15

Gegenwart

Philadelphia

Je näher sie Philadelphia kamen, desto mehr wurden Petes Instinkte in Alarmbereitschaft versetzt. Er wurde das Gefühl nicht los, dass mit diesem Treffen, das Slade arrangiert hatte, irgendetwas nicht stimmte.

Während der letzten paar Stunden hatte Kat stoisch auf dem Beifahrersitz gesessen und in die Landschaft hinausgeblickt, als sei sie Lichtjahre weit weg. In Anbetracht ihres letzten Gesprächs bei der Autovermietung war das vermutlich nicht das Schlechteste. Es gab ihm Zeit, darüber nachzudenken, was wirklich wichtig war, zum Beispiel, was zum Donnerwetter sich gleich hier abspielen würde. Alles, was er mit Sicherheit wusste, war, dass sie sich mit einem von Slades Kontakten treffen würde. Er nahm an, dass das CIA bedeutete, obwohl sie das nicht deutlich gesagt hatte. Jedenfalls war es nicht Slade, und er war sich nicht ganz sicher, ob er deswegen sauer oder erleichtert sein sollte.

Fragen über Slade entzündeten sich in seinem Kopf, während er auf dem Lincolnparkplatz am Fairmount Park anhielt und den Motor abstellte. Laublose Bäume und dichtes Unterholz durchzogen den weitläufigen, gut fünfhundert Hektar großen Park. Vor ihnen standen verwaiste Spielgeräte wie Dinosaurierskelette im kalten Novemberwind. Obwohl es hier nicht geschneit hatte, waren die Temperaturen dem Gefrierpunkt nahe und hielten selbst die aktivsten Kinder zu Hause im Warmen.

Über die Schulter blickte er auf die Bäume am anderen Ende des Parkplatzes. Sie säumten einen sanft ansteigenden Fußweg. In der Nähe glaubte er das Plätschern von Wasser über Felsen zu hören. Auf dem Parkplatz standen sonst keine Autos. Nirgendwo im Park gab es Anzeichen von Leben.

Das beruhigte ihn nicht gerade.

Kat rührte sich nicht. Sie starrte hinaus auf die Spielgeräte. Er ließ ihre angespannten Gesichtszüge und den harten Blick auf sich wirken und wusste, auch ohne zu fragen, dass hier definitiv etwas nicht stimmte. »Was nun?«

Sie sah auf die Uhr. Dann ließ sie ihre Augen über das Gelände wandern. »Er müsste jeden Moment hier sein. Er sagte, ich solle ihn an der Brücke treffen.«

Er fasste nach ihrer Hand, ehe sie die Tür öffnen konnte. »Wir gehen zusammen.«

Für eine Sekunde glaubte er so etwas wie Erleichterung in ihren dunklen Augen aufleuchten zu sehen. »Okay.«

Er rüstete sich gegen das Aufwallen von Zärtlichkeit, die er für sie empfand, indem er sich ins Gedächtnis rief, was sie ihm angetan hatte, und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. »Bleib einfach dicht bei mir.«

Sie nickte, und als er sie losließ, schlüpfte sie aus dem Auto und griff nach dem Parka, den sie auf die Rückbank geworfen hatte.

Schweigend gingen sie auf den Weg zu. Pete suchte die Bäume nach irgendetwas Ungewöhnlichem ab. Nichts als sich im Wind wiegende Äste und der sachte Lärm des auf der Straße, zwei Blocks weiter, vorbeirauschenden Verkehrs.

Als sie über die Kuppe kamen, blieb Kat stehen. Er blickte zur Brücke hinüber, auf die sich ihre Aufmerksamkeit richtete, und bemerkte eine Gestalt, die tief genug im Schatten stand, sodass niemand ihr Gesicht sah.

Nicht Slade. Selbst Pete konnte das aus dieser Entfernung erkennen, und er hatte den Kerl sechs Jahre lang nicht gesehen. Dieser Mann war gebaut wie ein Linebacker beim Football.

Kat machte einen Schritt vorwärts, doch er fasste sie wieder am Arm und bremste ihre Bewegung. »Woher weißt du, dass du diesem Typen trauen kannst?«

Ihre Oberarmmuskeln spannten sich unter seiner Hand an. »Ich Marty kennt ihn. Er vertraut ihm. Das sagt mir, dass er ungefährlich ist.«

Das beruhigte Pete kein bisschen. »Und was, wenn Marty sich irrt? Sieh ihn dir genau an. Kannst du den Kerl überhaupt richtig sehen?«

Sie sah den Mann, der langsam über die Fußgängerbrücke schritt, mit zusammengekniffenen Augen an. Sein Haar war leicht ergraut, doch sein Gesicht verbarg sich im Schatten. Er blieb stehen und blickte in ihre Richtung.

Das war’s dann wohl mit ihrer Deckung. Er hatte sie bemerkt.

»Nein«, sagte sie vorsichtig. »Aber ich glaube nicht, dass ich ihn kenne. Er hat sich zur Ruhe gesetzt.«

»Zur Ruhe gesetzt von was?«

»CIA

»Bist du sicher?«

Sie zögerte lang genug, um ihm zu vermitteln, dass sie sich bei überhaupt nichts ganz sicher war. Und aufgrund dieses kleinen Details spannten sich seine Nerven noch ein bisschen mehr an. Mit seiner freien Hand griff er hinter sich, um die Waffe in seinem Kreuz zurechtzurücken. »Bleib dicht bei mir!«

»Ich dachte, das war genau, was du wolltest. In ein paar Minuten bist du mich für immer los.« Ihre Augen flackerten vor Unsicherheit, und ein Muskel in ihrer Wange zuckte, als stünden ihre Nerven unter Strom.

Nun, damit waren sie schon zu zweit. Seine waren völlig überspannt, seit er in Slades Garage aufgewacht war und sie quicklebendig vor ihm gestanden hatte. Und die letzten paar Stunden mit ihr zusammen im Auto hatten ihm gereicht. Zu viele Erinnerungen waren wieder hochgekommen, zu vieles war ihm bewusst geworden, und dass sein Körper auf den ihren immer noch so heftig reagierte, ging ihm ziemlich auf den Wecker. Das Klügste, was er tun konnte, war, schleunigst das Weite zu suchen, bevor er etwas wirklich Dummes tat. Zum Beispiel sie zu schütteln, bis sie anfing zu schreien.

Oder sie zu küssen, bis er es tat.

Er kämpfte eine Stimmung nieder, die sich wie aus dem Nichts heraus entwickelt hatte. »Das ist auch genau, was ich will. Ich hoffe nur inständig, dass wir nicht in ein Kreuzfeuer geraten, weil dein Freund uns in die Falle lockt.«

Er ließ ihren Arm los und trat vor sie.

»Er ist nicht mein Freund«, sagte sie.

»Ja, das erwähntest du bereits«, murmelte er. Als er blöd genug gewesen war, alles zu glauben, was sie sagte.

Ihre Schuhe schlurften hinter ihm über den Fußweg. »Und es ist die Wahrheit. Heute wie damals.«

»Du wirst sicher verstehen, dass ich wegen dieser Nachricht nicht gerade Freudensprünge mache.« Du liebe Güte, wie konnte er es zulassen, dass das Gespräch derart irrsinnige Züge annahm? Sie sollten mit ihren Gedanken eigentlich ganz und gar bei dem in Kürze bevorstehenden Stelldichein sein.

»Marty ist nicht mein Freund«, wiederholte sie, als ob aus einer offensichtlichen Lüge Wahrheit würde, wenn sie es nur oft genug wiederholte. »Er ist es zu keinem Zeitpunkt gewesen, seit damals, bevor du und ich zusammen waren.«

»Du hast viele Dinge gesagt, Kat. Und jetzt sehen wir ja, wie viele sich davon als wahr herausgestellt haben.«

»Wenn ich dich belogen habe, gab es dafür einen guten Grund. Vielleicht wirst du es eines Tages verstehen.«

Das hatte gesessen. Er blieb stehen, fuhr herum und sah ihr ins Gesicht. Sie prallte fast gegen ihn, ehe sie selbst die Notbremse ziehen konnte, und nur Zentimeter vor seiner Brust zum Stehen kam.

»Erzähl! Sag mir deine guten Gründe, mir mein Leben zu versauen. Nicht bloß einmal, sondern zweimal. Ich bin ganz Ohr.«

»Ich habe es getan, weil « Ihre Augen wanderten von seinem Gesicht zu seiner Brust, ihr Ausdruck zeugte von tiefem Bedauern und äußerstem Schmerz.

Und, oh ja! Es schnürte ihm die Brust zusammen, als er dastand und sie ansah. Er konnte sie jetzt bis zur Besinnungslosigkeit küssen. Ohne Vorwarnung, ohne sich die Mühe zu machen, zwischendurch Luft zu holen. Sie beide überwältigen, sodass sich keiner von ihnen noch daran erinnern würde, worüber sie eigentlich gestritten hatten.

Aber dann wäre er in einer noch schlechteren Position als jetzt. Er war klug genug, zu wissen, dass sofort von ihr wegzukommen, seine einzige Chance war, sich selbst in Sicherheit zu bringen.

»Weißt du was?«, sagte er und versuchte, die in ihm widerstreitenden Gefühle in den Griff zu kriegen. »Jeder hat seine Gründe für das, was er tut. Alles, was du getan hast, hat dich hierhergebracht, nicht wahr? Also, Kat. Ist das hier nicht genau die Stelle, wo du hinwolltest?«

Sie starrte ihn an. Lange und fest. Und trug irgendeinen inneren Kampf mit sich aus, an dem sie ihn niemals teilhaben lassen würde. Er wartete auf ihre Antwort, spürte, dass sie drauf und dran war, ihm etwas zu sagen, was er vielleicht wissen musste, doch dann senkte sie den Blick und nickte langsam. »Ja. Jeder hat seine Gründe. Und du hast recht, Pete. Das hier ist der einzige Ort, an dem ich sein kann.«

Er fühlte sich, als hätte sie ihm gerade einen Schlag in die Magengrube versetzt. Doch er war nicht überrascht. Nach allem, was zwischen ihnen geschehen war, erwartete er nicht unbedingt, dass sie sich ihm anvertraute.

Und er wusste eigentlich auch gar nicht, wie er reagieren sollte, falls sie es doch tun würde.

Sie lief los, und er hatte keine andere Wahl, als ihr zu folgen.

Als sie die Brücke erreicht hatten, trat der Mann aus dem Schatten. »Katherine Meyer?«

Sie blieben am Fuß der Brücke stehen. Pete packte seine Emotionen in ein Schließfach und drehte den Schlüssel herum, um sich konzentrieren zu können. Kat warf ihm einen kurzen Blick von der Seite zu, dann sah sie den Mann an. »Ja.«

Der Mann kam ans Licht. Er war gut fünfzig Jahre alt, aber für sein Alter in ausgezeichneter körperlicher Verfassung. »David Halloway. Sie können sich wahrscheinlich nicht mehr an mich erinnern, aber wir sind uns mal kurz begegnet. In Kairo.«

Sie zog die Augenbrauen zusammen, während sie versuchte, sich zurückzuerinnern, doch Pete konnte kein Anzeichen für Wiedererkennen in ihren Augen erkennen. »Nein, ich erinnere mich nicht an Sie.«

Er zuckte leicht mit den Achseln. »Das überrascht mich nicht. Ich habe so ein Gesicht, das in der Menge untergeht.«

»Eine gute Eigenschaft für einen Schnüffler«, warf Pete ein.

Halloway blickte in seine Richtung. »Und Sie sind?«

»Peter Kauffman.«

Halloway musterte ihn, und wie bei Zahnrädern, die zu arbeiten begannen, wurde langsam Erkennen in seinen Augen sichtbar. »Sie kamen mir gleich bekannt vor. Ich hatte Ihre Akte mehr als einmal auf dem Tisch.«

Er hatte eine Akte? Fabelhaft. Der Tag wurde von Minute zu Minute besser.

»Und nun fürs Protokoll«, fuhr er fort. »Ich bin kein Schnüffler.«

Pete blickte Kat an und wieder zurück. »Sie sind nicht von der CIA

Halloway schüttelte den Kopf. »FBI. Im Ruhestand. Ich habe gegen Ende meiner Karriere in der Abteilung für Kunstraub gearbeitet.«

»Und woher kennen Sie Marty?«, fragte Kat.

»Wir haben in ein paar Fällen zusammengearbeitet. Ressortübergreifende Kooperation. Kunstdiebstahl und Antiquitätenschmuggel sind nun mal meistens internationaler Natur. Ich habe einen Großteil meiner Zeit in Übersee verbracht.«

»Was wissen Sie über Busir?«, fragte sie. »Und diesen Minyawi, der angeblich bei ihm ist.«

Er sah sie eindringlich an, und sein Gesichtsausdruck wechselte innerhalb einer Nanosekunde von ungezwungen zu todernst. »Mehr, als Sie wissen wollen. Busir ist eigentlich ein kleiner Fisch. Ein Mittelsmann, mehr nicht. Macht für Geld, was ihm gesagt wird. Die Tatsache, dass er mit Minyawi zusammenarbeitet, ist weitaus interessanter.«

»Also, Minyawi«, fuhr er fort, »der wäre ein Fang. Steht auf den Fahndungslisten mehrerer Länder wegen Informationsbeschaffungsmaßnahmen, die alles andere als menschenfreundlich waren. Der Mann ist seit fast fünf Jahren im Blutrausch. Ist in der Hierarchie seiner Gruppe aufgestiegen wie ein Flächenbrand, der sich in einem Trockental ausbreitet. Er ist umsichtig, zielorientiert und gewieft. Und ich habe noch von keiner einzigen Person gehört, die ihm durchs Netz gegangen ist. Deshalb frage ich mich, warum Sie so wichtig sind, dass er sich die Zeit nimmt, Sie zu verfolgen. Entweder sind Sie das cleverste Opfer, das er jemals hatte, oder Sie haben das Glück der Dummen auf Ihrer Seite, Mädchen.«

Kat erstarrte.

»Sie wissen etwas über jemanden, in dessen Schuld Minyawi steht«, fügte Halloway hinzu. »Oder vor dem er sich fürchtet. Das macht Sie für ihn zur obersten Priorität. So sehr, dass er es sogar riskiert, in die Staaten zu kommen, was er bisher tunlichst vermieden hat.«

Kat antwortete nicht, doch ihr Gesichtsausdruck schien Halloways Worte zu bestätigen. Pete kniff die Augen zusammen, während er sie beobachtete. Was genau wusste sie? Und wohin würde das führen, wenn sich sowohl die CIA als auch das FBI mit ihrem Fall beschäftigten? Er war nicht so naiv, zu glauben, dass sie mehr als ein Bauer in einem sehr großen Schachspiel war.

»Natürlich«, sagte Halloway, als klar war, dass sie nicht mehr antworten würde, »spielt das für mich eigentlich auch keine Rolle. Alles, was mich interessiert, ist, ihn einzulochen.«

»Warum Sie?«, fragte Pete Halloway. »Wenn Sie im Ruhestand sind, warum hat Slade Sie angerufen?«

Für einen Moment wirkte Halloway gedankenversunken, dann sagte er: »Minyawi war in einen meiner letzten Fälle verwickelt. Martin wusste, ich würde ihn mir gerne mal vorknöpfen.«

Pete konnte ihm das nicht abnehmen. Hier ging es noch um etwas anderes.

»Okay«, sagte Kat schließlich, als reiche ihr das als Erklärung. »Und was nun?«

Halloway sah sie wieder an. »Jetzt nehmen wir Sie in Schutzhaft. Ihr Aufenthaltsort wird sehr wahrscheinlich durchsickern, sodass sie ihn aus der Reserve locken können. Sie sind natürlich völlig sicher.«

Natürlich. Pete wusste, dass das eine dicke, fette Lüge war. Aber was konnte er schon dagegen tun? Das hier ging ihn nichts an, und letztendlich war es ihre Entscheidung. Aber, du liebe Zeit, in seinem Kopf blinkten überall große rote Warnsignale auf.

Kat warf Pete einen Blick zu, mit Unsicherheit und einer Spur von Angst in den Augen. Sie blickte auf das Holz der Brücke unter ihren Füßen und dann wieder zu Halloway hoch. »Okay. Aber Sie müssen uns beide mitnehmen.«

»Was?«, fragten Pete und Halloway wie aus einem Munde.

Sie ignorierte Pete und sagte zu Halloway: »Sie und ich wissen beide, dass er hinter Pete her sein wird, um an mich heranzukommen.«

»Moment mal«, warf Pete ein, für den ihr langes Schweigen im Auto plötzlich Sinn ergab, »ich brauche keine –«

Halloway fuhr sich mit der Hand übers Kinn. »Sie hat wahrscheinlich recht.«

Pete schleuderte einen Blick auf Kat und nickte Halloway dann zu. Keine Chance, dass man ihn noch ein weiteres Mal irgendwo hinschleifte, wo er nicht hinwollte. Davon hatte er genug bis an sein Lebensende. »Sie werden sicher Verständnis dafür haben, dass ich von dem Gedanken nicht begeistert bin, mit dem FBI irgendwo freiwillig hinzugehen. Das State Department hat es sich mit mir verdorben, seit ich in Afghanistan festgesessen habe.«

Halloway kratzte sich am Kopf. »Ich habe über Ihre Situation dort gelesen, Kauffman. Da haben Sie wohl den falschen Leuten auf dieser Reise ans Bein gepinkelt.«

Kat zog die Stirn kraus, als sie in Petes Richtung sah, doch er ignorierte es. »Ja, und als die USA gegen die militanten Aufstände im Land vorgingen, haben sie mich festgehalten. Kein Mensch hat sich um mich gekümmert.«

»INTERPOL hat Ihretwegen eine Blue Notice rausgegeben«, sagte Halloway. »Die mildernden Umstände, die man damals für Sie rausgeschlagen hat, waren nicht selbstverständlich. Die afghanische Regierung kooperierte, weil sie nicht anders konnte.«

»Sie meinen, INTERPOL wollte mich im Auge behalten, und die Afghanen hatten keine andere Wahl.«

»So in etwa«, sagte Halloway. »Damals war einiges los.«

Pete presste die Zähne aufeinander. Bei ihm auch. Aus einem Dreitagesausflug waren sechs Wochen geworden, bis die US-Botschaft ihn endlich rausgeholt hatte. Er hatte alles andere als nette Erinnerungen daran, wie man ihn dort behandelt hatte. Vor allem, weil es kurz nach Kats »Tod« gewesen war und er geackert hatte wie ein Gaul. Und ausgerechnet auf dieser Reise hatte er sich bemüht, nicht den falschen Leuten ans Bein zu pinkeln, obwohl er das bei vielen anderen zuvor getan hatte.

»Pete«, sagte Kat. »Es wird nicht für immer sein.«

»War es auch das, was Slade zu dir gesagt hat?«

Ihr fiel die Kinnlade herunter. Okay, das war ein Schlag unter die Gürtellinie gewesen. Aber, verflucht, er würde nicht sein Leben hierfür aufgeben. Nicht noch mal. Nicht mal für sie.

»Pete –«

Er schüttelte den Kopf und versuchte, nicht mit den Zähnen zu knirschen. »Ich werde nicht mitkommen.«

Sie blickte Halloway an. »Können wir kurz allein miteinander sprechen?«

Halloway sah auf die Uhr. »Ein paar Minuten. Dann müssen wir gehen.«

Während er zum anderen Ende der Brücke ging, wandte Kat sich wieder Pete zu, und ihm wurde plötzlich klar, dass, wenn er nicht bereit war, sie zu begleiten, es für sie nun hieß, Abschied zu nehmen.

Schlussstrich. Verdammt, wie oft hatte Lauren ihm gesagt, dass es genau das war, was ihm fehlte, warum er niemals wirklich über Kats Verlust hinweggekommen war. Aber jetzt, da er damit konfrontiert wurde, fühlte er sich, als würde ihm langsam, Stück für Stück, die Haut abgezogen.

Seltsamerweise hatte er sich genauso gefühlt, als er gedacht hatte, sie sei tot. Dass es einem durch einen Schlussstrich besser gehen sollte, war für seine Begriffe absoluter Blödsinn.

»Bist du dir ganz sicher?«, fragte sie. »Sie werden dich ausfindig machen. Dass sie auf der Auktion waren, beweist, dass sie dich schon viel länger beobachten, als ich dachte.«

Das war Pete auch klar, aber es änderte nichts an seinem Entschluss. »Ich begebe mich nicht in Schutzhaft.« Eigentlich hoffte er sogar, dass dieser Minyawi ihn holte. Beide, Minyawi und Busir.

Ihre Augen senkten sich auf den grauen Parka, den er trug, und sie biss sich auf die Lippe, als wollte sie noch etwas sagen, konnte es aber nicht.

Und er wusste genau, wie es ihr ging. Es gab tausend Dinge, die er ihr sagen wollte, Fragen, auf die er Antworten wollte, ehe sie für immer aus seinem Leben verschwand, aber er fand nicht die rechten Worte. Niemals, nicht in seinen kühnsten Träumen, hätte er sich ausgemalt, dass bei ihr zu sein eine noch viel größere Leere in ihm entstehen lassen könnte, als gedacht zu haben, sie sei tot.

»Bist du dir ganz sicher?«, gab er ihre Frage an sie zurück, denn das war das Einzige, was er sagen konnte, ohne eine Feuersbrunst zu entfachen, die zu bändigen keiner von ihnen die Zeit oder den Willen hatte.

»Es wird allmählich Zeit, findest du nicht? Da jetzt alles ans Tageslicht gekommen ist, gibt es wirklich keinen Grund mehr, sich zu verstecken.«

Nein, den gab es nicht. Keinen Grund mehr, sich zu verstecken. Auch keinen Grund mehr zu bleiben.

»Tut mir leid, dass du da mit reingezogen wurdest«, sagte sie, mit größerer Entschiedenheit in ihrer Stimme, als er sie in den ganzen letzten vierundzwanzig Stunden von ihr vernommen hatte. »Tja, weißt du. Mir mir tut vieles leid, aber das am allermeisten. Wenn ich es rückgängig machen könnte, würde ich es tun.«

Seine Brust wurde zusammengepresst wie in einem Schraubstock. Und Worte schossen ihm im Kopf hin und her wie Pingpong-Bälle.

Lass sie nicht gehen.

Sie wich einen Schritt zurück, ehe ihm ein guter Vorwand einfiel, sie aufzuhalten. Dann noch einen. Und noch einen. Und während er dastand und tatenlos zusah, wie gelähmt von Stolz und Ärger und einem Anflug von etwas, das sich verdächtig nach Angst anfühlte, schienen seine Eingeweide sich zu einem Knoten zu formen. »Pass auf dich auf, Pete.«

Sie legte den halben Weg über die Brücke zurück, ehe sie stehen blieb, um noch einmal zurückzublicken. Obwohl er sich damit zu einem kompletten Vollidioten machte, machte sein Herz einen Satz.

Sie achtete darauf, ihm nicht in die Augen zu sehen, sondern konzentrierte sich auf einen Punkt irgendwo in der Nähe seiner Füße. »Du hattest recht. Weißt du noch, an jenem letzten Tag in Kairo, als wir uns in meiner Wohnung gestritten haben? Du hattest recht, als du gesagt hast, ich wüsste nicht, wie man Leuten vertraut. Ich glaube nicht, dass ich es je gelernt habe. Ich wünschte, ich hätte es. Ich wünschte ja, ich wünschte mir so einiges.«

Ihr Blick hob sich allmählich. Und als ihre Schokoladenaugen sich auf ihn hefteten, war ihm, als blickte er in die Vergangenheit. Auf ein ganzes Leben voller Dinge, die er nicht hätte tun sollen und die er wünschte, ändern zu können. Und die Erkenntnis, dass er an allem jetzt überhaupt nichts mehr ändern konnte, traf ihn wie ein Schock. Insbesondere an allem, das mit ihr zu tun hatte.

Sie war fort, ehe er antworten konnte.

Pete blieb wie angewurzelt im kalten Novemberwind stehen und sah zu, wie sie und Halloway den Weg auf der anderen Seite des kleinen Bachs entlanggingen und hinter der Anhöhe verschwanden. Sie machte sich nicht die Mühe, noch einmal zurückzublicken, und genau genommen konnte er ihr das auch nicht verübeln. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte er nicht ein einziges Mal den Versuch unternommen, den gesamten Hergang aus ihrer Perspektive zu betrachten. Zwar hatte er sich ihre Geschichte angehört, aber dann hatte er sich über ihre Motive lustig gemacht und ihr zu verstehen gegeben, dass er nichts mit ihr zu tun haben wollte. Zwar hatte er sie nach Philadelphia gefahren und sogar ein bisschen mit ihr geplaudert, aber als sie dichtgemacht hatte, hatte er sie nicht gedrängt, sich ihm zu öffnen, damit er verstehen konnte, was sie durchgemacht hatte. Und er hatte ihr nicht das kleinste bisschen Hilfe angeboten.

Als er ihre Stimmen oder Schritte nicht mehr hören konnte, holte er tief Luft. Und spürte, wie sich sein Innerstes nach außen kehren wollte.

Er ging den Weg zurück, den sie gekommen waren. Mit gesenktem Kopf, um den beißenden Wind abzuwehren, die Hände tief in den Taschen der Jeans vergraben, die nicht ihm gehörte. Als er bei dem Mietwagen angekommen war, ließ er sich hinter das Steuer fallen, schloss die Tür und saß einfach so da in der Stille.

Kats Duft schwebte noch um ihn herum, und aus irgendeinem verrückten Grund blitzte eine Erinnerung vor ihm auf. Wie sie nackt und frisch geduscht an der Frisierkommode in ihrer Wohnung saß und sich am ganzen Körper mit jener violetten, nach Jasmin dufteten Lotion einrieb, die sie so liebte. Wie sie ihn über die Schulter hinweg anlächelte, als er ihr seine Hilfe anbot. Wie sie sich umdrehte und ihm mit einem lustvollen Lächeln, das die Fantasien von heißen, ungehörigen Dingen in ihm wachrief, die Lotion reichte.

Benutzte sie sie immer noch? Dachte sie an ihn, wenn sie sie auf ihrem Körper verteilte?

Er sah zu dem leeren Platz hin, auf dem sie gesessen hatte, und entdeckte ihren Rucksack. In ihrer Aufregung wegen des Treffens mit Halloway hatte sie ihn vergessen.

Ihn ihr zu bringen, war keine Ausrede, sie noch mal zu sehen. So oder so würde nichts, was er zu ihr sagen konnte, noch etwas ändern. Aber zumindest war es eine Gelegenheit, ein wenig wiedergutzumachen, dass er ihr gegenüber den ganzen letzten Tag lang ein absoluter Idiot gewesen war.

Er beugte sich hinüber und hob ihn hoch. Dann stutzte er, als ihm etwas einfiel.

Wie viele Frauen würden daran denken, ihre Handtasche mitzunehmen, wenn sie von einem Psychokiller gejagt wurden? Wann hatte sie ihn in den Wagen geworfen? Und warum hatte sie sich das verdammte Ding an die Brust gepresst, als sei es ihre letzte Hoffnung?

Er klappte die Lasche hoch und spähte hinein. Dann senkte er voller Verwirrung die Augenbrauen. Zwei Perücken. Eine blond, eine andere dunkelbraun. Ein kleiner Behälter mit farbigen Kontaktlinsen. Pässe, drei verschiedene, alle mit ihrem Bild und unterschiedlichen Decknamen. Eine Reihe Führerscheine aus diversen Staaten, die Fotos sahen nach ihr aus, aber auf jedem stand ein anderer Name. Und eine Pistole.

Eine Beretta.

Er nahm die Feuerwaffe hoch, drehte sie um und checkte das Magazin. Als er sie zurücklegte, streiften seine Fingerspitzen etwas Hartes. Den kauernden Pharao, den er aus dem Rucksack zog, hatte er viele Hundert Male gesehen. Denn er gehörte ihm.

Golden. Ägyptisch. Klein genug, um in eine Manteltasche zu passen, aber kunstvoll und aufwendig gearbeitet. Er war Teil der Auktion gewesen.

Sie hatte ihn gestohlen. Deswegen war sie also in New York gewesen. Aber warum hatte sie das getan?

Der Augenblick der Verwirrung wurde jäh unterbrochen, als drei Motorräder auf den leeren Parkplatz donnerten. Außerhalb ihrer Sichtweite konnte er das Trio beobachten, als es in der Nähe des Spielplatzes parkte. Als der erste Fahrer den Helm abzog, glänzte sein kahl rasierter Schädel.

Busir. Hier. Jetzt schon. Er sah zu, wie ein weiterer Mann abstieg und den Helm abnahm. Dunkles Haar fiel ihm bis auf die Schultern und behinderte den Blick auf sein Gesicht.

Das musste Minyawi sein.

Petes Adrenalinspiegel stieg augenblicklich. Seine Hirntätigkeit begann wieder einzusetzen, während der Dritte abstieg und ein viertes Motorrad folgte. Irgendwie waren er und Kat verfolgt worden. Oder jemand, mit dem Kat in diesem Moment zusammen war, hatte sie verpfiffen.

Die vier Männer stellten die Motorräder ab und entfernten sich im Laufschritt Richtung Park. Als sie die Bäume am anderen Ende erreicht hatten, zog Minyawi eine Pistole aus der Gesäßtasche und prüfte das Magazin. Busir und die anderen beiden taten es ihm gleich.

Mit einem Mal war die Frage nach dem Warum völlig gleichgültig. Pete schloss Kats Rucksack. Schon in wenigen Minuten würde ohnehin niemand von ihnen mehr Schutzhaft benötigen.