte. Viel mehr.

Nicht, dass sie das etwas anging, doch es stellte eine interessante Wendung dar. Pete, der ultimative Junggeselle, stand auf eine gewiefte Ägyptologin, und sie hatte ihn gerade im Stich gelassen und das Weite gesucht. Kein Wunder, dass er angefressen war.

»Ich werde sie für dich heraussuchen«, übte sie Nachsicht für ihn. »Noch etwas?«

»Ja.« Er zögerte. »Ich könnte einen Flieger brauchen.«

Ihre Augenbrauen schnellten nach oben. »Du willst einen Probeflug mit dem Bombardier der Roarke Resorts machen, während die bösen Jungs da draußen deinem Mädchen auf den Fersen sind?«

»Es geht nicht um einen Probeflug«, sagte er. »Ich muss sie finden. Und zwar schnell.«

Wer immer diese Katherine Meyer war, sie hatte Peter Kauffman gehörig den Kopf verdreht. »Ich weiß nicht«, neckte Hailey und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Ich könnte ernsthafte Schwierigkeiten bekommen, wenn ich für private Angelegenheiten Betriebsmittel zweckentfremde. Das ist gegen die Firmenpolitik der Roarke Resorts.«

»Vergiss die Firmenpolitik. Als hättest du noch nie Regeln gebrochen.«

»Ich?« Sie tat schockiert. »Ich bin Polizistin, Kauffman.«

»Du warst Polizistin, Roarke. Und zwar keine besonders gute. Also, kann ich das gottverdammte Flugzeug nun haben oder nicht? Ich habe keine Zeit, selbst eins zu chartern, und ich habe noch nicht die leiseste Ahnung, wo die Reise hingeht.«

Verzweifelt. Oh ja. Er war wirklich am Ende.

»Mach dir mal nicht ins Hemd. Natürlich kannst du ihn benutzen. Ich rufe gleich an und sag Steve, er soll nach Philly fliegen. Er wird dich hinbringen, wo immer du willst.« Sie gab den neckenden Ton auf, da er nicht gerade zur Verbesserung seiner Stimmung beizutragen schien, und konzentrierte sich wieder auf das, was wichtig war. »Wo bist du in einer Stunde? Bis dahin habe ich wahrscheinlich alles, was du brauchst.«

»Ich weiß noch nicht genau.« Er zögerte. »Weißt du was, ich ruf dich an. Dann habe ich genügend Zeit, mir ein Wegwerf-Handy zu besorgen und selbst ein paar Nachforschungen anzustellen.«

»Okay. Geht in Ordnung. Und, Pete?«

»Ja?«

»Sie hat dir Unrecht getan. Dir nicht zu vertrauen. Du bist einer der verlässlichsten Männer, die ich kenne.«

Er war so lange still, dass sie sich nicht sicher war, ob er noch dran war. Dann hörte sie ein Rauschen und seine Stimme, erfüllt von etwas, was sich seltsam nach Reue anhörte. »Na ja, ich habe ihr nie besonders gute Gründe geliefert, mir zu vertrauen.«

Ehe sie fragen konnte, was er damit meinte, klang er wieder ganz normal, als er sagte: »Ich ruf dich in einer Stunde an, Hailey. Und danke!«

Dann war er weg.

Hailey legte auf und starrte auf die Notizen, die sie sich gerade gemacht hatte. Ihr blieben etwa sechzig Minuten, um alles zu erledigen, worum Pete sie gebeten hatte, ganz zu schweigen von der Beschaffung von Hintergrundinformationen über Katherine Meyer, David Halloway und Aten Minyawi. Den letzten Namen hatte sie ganz sicher schon einmal gehört, sie konnte sich nur nicht erinnern, in welchem Zusammenhang.

Als sie wieder nach dem Telefon griff, fiel ihr plötzlich ein, dass der Anwalt ihres Vaters immer noch draußen auf sie wartete. Es war ihr völlig egal. Er konnte weiterwarten. Sie hatte größere Sorgen als den letzten Willen ihres Daddys. Morgen war auch noch ein Tag.

Kat starrte aus dem Busfenster, während sie durch die ruhigen Straßen des vorstädtischen Raleigh in North Carolina fuhr. Die Abenddämmerung brach gerade herein, und ihr tat alles weh von dem stundenlangen Sitzen in dem Greyhoundbus, der sie hergebracht hatte.

Als sie Raleigh erreicht hatte, war sie auf den Capital Area Transit umgestiegen und brauste jetzt durch den Norden von Raleigh, auf dem Weg in die Gegend von Brentwood, das sie auf ihrer handlichen kleinen Karte markiert hatte. Sie hoffte inständig, dass die Adresse, die sie von Charles Latham hatte, noch stimmte. Es war sechs Jahre her. Möglicherweise war er umgezogen. Oder gestorben.

Sie betete, dass Letzteres nicht zutraf. Von den vier anderen Archäologen, die mit ihr an der Ausgrabung in Kairo beteiligt gewesen waren, war er der Einzige, der noch lebte. Bei dem Gedanken daran lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter, doch sie schob ihn beiseite. Autounfall, Herzinfarkt, Schlaganfall – alles ganz normale Todesursachen. Alles Todesursachen, die keine Aufmerksamkeit erregten oder Fragen aufwarfen. Selbst bei Männern, die erst in den Vierzigern oder Fünfzigern gewesen waren.

Sehr praktisch.

Etwas zu praktisch für Kats Geschmack. Sie hatte all die Jahre aus Sicherheitsgründen über jeden von ihnen Buch geführt. Und als ihre Kollegen begannen, nach und nach auf rätselhafte Weise vom Radar zu verschwinden, hatte sie gewusst, dass sie immer noch nicht in Sicherheit war. Das war einer der Gründe dafür gewesen, dass sie so lange in ihrem Versteck ausgeharrt hatte. Ihr letzter Stand war, dass Charles noch lebte – zumindest gerade so. Er hatte Krebs – unheilbar – und starb einen langsamen Tod. Hatte Busir ihn am Leben gelassen, weil der Dreckskerl gewusst hatte, dass Charles’ Tage ohnehin gezählt waren?

Möglich. Aber die wahrscheinlichere Antwort war, dass er von Anfang an mit Busir und dem Schmugglerring gemeinsame Sache gemacht hatte.

Unruhig rutschte Kat auf ihrem Sitz hin und her. Jemand musste Busirs Gruppe mit Informationen versorgt haben. Da ihr Leben – und das von Pete – auf dem Spiel stand, hatte sie vor, herauszufinden, wer das gewesen war. Selbst wenn das bedeutete, Charles Latham gegenüberzutreten und dem Sterbenden so lange zuzusetzen, bis er reden würde.

Kat blickte auf die Uhr. Es war fast vier. Sie fragte sich, wie lange Pete geschlafen hatte, bis er gemerkt hatte, dass sie weg war. Er war erschöpft gewesen, wäre fast kollabiert, nachdem sie sich geliebt hatten.

Die Erinnerung daran ließ Wärme über ihre Haut strömen, und sie schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch. Es zu tun, war eindeutig falsch gewesen, aber als er sie so angesehen hatte oh Mann, jedes ihrer Argumente war zu Asche geworden. Sie konnte sich plötzlich nicht mehr daran erinnern, warum sie ihn nicht mehr hatte ertragen können. Er hatte so gut geschmeckt, hatte sich so göttlich angefühlt, und was er mit seinen Fingern und seiner Zunge gemacht hatte, hatte sie völlig um den Verstand gebracht, bis sich jedes Nein in ein Ja verwandelt und sie ihn angefleht hatte, nicht aufzuhören.

Der Busfahrer sagte die Haltestelle an und fuhr langsamer, und Kats Gedanken kehrten wieder in die Gegenwart und zu dem zurück, was sie als Nächstes vorhatte. Sie hob ihren Rucksack vom Boden auf und erhob sich. Die Türen knallten hinter ihr zu, als sie vom Trittbrett gestiegen war, und der Bus gab ein surrendes Geräusch von sich, als er wieder in den Verkehr einscherte. Sie blickte sich in der ruhigen Wohngegend um und warf einen Blick auf die Karte, die sie am Busbahnhof mitgenommen hatte. Drei Blöcke weiter, dann einen Block quer.

»Wurde aber auch Zeit, dass du kommst.«

Kat blieb fast das Herz stehen, als sie die vertraute Stimme hörte, und sie sah zu der Bushaltestelle hinüber, wo ein Mann, dessen Gesicht sie nicht sehen konnte, auf einer Bank saß und Zeitung las. Als die Zeitung sich langsam senkte, schnappte sie nach Luft. »Was –«

»Was ich hier mache?«, vervollständigte Pete die Frage für sie. »Was glaubst du denn, was ich hier mache?«

Er erhob sich, knüllte die Zeitung zusammen und warf sie in einen Abfallbehälter.

Er hatte sich umgezogen. Er trug nicht mehr die geliehene Jeans und den alten Parka. Er hatte sich in Schale geworfen, mit einer hellbraunen Stoffhose, einem weißen Hemd und einer Lederjacke. Er sah nach Macht und Geld und gnadenlosem Sexappeal aus.

Und in seinen Augen war nicht eine Spur von Freundlichkeit, als er sie von oben bis unten musterte.

»Wie hast du mich gefunden?«

»Du meinst, nachdem du mich bis zur Besinnungslosigkeit gevögelt und dann verlassen hast?« Seine Augen blitzten auf. »Das war übrigens ein tolles Ablenkungsmanöver. Du konntest es nicht abwarten, bis ich von allein einschlafe, also hast du mich bewusstlos gefickt, um die Sache etwas zu beschleunigen. Das muss ich mir als Taktik für die Zukunft merken.«

Oh ja! Der Kerl war weit über sauer hinaus. Er war außer sich vor Wut. »Das hatte ich nicht –«

»Du solltest mich jetzt wirklich nicht reizen, Mädchen. Denn sonst garantiere ich dir, dass einem von uns beiden wehgetan wird und der andere im Gefängnis landet.«

Die Bissigkeit in seinen Worten ließ sie scharf einatmen und erstickte ihre Rechtfertigung im Keim. Okay, sie hatte sich geirrt. Sein Ärger in Martys Garage war gar nichts gewesen im Vergleich zu dem, was er jetzt an den Tag legte.

Sie schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an. »Wie hast du mich gefunden?«

»Ich weiß auch, wie man Nachforschungen anstellt.«

Na gut. Klar wusste er das. Und er wusste, mit wem sie in Kairo zusammengearbeitet hatte, weil sie es ihm erzählt hatte und weil er vielen ihrer Kollegen begegnet war, wenn er an ihrer Arbeitsstätte vorbeigeschaut hatte. »Warum bist du hier?«

»Aus zwei Gründen.« Er sah sie mit ausdruckslosen Augen an. »Erstens, weil ich in einer Sackgasse gelandet bin. Denn wenn ich jetzt nach Miami zurückkehre und mein Leben dort wieder aufnehme, werden mich früher oder später irgendwelche nahöstlichen Schläger aufspüren, um an dich ranzukommen. Das ist nicht unbedingt das, was ich unter Spaß verstehe. Also habe ich keine besonders große Auswahl, wo ich hingehe und was ich mache. Bis das hier geklärt ist, hast du mich am Hals.«

Was ihn, wie das heftige Klopfen der Ader an seiner Schläfe zeigte, nicht gerade mit Freude erfüllte.

»Und der zweite Grund?«, fragte sie zögernd.

Er biss die Zähne aufeinander, während seine Augen langsam über ihr Gesicht wanderten. »Der zweite Grund ist, dass ich meinen Halsschmuck wiederhaben will.«

Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet.

»Weißt du«, sagte er mit leichter Belustigung in der Stimme, »ich konnte mir nicht recht erklären, warum du auf der Auktion warst. Als ich dich in Pennsylvania das erste Mal sah, dachte ich törichterweise, es wäre meinetwegen gewesen. Aber wir wissen beide, dass das nicht der Grund war, stimmt’s?«

Kat machte den Mund auf, um zu antworten, doch er schnitt ihr das Wort ab.

»Dann«, fuhr er fort, »nachdem du im Park weggegangen warst, merkte ich, dass du deinen Rucksack vergessen hast. Ich habe ihn geöffnet. Keine Ahnung, warum. Ich habe es einfach gemacht. Und da habe ich ihn gesehen.« Er blickte sie scharf an. »Du warst nicht auf der Auktion, um mich zu sehen. Du warst da, um mich zu bestehlen.«

»Das war nicht der Grund, warum ich –«

»Lüg mich nicht an, Kat! Nicht jetzt. Nicht nach allem, was ich deinetwegen durchgemacht habe.«

Er hatte recht, aber es war nicht die ganze Wahrheit, und wenn sie ihm den wahren Grund verraten würde, würde er ihr mit Sicherheit nicht glauben. In seiner augenblicklichen Stimmung, beschloss sie, war es besser, nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen.

Sie machte den Mund schnell wieder zu.

»Es hat eine Weile gedauert, bis ich draufkam«, sagte er, »aber ich hatte einen ganzen Tag nichts anderes zu tun, als nachzudenken. Warum ist der Anhänger so wichtig, Kat?«

Es gab keinen Grund, es ihm nicht zu sagen, also versuchte sie es gar nicht erst mit Ausflüchten. »Er war hohl. Ich habe eine Speicherkarte reingesteckt. Von meiner Digitalkamera.«

»Warum?« Es war keine Frage, sondern eine Aufforderung, und er fragte nicht, weil er neugierig war, sondern weil von der Antwort sein Leben abhing.

Sie sah sich in der ruhigen Umgebung um. An der einen oder anderen Veranda ging flackernd Licht an, aber außer ihnen war heute Abend keine Menschenseele draußen. Und obwohl es in Raleigh gut acht Grad wärmer war als vorhin in Philadelphia, fühlte Kat sich innerlich wie erstarrt vor Kälte.

Erstarrt durch den eisigen Blick des Abscheus in Petes Gesicht. Sie hätte ihn viel lieber wieder im Liebesrausch gesehen als so.

»Nachdem dieser SCA-Beamte getötet worden war«, begann sie, »und weder der Bericht, den Sawil über die fehlenden Artefakte eingereicht hatte, noch Dr. Lathams Beschwerden zu etwas führten, beschloss ich, einen Camcorder in einer Ecke des Lagerraums zu installieren, nur um zu sehen, was nach Feierabend dort geschah. Er hatte einen Bewegungssensor, sodass er nur ansprang, wenn jemand dort war.«

»Wusste Ramirez von der Kamera?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe ihm nichts davon gesagt. Und in der Nacht, als du gegangen bist« – sie schluckte schwer, schob diese grauenvolle Erinnerung beiseite –, »kam er und sagte, er habe etwas gefunden, was ich mir ansehen müsse. Ich dachte nicht mehr an die Kamera, bis wir in dem Grab waren. Ich ging nur mit ihm, weil «

Sie zögerte. Es widerstrebte ihr, wieder an den Wurzeln all ihrer Probleme mit Pete zu rütteln.

»Weil du sehen wolltest, ob ich dort war«, beendete er den Satz für sie.

Ihre Brust schnürte sich zusammen, denn genau aus diesem Grund war sie an jenem Abend mitgegangen. »Ja.«

»Und was ist dann passiert?«, fragte er ohne erkennbare Reaktion auf ihre Enthüllung.

»Dann«, sagte sie und zwang sich, weiterzureden, da er eindeutig nicht vorhatte, etwas wieder aufzuwärmen, das ihre Beziehung betraf, »hörten wir Busir und seinen Partner. Sie waren nicht im Lagerraum. Sie waren tief in dem Grab drinnen.«

»Und?«

Sie senkte den Blick zum Boden.

»Komm ja nicht auf die Idee, wieder zu lügen, Kat! Ich will diesmal die ganze Wahrheit hören. Nicht die verwässerte Version, die du mir bisher geliefert hast.«

Sie holte Luft, um sich zu fassen und das hier durchzustehen. »Ich wollte nicht tiefer hinein, doch Sawil sagte, wir bräuchten den Beweis. Ich ich folgte ihm. Es war dunkel. Ich konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Sawil verschwand. Ich wusste nicht, wo er hin war. Ich rief nach ihm, aber nichts. Dann das Nächste, was ich weiß, ist, dass mich jemand an den Haaren gepackt hat. Ich hörte zwei Stimmen. Schreie. Und jemand knurrte mir ins Ohr, dass ich alles ruinierte. Ich hatte Todesangst, und ich wehrte mich. Ich weiß noch, dass ich kämpfte, gegen die Wand prallte und zu Boden ging. Dann heftiges Atmen, als käme er auf mich zu. Ich tastete im Dunkeln umher und fand zum Glück eine Hacke, die einer der Arbeiter liegen gelassen hatte. Ich schlug zu. Ich bin ziemlich sicher, dass ich ihn im Gesicht getroffen habe.

Ich rannte. Ich konnte den anderen Mann hinter mir hören. Wie er schrie. Aber ich konnte Sawil nicht sehen. Ich hatte keine Ahnung, was mit ihm geschehen war, aber ich wusste, dass ich nicht auf ihn warten konnte. Als ich den Lagerraum erreichte, fiel mir die Kamera ein. Ich ich griff danach, nur für den Fall, und steckte sie in die Tasche.

Ich konnte nicht nach Hause gehen. Ich hatte Angst, dass sie mich dort finden würden. Also hinterließ ich Shannon eine Nachricht. Sagte ihr, sie solle die Wohnung verlassen und warten, bis sie etwas von mir höre. Als ich Stunden später endlich Marty erreichte, um ihn zu fragen, was ich tun solle, hatte man bereits Sawils Leiche gefunden. Sie hatten ihn in dem Grab getötet. Weil ich ihn in die ganze Sache reingezogen hatte.«

Petes Kiefer spannte sich an, aber sonst zeigte er keinerlei innere Bewegung.

Sie weigerte sich, deswegen gekränkt zu sein, und wandte sich wieder ihrer Geschichte zu. Und musste diesmal die Augen schließen, denn der Schmerz, den sie beim bloßen Aussprechen der Worte verspürte, war so schrecklich wie an dem Tag, als sie es gehört hatte. »Shannon hat meine Nachricht nie bekommen. Sie war in jener Nacht mit Freunden aus. Als sie nach Hause kam, warteten sie bereits auf sie.«

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Ein Schweigen, das Kat nicht deuten konnte und wollte. Marty hatte ihr versprochen, dafür zu sorgen, dass Shannon in Sicherheit gebracht wurde. Doch am Ende war er zu spät gekommen. Genauso wie sie selbst.

Sie schob ihre Gefühle beiseite, so gut sie konnte, und sagte schließlich, »Ich habe dir den Anhänger mit dem Speicherchip darin geschickt, weil ich wusste, dass er bei dir sicher sein würde. Ich habe ihn mir nie angesehen, daher weiß ich nicht, ob überhaupt etwas Brauchbares darauf ist, aber ich dachte mir, wenn ich ihn jemals brauchen sollte, würde ich drankommen.«

»Und warum hast du ihn nicht einfach der Polizei übergeben? Wozu die Theatralik?«

Was konnte sie ihm erzählen, ohne dass es völlig irre klang? »Nachdem sie Shannon getötet hatten, wusste ich, wie tief ich in Schwierigkeiten steckte. Zwei Leichen, die miteinander und mit mir in Verbindung standen. Meine Beziehung zu dir. Man wusste, dass es zwischen mir und Sawil Spannungen gegeben hatte. Alle Indizien deuteten auf mich, und ich hatte kein sicheres Alibi. Dann hörte ich von ihnen. Sie hatten mein Handy in die Finger bekommen. Sie bedrohten meine Familie, und ich wusste nicht, mit wem und mit wie vielen ich es zu tun hatte. Ich hatte Angst. Ich dachte, das Sicherste, was ich tun könnte, war zu verschwinden. Marty stimmte mir zu. Aber nach der Autobombe, als sich alles wieder beruhigt hatte« – sie zuckte die Achseln –, »gab es keinen Grund mehr, mich um den Anhänger zu kümmern.«

»Bis ich ihn zum Verkauf anbot.«

»Ja.« Endlich blickte sie auf. »Ich konnte nicht zulassen, dass er in die falschen Hände gerät, und ich konnte mir nicht leisten, ihn aus den Augen zu verlieren.«

Er musterte sie mit sturmgrauen Augen, in denen sie beim besten Willen nicht lesen konnte. Und sie wartete auf die unausweichlichen Fragen: Warum hast du ihn mir geschickt und nicht Marty? Und warum hast du nicht früher versucht, an ihn heranzukommen? Doch er stellte sie nicht.

Stattdessen sagte er: »Na dann los! Öffne ihn! Zeig mir diesen wertvollen Chip, für den du mein Leben riskiert hast!«

Hier? Sie starrte ihn entgeistert an. Schließlich wurde ihr klar, dass er es ernst meinte. Er würde sich nicht von der Stelle rühren, bis sie genau das tun würde. Nervös blickte sie wieder die Straße hinauf und hinunter. Obwohl weit und breit niemand zu sehen war, würde es nicht lange dauern, bis irgendeinem neugierigen Anwohner die beiden Fremden auffielen, die sich am Rand einer ruhigen Wohngegend stritten.

Sie stellte sich den Rucksack auf den Schoß, beugte sich vor und durchwühlte die Tasche, bis sie den Anhänger fand. Das Licht der Straßenlaterne über ihnen beleuchtete den kauernden Pharao. Sie drehte die Statue um und sah sich die flache Unterseite an.

Genau wie sie es in Erinnerung hatte. Wenn man nur ausreichend Druck ausübte, würde sich das falsche Unterteil nach vorne schieben lassen und die verborgene Kammer darin freigeben. Doch nichts geschah, als sie drückte.

Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter, als sie den Anhänger hochhob, um einen näheren Blick darauf zu werfen. Nein, keine falsche Unterseite. Das Ding war massiv.

Das nackte Grauen schoss ihr wie eine Flutwelle vom Kopf durch den ganzen Körper.

»Gut gemacht, Kit-Kat«, säuselte Pete spöttisch. »Du hast den falschen Halsschmuck geklaut.«