14

Ein schwerer Schlag ertönte an der Haustür, und Savannah fuhr erschrocken von ihrem Stuhl auf.

Gideon?

Es kam ihr vor, als hätte sie eine Ewigkeit gewartet. Vor lauter Sorge um ihn und aus Kummer, dass er sie einfach in diesem traurigen alten Haus allein gelassen hatte, hatte die Zeit sich endlos dahingezogen.

Draußen ertönte ein weiterer lauter Schlag.

Sie ging zur Tür hinüber, spürte eine Woge der Erleichterung. »Gideon, bist du das?«

Sie wünschte sich so, dass er es war.

Betete, dass er es war … bis sie das metallische Klicken des Schlosses hörte, die Tür sich öffnete und ein riesiger, blut- und schweißüberströmter Körper hereinwankte und zu Boden sackte.

»Oh mein Gott. Gideon!«

Savannah rannte zu ihm hinüber und kniete sich neben ihn, entsetzt über seinen Zustand. Sein Haar und Gesicht, seine Hände – jeder Zentimeter von ihm war von schwarzer Asche, Schweiß und Blut bedeckt. So viel Blut.

Er versuchte zu sprechen, schaffte aber nur ein heiseres Knurren. »Keaton«, keuchte er. »Lakai … er ist tot … kann dir nichts mehr tun.«

Sie stieß einen Fluch aus, der mehr wie ein Schluchzen klang. »Der ist mir egal, verdammt. Du bist es, auf den es mir ankommt.«

Er versuchte sich aufzusetzen, sackte jedoch sofort wieder kraftlos auf dem Boden zusammen. Unter ihm hatte sich eine Blutpfütze gebildet, es rann immer noch aus Dutzenden von Wunden und einer sehr schweren Verletzung an seinem Oberschenkel.

Sie sah hinunter auf seinen ledernen Waffengürtel, den er als provisorische Aderpresse um seinen Oberschenkel gezurrt hatte. In dem klaffenden Schnitt in seinem Oberschenkel konnte sie durchtrennte Muskelfasern sehen. Verdammt.

»Gideon«, rief sie. »Du brauchst Hilfe. Du brauchst ein Krankenhaus –«

»Nein«, fauchte er, und seine Stimme klang gespenstisch, tödlich.

Seine Augen glühten feurig, völlig transformiert. Seine Pupillen hatten sich zu so dünnen Schlitzen zusammengezogen, dass sie fast nicht mehr zu sehen waren. Seine Fänge zwischen seinen geöffneten Lippen waren voll ausgefahren, riesige scharfe Dolche, als er mühsam Atem holte.

»Geh weg«, keuchte er, als sie die Hand ausstreckte, um ihm das schweißnasse Haar aus der Stirn zu streichen. Seine Haut war kalkweiß und wächsern, sein Gesicht in reiner Qual verzerrt. »Bleib weg.«

»Du musst mich dir helfen lassen.« Sie beugte sich über ihn, versuchte, ihm aufzuhelfen.

Gideons Blick fiel hungrig auf ihren Hals. »Bleib weg!«

Angesichts des gezischten Befehls zuckte sie zusammen und wich zurück. Sie starrte ihn an, unsicher, was sie für ihn tun sollte, und fürchtete fast, dass für ihn schon jede Hilfe zu spät kam.

»Gideon, bitte. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Orden«, sagte er mühsam und rasselte eine Telefonnummer herunter. »Ruf sie an … sofort.«

Sie versuchte verzweifelt, die Nummer zu behalten, wiederholte sie, um sicherzugehen. Er nickte vage, die Augen fielen ihm zu, und seine Haut wurde sogar noch blasser. Es stand nicht gut um ihn. »Beeil dich, Savannah.«

»Okay«, sagte sie. »Okay, Gideon. Ich rufe sie an. Werde mir nicht ohnmächtig. Ich hole dir Hilfe.«

Sie rannte ins Schlafzimmer, zog ihr Portemonnaie und einen Kuli aus ihrer Handtasche und schrieb sich hektisch die Nummer in die Handfläche. Dann rannte sie aus dem Haus und die Straße hinunter und betete, dass das ramponierte öffentliche Telefon an der Ecke nicht kaputt war.

Mit zitternden Händen warf sie einige Münzen in den Schlitz und wählte die Nummer, die Gideon ihr gegeben hatte. Es klingelte ein Mal, dann Stille, als am anderen Ende jemand abnahm.

»Äh, hallo? Hallo!«

»Ja.« Eine tiefe Stimme. Dunkel und fesselnd. Drohend.

»Gideon hat mir gesagt, ich soll anrufen«, stieß sie panisch hervor. »Ihm ist was passiert, und ich –«

Klick.

»Hallo?«

Das Freizeichen summte in ihr Ohr.

Knapp zehn Minuten später fand Savannah sich neben einem bewusstlosen Gideon wieder und starrte in das harte Gesicht und zu den undurchdringlichen Augen eines riesigen Stammesvampirs in schwarzem Leder auf, der vor tödlicher Kraft zu pulsieren schien.

Er hatte nicht angeklopft, war einfach ohne Gruß oder Erklärung hereingestapft. Und offenbar war er zu Fuß gekommen, von woher, konnte Savannah nur raten.

Seit sie Gideon getroffen und von der Existenz seiner Spezies erfahren hatte, ging sie dazu über, manche Dinge einfach als Teil ihrer neuen Realität hinzunehmen.

Und doch konnte sie den Drang kaum bezwingen, vor dem beunruhigenden Mann zurückzuweichen, der jetzt ins Haus trat.

Das hier war sein Haus, daran bestand keinerlei Zweifel.

Er war derjenige, der die Schachtel voller Asche in dem geheimen Raum unter der Küche abgestellt hatte.

Es war sein herzzerreißender Kummer gewesen, den Savannah beim Berühren des Reliquienschreins gespürt hatte.

Jetzt starrte er sie völlig emotionslos an. Seine grünen Augen sahen sie weniger an als durch sie hindurch.

Er wusste es. Wusste, dass sie unten in seiner privaten Trauerzelle gewesen war.

Savannah sah, wie sich die Erkenntnis auf seinem düsteren Gesicht ausbreitete, aber er sagte nichts zu ihr und tat nichts, als grimmig zu Gideon hinüberzugehen. Der riesige Mann ging neben Gideon in die Hocke. Dann stieß er einen leisen Fluch aus.

»Er wacht nicht mehr auf«, murmelte Savannah. »Als ich von der Telefonzelle zurückkam, habe ich ihn so gefunden, bewusstlos.«

»Er hat zu viel Blut verloren.« Seine Stimme war dasselbe bedrohliche Knurren, das sie vorhin am Telefon gehört hatte. »Er braucht die richtige Behandlung.«

»Kannst du ihm helfen?«

Der lohfarbene Kopf fuhr zu ihr herum, die ausdruckslosen grünen Augen durchbohrten sie. »Er braucht Blut.«

Savannah sah zu Gideon hinunter, erinnerte sich an seine barsche Warnung, ihm nicht zu nahe zu kommen. Er war wütend gewesen, verzweifelt, auch wenn es nur allzu offensichtlich gewesen war, dass er von ihr trinken wollte – von ihr trinken musste. »Er wollte mich nicht. Er hat gesagt, ich soll von ihm wegbleiben.«

Der beunruhigende starrende Blick blieb lange auf ihr liegen, bevor der Vampir seine Aufmerksamkeit wieder seinem besiegten Kameraden zuwandte. Er inspizierte die Wunde an Gideons Bein und knurrte, als er das Ausmaß seiner Verletzung erkannte. »Also, du bist dieses Mädel.«

»Wie bitte?«

»Die Stammesgefährtin, von der mein Alter hier sich nicht fernhalten konnte, seit er dich Anfang der Woche in den Fernsehnachrichten gesehen hat. Du hast über das Schwert geredet, mit dem seine Brüder getötet wurden.«

Savannah spürte einen Anflug von Verwirrung, von einer seltsamen Angst. »Gideon hat mich in den Nachrichten gesehen? Er wusste, dass ich das Schwert gesehen hatte?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das stimmt nicht. Wir haben uns in der Bibliothek getroffen, wo ich arbeite. Davor kannten wir uns gar nicht.«

Wieder sah der andere Krieger zu ihr hinüber, ein ausdrucksloser Blick, der ihr Unbehagen noch vertiefte.

»Gideon hat sich die Gemälde in der Bibliothek angesehen. Wir wollten bald schließen, und …«

Ihre Worte verhallten, als sich in ihr eine ungewollte Erkenntnis auszubreiten begann.

Klar. Er war einfach zufällig in die Bibliothek spaziert, nicht weil er Bücher suchte, sondern um sich die Wandgemälde vor ihrem Büro anzusehen. Mit ihr zu flirten. Plutarch zu zitieren und sich unter den Abbey-Gemälden in ihr Höschen hineinzuschäkern.

Und er hatte so getan, als wüsste er nichts davon, dass ihre Mitbewohnerin am Vorabend von einem gottverdammten Vampir ermordet worden war – einem Angehörigen seiner eigenen Spezies.

Savannah fühlte sich seltsam bloßgestellt. Wie eine Idiotin, die die Pointe erst zwei Minuten zu spät kapierte.

»Willst du damit sagen, dass er mich in der Bibliothek gezielt aufgesucht hat?«

Der Krieger stieß einen leisen Fluch aus, antwortete aber nicht auf ihre Frage. Das war auch nicht nötig. Sie kannte die Wahrheit jetzt. Endlich, dachte sie.

Gideon hatte ihr Interview im Fernsehen gesehen und sie aufgespürt, um Informationen zu bekommen über jemanden, den zu finden er entschlossen war. Jemanden, den er für seinen Feind hielt, der wahrscheinlich mit der Ermordung seiner Brüder zu tun hatte.

Er hatte sie benutzt.

Darum hatte er gewusst, wo sie wohnte, darum war er immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort, was sie betraf.

Er hatte sie verfolgt, wie er jede andere Beute jagen würde … oder eine Schachfigur.

Gott, war etwa alles zwischen ihnen nur Teil irgendeines Planes, seiner privaten Vendetta?

Savannah wich einen Schritt zurück, sie fühlte sich, als hätte man sie geschlagen.

Er hatte sie auch heute benutzt – sie aufgefordert, Rachels Armreif zu berühren, damit er mehr über Keaton und den Vampir erfahren konnte, der ihn angegriffen hatte.

Jetzt lag Gideon schwer verletzt und schwach zu ihren Füßen, bewusstlos und blutend. Vielleicht lag er sogar im Sterben. Und nur wegen seiner verdammten Suche.

Und sie stand über ihn gebeugt wie eine Idiotin, fühlte sich hilflos, hatte Angst um ihn … entsetzt darüber, dass sie sich in ihn verliebt hatte, wo sie doch für ihn nur Mittel zum Zweck gewesen war.

Es war einfacher, zu akzeptieren, dass er ein Stammesvampir war, als die Erkenntnis zu ertragen, dass sie diese ganze Zeit nur benutzt worden war. Der Schmerz fuhr mitten in ihre Seele wie kalter Stahl.

Ein anderer Mann hatte sie benutzt, um etwas zu bekommen, was ihm wichtiger war als sie, aber Danny Meeks hatte sich nur ihre Unschuld genommen; Gideon hatte sich ihr Herz geholt.

Savannah ging einen Schritt zurück. Dann noch einen, sah zu, wie Gideons Kamerad vom Orden die Aderpresse um seinen zerfetzten Schenkel fester zurrte und sich daran machte, ihn zurückzutragen, wohin er gehörte.

Sie spürte kühle Luft an ihrem Rücken, als sie langsam Schritt für Schritt aus der offenen Tür in die Nacht hinausging.

Und als sie sich umdrehte und losrannte, strömten ihr die ersten heißen Tränen über die Wangen.