10

Gegenwart

Nord-Pennsylvania

Es war wohl die längste Nacht seines Lebens. Oder viel mehr die längsten paar Stunden bis Tagesanbruch.

Such dir was aus, dachte Pete. Die Scheiße in der Hand oder die Kacke auf dem Dach. Egal, von welcher Seite aus er es betrachtete, das Endergebnis war immer dasselbe. Jeder Muskel seines Körpers zuckte im Takt des Sekundenzeigers seiner Armbanduhr, während die Morgendämmerung im Schneckentempo näher rückte.

Unter der Dusche hatte er ununterbrochen an jenen Abend denken müssen, an dem er das größte Geschenk des Himmels, seinen klaren Verstand, der ihn zweiunddreißig Jahre lang am Leben erhalten hatte, über Bord geworfen und Kat an ihrer Grabungsstätte Avancen gemacht hatte. Er hätte verdammt noch mal die Finger von ihr lassen sollen. Wenn er damals mit seinem Kopf gedacht hätte statt mit seinem Unterleib, wäre das alles nicht passiert.

Bei dem Gedanken daran machte er ein mürrisches Gesicht, beendete seine Dusche und kam widerwillig aus dem Badezimmer heraus, nur um festzustellen, dass die winzige Wohnung leer war. Er vermutete, dass Kat sich in der angrenzenden Garage aufhielt, doch es interessierte ihn nicht genug, um nachzusehen. Sein Gehirn war noch dabei, alles zu verarbeiten, was sie ihm gesagt hatte.

Also schön, er war doch nicht etwa dabei, das Ganze zu Tode zu analysieren, oder?

Aber er hatte immer noch Fragen. Zum Beispiel, wie sie es bloß geschafft hatte, ihn zu fassen zu kriegen, und warum sein Gesicht aussah, als sei es kürzlich als Rammbock benutzt worden.

Ein Handtuch um die Hüften geschlungen, durchwühlte er den Wandschrank neben der Küche. Ihm war nicht mehr so schlecht wie vorher, doch sein Gehirn pulsierte immer noch in seinem Schädel. Und dieses Mal wusste er, dass es weder von Betäubungsmitteln noch von irgendwelchem Alkohol herrührte, den er zuvor getrunken hatte, sondern von der Realität, die auf ihn einschlug. Er nahm eine abgetragene Jeans und ein NYU-Sweatshirt heraus und runzelte die Stirn.

»Ich hasse Sachen aus zweiter Hand, Herrgott noch mal«, murmelte er. Als wenn alles nicht schon schlimm genug wäre, musste er jetzt auch noch Slades Klamotten auftragen.

Mangels Alternative und leise vor sich hin fluchend, zog er die Hose an und versuchte nicht daran zu denken, dass er ohne Unterhose in den Jeans eines anderen Kerls steckte. Er streifte sich das Sweatshirt über den Kopf, fand in einem Korb im Regal Wollsocken und auf dem Boden des Schrankes ein Paar Wanderschuhe, in die er schlüpfte.

»Auch das noch.« Er bückte sich und versuchte, seine Zehen zu bewegen, während er die Schnürsenkel so lose wie möglich band und finster die Schuhe in Größe dreiundvierzig betrachtete, die ihm – wie sollte es anders sein – eine Nummer zu klein waren. Als er etwas zu schnell aufstand, begann sich in seinem Kopf alles zu drehen, und eine Welle von Übelkeit traf ihn mit voller Breitseite.

Etwas zu essen wäre jetzt nicht schlecht. Um die Droge aufzusaugen und den Kopf auszunüchtern. Er wandte sich der kleinen Küche zu und musste feststellen, dass dort hauptsächlich Tiefkühlkost und Fertiggerichte zu finden waren.

Er hatte weder Geduld noch große Lust, jetzt richtig zu kochen, also kramte er in dem Schrank, bis er ein Glas Erdnussbutter entdeckt hatte, und fand, dass das besser war als nichts. Als er eine Packung gefrorenes Brot aus dem Gefrierschrank zog, fragte er sich unwillkürlich, wann zum Teufel Slade das letzte Mal hier gewesen war. Der Kerl war wahrscheinlich die meiste Zeit bei irgendwelchen Einsätzen, aber wenn man sich seine Vorräte ansah, würde man nie darauf kommen. Doch vielleicht hatte er die CIA auch verlassen und sich die ganze Zeit zusammen mit Kat hier versteckt.

Dieser Gedanke reichte aus, um ihm das Blut in den Kopf schießen zu lassen. Lass gut sein! Das ist nicht mehr dein Bier.

Ruppiger als nötig, schnappte er sich zwei Scheiben gefrorenes Brot, klatschte Erdnussbutter auf eine davon und klappte die andere darüber. Einmal kurz darauf herumgekaut, und er wusste, dass seinem Magen diese Kombination nicht gefallen würde, aber er biss die Zähne zusammen. Alles war besser als diese Kopfschmerzen.

Nachdem er das Sandwich verputzt und eine Cola hinterhergekippt hatte, ging er zurück zum Wandschrank, fand einen grauen Parka, der aussah, als könnte er ihm über die Schultern passen, und setzte eine schwarze Wollmütze auf. Ein Paar fingerlose Handschuhe steckte er sich in die Jackentasche und durchsuchte den Schrank nach anderen brauchbaren Dingen. Eine kleine Metallbox im obersten Fach erregte seine Aufmerksamkeit.

Er schob einen Kanister mit Propangas beiseite, griff nach dem Kasten und nahm ihn herunter. Das Schloss an der Vorderseite würde ein Kinderspiel sein, es konnte höchstens ein Kleinkind oder einen Volltrottel abhalten. Stirnrunzelnd trug er die Box in die kleine Küche, stellte sie auf die Arbeitsfläche und durchkramte die Schubladen, bis er einen Metallspieß gefunden hatte.

Es war zwar kein Dietrich, aber im Notfall würde es gehen.

Er brauchte länger, als ihm lieb war, um das Schloss zu knacken, und er wusste, dass sich sein Kumpel Rafe einen Ast gelacht hätte, wenn er ihm dabei zugesehen hätte, aber schließlich kam es auf das Endergebnis an. Das Schloss gab mit einem sachten Klicken nach. Pete warf den Spieß auf die Arbeitsfläche, öffnete den Deckel und stieß einen leisen Pfiff aus, als er hineinsah.

Wenigstens etwas, das ihm gelegen kam. Die hochwertige Zehnmillimeter war wahrscheinlich das Teuerste in dieser ganzen Bude. Er hob das schwarze Metall hoch, besah es von allen Seiten und prüfte die Kammer. Wie eine alte Gewohnheit, steckte er sich ein Magazin in die Tasche, setzte das zweite ein und schob sich die Feuerwaffe hinten in den Hosenbund.

Dabei schoss ihm durch den Kopf, dass er immer und immer wieder denselben Mist verzapfte, auch an noch viel übleren Orten als diesem.

Er war schon öfter in brenzligen Situationen gewesen. In seiner Branche hatte man mit zwielichtigen Gestalten in den miesesten Ecken der Welt zu tun. Es verstand sich von selbst, dass es in den ärmsten und am schlechtesten überwachten Ländern die größten Schätze und die gierigsten Lieferanten gab, und aus dieser Tatsache hatte er jahrelang Kapital geschlagen. Sicher, heute ging es mit seinem Geschäft ganz schön bergauf, aber vor sechs Jahren, als er Kat begegnet war, war das noch ganz anders gewesen.

Da er über nichts nachdenken wollte, das auch nur im Entferntesten mit Kat zu tun hatte, fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht, kratzte sich am Kinn und hätte alles für einen Rasierapparat gegeben.

Ein metallenes Scheppern hallte aus der Garage nebenan durch den Raum. Er sah auf die Wanduhr in dem kleinen Wohnzimmer. 5 Uhr 15. In ein paar Stunden würde die Sonne aufgehen. Er hörte den Wind nicht mehr um das Gebäude heulen, was bedeutete, dass der verdammte Sturm endlich vorübergezogen war.

Pete blickte auf das schäbige Sofa. Wenn er schlau war, würde er sich aufs Ohr legen und noch ein Stündchen die Augen zumachen, bevor er rausmusste, um diesem Schlamassel zu entkommen. Sobald es hell wurde, würde er all seine Energie brauchen, um wieder die Kurve Richtung Zivilisation zu bekommen.

Wieder drang ein Scheppern an seine Ohren, gefolgt von einem Fluch.

Er verkniff sich die beredte französische Erwiderung, die ihm auf der Zunge lag, und spähte zur Garagentür. Und wusste, dass er keinen Schlaf bekommen würde, weder jetzt noch in allernächster Zeit. Er war kurz davor, alles noch schlimmer zu machen.

Er betrat die Garage und wurde von einem so vertrauten Anblick empfangen, dass es ihm einen harten Schlag in die Magengrube versetzte. Die Motorhaube des verrosteten Ford, den er als Fluchtwagen benutzen wollte, stand offen, und Kat beugte sich darüber und stellte Gott weiß was mit dem Motor an. Aber was ihn stutzen ließ, war nicht die Tatsache, dass sie an seiner einzigen Möglichkeit, dieses Höllenloch zu verlassen, herumwerkelte, sondern dass sie sich umgezogen hatte und die abgewetzte Jeans ihren herzförmigen Hintern umhüllte wie eine zweite Haut.

Und als er sie anstarrte und eine nackte Glühbirne jede einzelne ihrer Kurven beleuchtete, blitzte plötzlich eine Erinnerung vor ihm auf, wie er seine Lippen auf die beiden Grübchen an ihrem Kreuz presste, mit den Händen über die glatte Haut ihres köstlichen Hinterteils strich und fest ihre Hüften umfasste, während er von hinten in ihr versank und sich hinunterbeugte, um ihren Nacken zu küssen.

Widerwillig nahm er zur Kenntnis, wie die Erregung sich ihm in den Bauch bohrte und die Wärme weiter nach unten vordrang, bis er das Gewicht auf das andere Bein verlagern musste, um den Druck in seinem Lendenbereich zu mildern. Und in diesem Moment wurde ihm klar, dass sein Körper mit seinem Kopf offensichtlich noch nicht ganz Schritt halten konnte. Der kleine Mann in seiner Hose wusste nicht, dass Sex mit ihr nicht mehr zur Debatte stand.

Er presste die Zähne aufeinander, kämpfte gegen seinen Ständer an, der ihn nur noch wütender machte, und ließ dann seinen ganzen angestauten Zorn an ihr aus. »Was in aller Welt hast du vor?«

Kats Kopf traf die Motorhaube mit einem Schlag, der in der Garage widerhallte und einen ganzen Funkenregen von Sternen vor ihren Augen tanzen ließ.

Sie biss sich auf die Zunge, um nicht laut draufloszufluchen, und wandte sich ruckartig von dem offenen Motorraum ab. Sie rieb sich ihren schmerzenden Hinterkopf, sah sich um und erblickte Pete, frisch geduscht und so gut duftend wie in ihrer ­Erinnerung, und er sah wütender aus als ein angeketteter Pit­bull.

»Ich hab dich gefragt, was du vorhast«, blaffte er sie an.

Okay, seine Dusche hatte seine Stimmung nicht gerade aufgehellt. Seine Schultern spannten sich kampfbereit unter dem abgetragenen grauen Sweatshirt. Tiefe Falten des Ärgers verunzierten seine Stirn unter der schwarzen Wollmütze, die sein Haar verbarg. Er hatte ein ordentliches Veilchen, was ihn aus unerklärlichen Gründen noch viel gefährlicher und verdammt sexy aussehen ließ.

Sein Kiefer spannte sich an, während er auf ihre Antwort wartete, und ihr Blick fiel auf seinen Mund.

Ja, dieser wunderbar verlockende Mund, der sie früher um den Verstand geküsst hatte, war jetzt nur eine grimmige Linie. Pete war stinksauer, weil sie es wagte, sich in der Nähe des Fahrzeugs aufzuhalten, das er für seine Flucht benutzen wollte.

Fliehen. Ja. Genau das hatte er vor. Und wie es aussah, lieber früher als später.

»Ich wollte nur sichergehen, dass er auch läuft«, sagte sie und massierte sich die Kopfhaut.

Er sah sie an, als glaubte er ihr kein Wort, und machte dann einen Schritt auf den Motor zu, um selbst einen Blick darauf zu werfen. Er trat um sie herum und achtete penibel darauf, dass sie sich nicht zu nahe kamen und berührten.

Er war definitiv noch sauer. Allerdings fragte sie sich, wieso er sich eigentlich einbildete, im Moment das alleinige Recht auf dieses Gefühl zu haben.

Sie geduldete sich, während er den Messstab herauszog und den Ölstand prüfte. Wie ein Friedensangebot hielt sie ihm den Lappen hin, doch er ignorierte ihn und wischte sich stattdessen die schmierigen Hände an den Oberschenkeln seiner Jeans ab.

Ach ja, richtig. Nicht seiner Jeans. Martys Jeans. Kein Wunder, dass er extramies drauf war.

Wortlos umrundete er den Wagen, setzte sich hinter das Lenkrad und ließ mit dem Schlüssel, den sie stecken gelassen hatte, den Motor an. Er kniff die Augen zusammen und blickte auf das Armaturenbrett. Dann stellte er den Motor wieder ab und stieg aus. »Der Tank ist nicht mal zu einem Viertel voll. Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt?«

»Nach Keeneyville sind es zehn Minuten die Straße entlang. Bei optimalen Bedingungen. Aber dort gibt es nur eine Tankstelle, und die ist wegen des Sturms vielleicht geschlossen.«

»Großartig.« Er stemmte die Hände in die schlanken Hüften und sah sich in der Garage um, als dächte er über seine Möglichkeiten nach.

Sie berührte das Medaillon an ihrer Brust und überlegte, welche sie selbst hatte. Sie hatte die Benzinkanister gefunden, die Marty am Telefon erwähnt hatte, aber es gab trotzdem nicht genug Benzin, damit zwei Fahrzeuge von hier verschwinden konnten, und in Anbetracht der Wetterlage würde die Limousine auch ziemlich nutzlos sein. Damit hatte sie mit Ach und Krach die letzten zehn Meilen bis zur Farm geschafft, als der Schnee immer tiefer geworden war. Also blieb nur noch der Pick-up. Sie wollte nach Philly, und er wollte aus dieser Garage raus.

Sie rang innerlich mit ihrer Unentschlossenheit und biss sich auf die Lippe. Am liebsten hätte sie ihm die Meinung gesagt, weil er solch ein Idiot war, wusste aber, dass sie das nicht weiterbringen würde. Also versuchte sie es stattdessen auf die sanfte Tour. »Ich weiß, wo wir Sprit herkriegen, aber dafür musst du mir erst einen Gefallen tun.«

Er drehte sich langsam zu ihr um, und seine Augen sahen aus, als könnten sie ein Loch durch sie hindurchbrennen. Und Kat hatte das Gefühl, als täten sie das auch. Doch sie weigerte sich, vor diesem Blick zurückzuweichen, verlagerte nur ihr Gewicht auf das andere Bein und hob das Kinn in Abwehrstellung. Dann war er eben sauer auf sie. Dann hatte sie ihn eben angelogen. Na und? Er hatte auch ziemlich widerliche Dinge getan.

»Oh, aber natürlich«, murmelte er, verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich breitbeinig und angriffslustig vor sie. »Schieß los! Ich bin ganz Ohr. Was kann ich für dich tun, Kat? Bitte, sag’s mir! Ich bin ganz wild drauf, dir zu helfen.«

Nein, nicht bloß ein Idiot. Jetzt verhielt er sich wie ein absoluter Vollidiot. Sie lehnte es ab, sich auf sein Niveau herabzulassen. »Ich muss nach Philadelphia.«

»Und was habe ich damit zu tun?«

Sie blickte zu dem Transporter hinüber.

Jetzt schien es ihm zu dämmern. »Mit diesem Wagen?«

Sie nickte.

»Meinem Wagen«, wiederholte er.

»Die Limousine wird es bei dem Schnee nicht schaffen. Und außerdem ist nicht genug Benzin für beide Autos da, um von hier wegzukommen. Also dachte ich, wir könnten zusammen fahren. Ich kann dich ja nicht ohne Transportmittel hier draußen zurücklassen.«

»Wie großzügig von dir!« Seine Brauen zogen sich zusammen. »Warum musst du nach Philly?«

Sie zögerte, denn sie war sicher, dass die Wahrheit alles noch schlimmer machen würde. Aber welche Wahl hatte sie schon? »Ich habe telefoniert. Ein Freund eines Freundes ist bereit, mir zu helfen. Uns, wenn du willst. Aber erst müssen wir nach Philadelphia.«

»Ein Freund«, sagte er mit beherrschtem Argwohn. »Jemand von der Regierung?«

»So etwas in der Art.«

Er musterte sie einen Augenblick. »Dein Freund eines Freundes ist nicht zufällig ein Bekannter von Slade, oder?«

Sie biss sich auf die Lippe. »Vielleicht.«

»Vielleicht«, wiederholte er. Dann schüttelte er voll Abscheu den Kopf. »Nein, ich glaube eher, ganz bestimmt. Du willst es mir einfach immer wieder unter die Nase reiben, was?« Er wandte sich ab und betrachtete ein Regal an der Wand gegenüber.

»Das ist nicht wahr«, sagte sie rasch.

»Mir ist scheißegal, was wahr ist und was nicht«, sagte er in scharfem Ton. »Alles, was ich will, ist von hier zu verschwinden.«

Seine Worte waren direkt und unmissverständlich, doch seine Körpersprache verriet noch etwas anderes: Enttäuschung, Zorn Eifersucht?

Letzteres ganz bestimmt nicht. Nicht, nachdem er sie vor Jahren so mir nichts, dir nichts hinter sich gelassen hatte. »Pete –«

Ein lauter Knall zerriss die Stille. In einer Salve von Schüssen, die klang wie die Fehlzündungen einer ganzen Garage voller Autos, prallte Metall auf Metall. Die Holzverkleidung der Außenwand zerplatzte und splitterte mit einem lauten Krachen.

Im ersten Moment stand Kat noch da, bereit, in der Diskussion um das Transportmittel auf stur zu schalten, im nächsten warf Pete sich auf sie und riss sie hart zu Boden. Ihr Rücken und ihre Schultern bekamen die ganz Wucht des Aufpralls ab. Ihr Schädel knallte auf den unerbittlichen Beton. Ein Holzregal hinter ihnen wurde von Kugeln zerfetzt. Eine Dose mit Nägeln flog durch die Luft und ließ Metallteile auf sie herabregnen.

Kat kreischte. Pete schob seinen Körper noch weiter über ihren, schirmte ihren Kopf mit seinen Armen ab und zog ihr Gesicht dicht an seinen Hals. Die Sekunden, in denen die Garage durch umhersausende Splitter kurz und klein geschlagen wurde, erschienen wie Stunden.

In der kurzen Ruhe nach dem Sturm murmelte Pete: »Verdammte Scheiße!«

Sein Gewicht drückte sie mit Macht nach unten, sie spürte seinen Atem heiß auf ihrer Haut, aber alles, woran sie denken konnte, war die Frage, wo sie einen Fehler gemacht hatte und wie in Gottes Namen man sie so schnell gefunden hatte.

»Bist du getroffen?«

Sie merkte, wie seine Hände fest ihre Arme umschlossen und sich seine durchdringenden Augen, nur Zentimeter von ihren eigenen entfernt, in ihren Schädel bohrten. Sie blickte dahin, wo er sie festhielt, und dann wieder hoch zu ihm. Irgendwie brachte sie es fertig, den Kopf zu schütteln.

»Nein. Nein, ich bin nicht getroffen. Ich oh Gott –«

»Katherine Meyer!«

Sie erstarrte, als sie die Stimme mit dem starken nahöstlichen Akzent hörte.

»Wir wissen, dass Sie da drin sind«, ertönte sie wieder. »Kommen Sie jetzt raus, damit wir die Sache wie zivilisierte Menschen regeln können.«

Busir.

»Wie zivilisierte Menschen, von wegen«, flüsterte Pete. »Rühr dich keinen Millimeter!«

Schweißperlen bildeten sich auf Kats Haut. Ohne jede Vorwarnung befand sie sich wieder in diesem Grab, mit einem Messer an der Kehle und einem knallharten, bösartigen Mann unmittelbar hinter sich, der sie fest an den Haaren gepackt hielt.

»Nein, nein, nein«, murmelte sie und zappelte wild unter Pete. Die Panik fegte ihren gesunden Menschenverstand hinweg. Sie musste raus hier. Sie konnte auf keinen Fall hierbleiben. Sie musste was? Was konnte sie überhaupt tun? Ein Stöhnen drang aus ihrer Brust.

»Reiß dich zusammen, Kat«, sagte Pete leise. Er klemmte ihre Oberschenkel zwischen seinen Beinen ein, um sie am Strampeln zu hindern, und drückte sie fest an sich. Er stemmte ihr einen Unterarm auf die Brust, damit sie auf dem kalten Beton liegen blieb und presste ihr die freie Hand auf den Mund. »Sch!«

Ihr Fluchtreflex war so stark, dass sie seine Worte und den zwingenden Tonfall kaum wahrnahm. Doch als sie das endlich tat und merkte, dass er angestrengt lauschte, um Busirs Bewegungen draußen zu verfolgen, war sie plötzlich mucksmäuschenstill.

»Okay«, murmelte er ihr ins Ohr. Sein heißer Atem kitzelte die zarte Haut hinter ihrem Ohr und lief in kleinen Rinnsalen ihren Hals hinunter. Oder vielleicht war es auch der Schweiß ihres Adrenalinrausches. Sie konnte es wirklich nicht sagen.

»Zwei vor dem Haus. Sie überprüfen die Eingangstür. Sie ist doch verschlossen, oder?«

Sie fand nicht mehr die Worte, um zu sprechen, also nickte sie einfach nur.

»Ich nehme jetzt die Hand von deinem Mund. Aber du bleibst ruhig. Nicke, wenn du mich verstanden hast.« Als sie das tat, zog er langsam die Hand weg.

Sie zwang sich, die lähmende Angst hinunterzuschlucken. So viel zu ihrem ganzen Training und jahrelanger Vorbereitung auf diesen Moment. Ihre Waffe war meterweit entfernt, und als es zu einer Situation gekommen war, in der es um Leben und Tod ging, war sie erstarrt, genau wie damals in diesem Grab.

Was hätte sie bloß getan, wenn Pete nicht hier gewesen wäre?

Pete richtete sich so weit auf, dass er an dem großen, freistehenden Werkzeugschrank aus Metall vorbeispähen konnte, der ihnen das Leben gerettet hatte. Von der Seite des Gebäudes her waren Schritte zu hören. Von irgendwo hinter sich holte er eine sehr große, sehr schwarze Pistole hervor. Kat hatte keine Ahnung gehabt, dass er überhaupt eine bei sich führte.

Überrascht schnappte sie nach Luft. Er legte den Finger an die Lippen und zeigte auf die Wohnungstür. »Zugang nach draußen?«

Der klare Verstand hielt endlich wieder Einzug in ihr Gehirn. Sie schüttelte den Kopf und schluckte. »Nicht da. Rückseite der Garage. Da gibt es noch eine Tür, um von hinten reinzufahren.«

Er nickte kurz, dann beugte er sich hinunter, bis er wieder dicht an ihrem Ohr war. Elektrizität zischte ihre Nervenenden entlang, sowohl durch das Adrenalin als auch durch die Berührung seiner Haut, die über ihre streifte. »Ich glaube, da sind noch zwei. Sie umkreisen das Gebäude und laden nach. Kannst du ohne ein Geräusch in das Auto steigen?«

Ihr Herz setzte einen Moment aus, als ihr klar wurde, dass er nicht vorhatte, seinen eigenen Hintern zu retten und sie hier mit Busir zurückzulassen. Egal, was sie sich gegenseitig alles angetan hatten und was er jetzt ihr gegenüber empfand, er würde sie nicht im Stich lassen.

Blödsinnige Tränen schossen ihr unbeabsichtigt in die Augen. Sie nickte schnell und blinzelte mehrmals hintereinander, um sich nicht wie eine Hysterikerin in der Krise aufzuführen. Sie war so sehr nicht mehr diese Frau von damals.

»Gut«, sagte er. »Ich werde für eine Ablenkung sorgen. Sobald du sie hörst, lass den Motor an und sieh zu, dass die Beifahrertür für mich offen ist.«

Was hatte er bloß vor?

»Moment! Fahren wir vorn oder hinten raus?«, fragte sie.

Er dachte einen Augenblick nach. »Du kennst die Gegend besser. Bei den Massen von Schnee, die runtergekommen sind, ist deine Einschätzung tausendmal mehr wert als meine.«

Ihre Einschätzung. Mist, ihre Einschätzung hätte sie beide beinahe umgebracht. Sie versuchte, nicht daran zu denken, und schluckte wieder. Hinten grenzte eine Hügellandschaft dicht an das Gebäude. Wenn sie da lang fuhren, war die Gefahr, im Schnee stecken zu bleiben, wesentlich höher. »Vorn«, sagte sie schließlich und wusste, es war ihre einzige Chance.

»Vorn«, stimmte er ihr nickend zu und blickte ihr fest in die Augen.

Für einen Augenblick spürte sie wieder die Verbindung, die sie vorhin geteilt hatten, als er mit seinem Kuss ihren Funken wieder zum Leben erweckt hatte. Denselben, der in Kairo zwischen ihnen hin und her gesprungen war.

»Also, beten wir inständig, dass du mit dieser Karre fahren kannst und wir nicht mit durchdrehenden Reifen enden«, fügte er hinzu.

Langsam, Stück für Stück, damit sie nicht gehört wurden, löste er sich von ihr und brachte sich hinter dem Werkzeugschrank in Hockstellung, hob die Waffe neben seinen Kopf und gab Kat ein Zeichen aufzustehen.

Sie war wie gelähmt und wusste, sie würde Schmerzen haben von dem Aufprall auf den Betonboden. Doch sie zwang sich aufzustehen und schaffte es irgendwie, beinahe lautlos an die Seite des Pick-up zu gelangen. Als sie jedoch zu Pete zurückblickte, stockte ihr der Atem. Der Rücken seines zerfetzten Sweatshirts war an mehreren Stellen blutdurchtränkt.

Sie biss sich heftig auf die Lippe, um nicht laut aufzuschreien, und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die frischen Blutflecke bloß von den herumfliegenden Splittern und nicht von Kugeln stammten.

Er hatte sie mit seinem Körper abgeschirmt.

Solche Heldentaten widersprachen völlig dem, was sie über ihn wusste. Aber darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken. Sie musste in den Transporter steigen und vorbereiten, was auch immer er geplant hatte.

Mit beiden Händen zog sie an dem Türgriff und erstarrte, als das sachte Klicken wie ein Kanonenschuss durch die riesige Garage hallte.

»Katherine Meyer!«, brüllte Busir wieder. »Das ist meine letzte Warnung. Geben Sie auf, und kommen Sie jetzt raus, oder wir kommen rein und holen Sie.«

Kat verschwendete keine Zeit mehr. Busir meinte, was er sagte. Das hatte sie schon vor langer Zeit erfahren.

Sie öffnete die Tür und atmete leise auf, als sie nicht quietschte. Mit ruckartigen Bewegungen schob sie sich auf den Sitz und hinter das Lenkrad. Ihr Rucksack, der den Anhänger des kauernden Pharaos beherbergte, befand sich bereits sicher verstaut hinter dem Sitz – eine Vorkehrung, die sie schon vorher getroffen hatte, für den Fall der Fälle. Sie blickte auf, um Pete wissen zu lassen, dass sie in Position war, doch er war bereits verschwunden.

Vor Angst gefror ihr das Blut in den Adern. Sie hatte keine Ahnung, wo er war oder worin seine Ablenkung bestehen würde.

Eine Explosion aus dem Inneren der kleinen Studiowohnung erschütterte den Wagen und die ganze Garage. Flammen schossen aus dem Durchgang. Kat duckte sich und unterdrückte einen Schrei, als von Neuem in schneller Folge Schüsse durch die Luft peitschten.

Die ganze Welt schien in Flammen zu stehen. Aber von irgendwo weit her hörte sie eine vertraute Stimme »Los, los, los!« brüllen.

Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss und ließ den Motor aufheulen. Gerade als sie auf das Gas treten wollte, warf Pete sich auf den Beifahrersitz und schrie: »Jetzt!«

Sie startete durch. Ihre Körper wurden durch den plötzlichen Ruck zurückgeschleudert. Die Reifen des Ford quietschten auf dem Beton. Sekunden später durchbrachen sie die Holztür am Ende der Garage und schossen in den Schnee hinaus.

Zwei Gestalten, die Kat kaum sehen konnte, sprangen vor dem Wagen beiseite. Die Reifen rutschten auf einer dicken Schicht frischen Pulverschnees, und das Heck wurde herumgeschleudert. Aber wie durch ein Wunder bekamen sie wieder Bodenhaftung.

Hinter ihnen wurden Schüsse abgefeuert. Pete rollte sich über den Sitz zu ihr und drückte ihren Kopf hinunter. »Bleib unten!«

Kat umklammerte fest das Lenkrad, duckte sich so weit wie möglich und versuchte sich darauf zu konzentrieren, auf die Straße zu gelangen, ohne sie beide umzubringen. Als ein kalter Windstoß durch den Innenraum fegte, begriff sie, dass Pete sein Fenster geöffnet hatte und zurückschoss. Sie konnte keinen Blick darauf verschwenden, um nachzusehen, ob er jemanden getroffen hatte. Bis zur Zufahrtsstraße war es nicht weit.

»Weiter!«

Sie riss das Steuer hart herum, um die Kurve um das Gebäude zu nehmen. Pete fiel auf den Sitz zurück und knallte gegen ihre Schulter. Das Heck brach wieder aus, diesmal schienen die Reifen auf einer Eisschicht zu schlittern. Und im nächsten Augenblick wurde Kat siedend heiß klar, dass sie es niemals schaffen würden, wenn nicht ein Wunder geschah.

Sie würden sich drehen wie ein Kreisel. In ein paar Minuten, mitten auf dem Highway 249. Ehe sie imstande wären gegenzulenken, würde Busir bei ihnen sein.

Oh Gott! Das war’s dann wohl.

Nach sechs langen Jahren würde sie schließlich tatsächlich bei einem Autounfall sterben. Diesmal mitten in einem Blizzard. Und den Mann, den sie liebte, würde sie mit sich in den Tod reißen.