13

Savannah erwachte aus einem ungewöhnlich tiefen Schlummer und fand sich allein im Bett.

Wie lange hatte sie geschlafen? Ihr Kopf fühlte sich immer noch benommen an wie nach einer leichten Narkose.

Wo war Gideon?

Sie rief nach ihm, aber im leeren Haus war alles ruhig. Sie stützte sich auf die Ellenbogen und sah sich mit verschlafenen Augen im dunklen Schlafzimmer um. »Gideon?«

Keine Antwort.

»Gideon, wo bist du?«

Sie setzte sich auf, warf die Bettdecke ab und knipste die Nachttischlampe an. Auf dem Kissen neben ihr lag ein Zettel. Eine Notiz, auf die Rückseite des unbenutzten Bustickets gekritzelt, das in ihrer Handtasche gewesen war. Die Handschrift war klar, präzise, nach vorne geneigt und kühn – genau wie er.

Sorry, ging nicht anders. Du bist hier sicher. Bin bald zurück.

Savannah sah sich im Schlafzimmer um. Gideons Kleider waren weg. Seine Stiefel und Waffen. Er war spurlos verschwunden.

Sie wusste, wohin er gegangen war.

Durch den Nebel von dem, was immer er da mit ihr gemacht hatte, erinnerte sie sich an seine explosive Reaktion, als sie Rachels Armreif benutzt hatte, um eine weitere Vision von der Vampirattacke in Professor Keatons Büro zu bekommen.

Keaton war gebissen worden, genau wie Gideon vermutet hatte.

Er war nicht länger der Mann, der er einst gewesen war, sondern ein willenloser Sklave seines Meisters.

Und Gideon schien wild entschlossen, ihn zu finden.

Er war vor Rastlosigkeit fast die Wände hochgegangen, als der Nachmittag sich draußen vor dem Haus scheinbar unendlich hinzog. Er konnte kaum erwarten, endlich hier herauszukommen, ging nervös auf und ab, wartete auf die Chance, endlich loszuziehen und Keaton zur Rede zu stellen und dann die Jagd auf seinen Meister aufzunehmen.

Savannah hatte mit ihm gehen wollen, aber er hatte ihren Vorschlag barsch und unnachgiebig zurückgewiesen. Er hatte darauf bestanden, dass sie hierblieb und sich nicht vom Fleck rührte, während er tat, was getan werden musste – allein. Oder mit seinen Brüdern vom Orden, wenn er Verstärkung brauchte.

Erst, als sie darauf bestanden hatte, dass sie nicht zurückbleiben würde, ihm mit einer Entschlossenheit widersprochen hatte, die so groß wie seine eigene war, ließ er sich endlich erweichen.

Er hatte sie zärtlich geküsst. Sie in eine schützende Umarmung gezogen und ihr sanft die Hand auf die Stirn gelegt. Und dann …

Nichts mehr.

Zumindest war das alles, woran sie sich von den letzten paar Stunden erinnern konnte.

Sorry, ging nicht anders, hatte er in seiner Notiz geschrieben.

Verdammter Kerl!

Savannah sprang vom Bett, fuhr in ihre Kleider und rannte zur Haustür. Sie zerrte am Riegel. Er rührte sich nicht.

Hatte er sie etwa hier eingeschlossen?

Stinksauer ging sie zu den Fenstern und versuchte, sie zu öffnen. Sie waren alle dauerhaft versiegelt, jedes Einzelne von außen mit einer Platte zugeschraubt. Das ganze Haus war verschlossen, erkannte sie, nachdem sie sich in aller Eile davon überzeugt hatte.

Schließlich blieb sie in der kleinen, leeren Küche stehen, atemlos vor Empörung.

Es gab keinen Weg hinaus.

Sie war hier eingesperrt, und Gideon war irgendwo da draußen, wollte sich einem mächtigen Feind alleine stellen.

Sie wusste, dass sie ihm nicht helfen konnte – nicht bei der Art von Kampf, an den er gewohnt war. Aber sie einfach so zurückzulassen, um allein zu warten und sich zu sorgen? Sie mit seinen übernatürlichen Stammeskräften zu zwingen, sich seinem Willen zu beugen? Wenn sie sich nicht solche Sorgen um ihn gemacht hätte, hätte sie ihn am liebsten eigenhändig umgebracht, sobald sie ihn wiedersah.

Sie unterdrückte ein panisches Keuchen. Lieber Gott, bitte, lass mich ihn wiedersehen.

Sie ließ sich auf dem rauen Dielenboden auf die Knie sinken … und bemerkte etwas in der hinteren Ecke der Küche, das sie vorhin bei ihrer Suche nach einem Weg aus dem Haus übersehen hatte.

Da war eine Falltür im Boden.

Kaum sichtbar, aus Dielenbrettern gefertigt und völlig eben mit dem Rest des Fußbodens.

Mit einer Mischung aus Neugier und einer unguten Vorahnung kroch Savannah darauf zu und tastete nach ihren Kanten. Sie zwängte ihre Finger zwischen zwei Dielen und merkte, dass die verborgene quadratische Falltür nicht abgeschlossen war. Sie hob sie an und wich zurück, als ein kühler, feuchter Luftzug aus der dunklen Öffnung wehte.

Savannah spähte hinunter, versuchte zu sehen, ob der Weg durch die Dunkelheit irgendwo aus dem Haus hinaus oder nur zu einem alten Keller hinunter führte. Ein Prickeln in ihrem Nacken sagte ihr, dass beides nicht der Fall war, aber jetzt, wo sie die Falltür geöffnet hatte, konnte sie sie nicht einfach wieder schließen, ohne die Antwort zu kennen.

Eine roh gezimmerte Leiter war an die aus der Erde herausgehauene Kellerwand gebaut. Sie schlüpfte in das Loch hinab und kletterte vorsichtig etwa sechs Meter nach unten.

Es war eine tiefe, dunkle Grube, nur beleuchtet vom schwachen Lichtschein, der von oben aus der Küche drang.

Hatte sie gestern Abend beim Ankommen nicht gedacht, dass das Haus sich wie eine Gruft anfühlte? Diese handgegrabene Kammer in der kalten, dunklen Erde brachte das Gefühl zehnfach zurück.

Wer hatte das gebaut?

Zu welchem Zweck?

Savannah spähte in dem tristen Raum herum. Nichts außer feuchten Wänden und Boden, ein Ort des Kummers und der Isolation. Ein Ort, um zu vergessen.

Nein, dachte sie und erkannte mit einem Mal den Zweck des geheimen Raumes – in seine hintere Wand war eine Nische eingehauen, in der passgenau eine roh gezimmerte Holzkiste stand.

Dieses Loch in der Erde war ein Ort der Erinnerung.

Der Sühne.

Langsam ging sie näher auf die Nische und die alte Kiste zu, die sie enthielt. Auch ohne sie zu berühren, konnte sie die Seelenqual spüren, die den Reliquienschrein wie eine Aura umgab.

Woher war die Kiste gekommen? Warum war sie hier? Wer hatte sie hier so wohlüberlegt abgestellt?

Sie musste es wissen.

Savannah fuhr mit der Hand leicht über den Deckel der uralten Kiste.

Eine Kummerwelle überrollte sie, drang ihr bis ins Mark.

In der Kiste lagen die Überreste einer jungen Frau aus lang vergangenen Zeiten. Asche und Knochen, von Tränen gesalbt. Den Tränen eines Mannes.

Nein, keines Mannes.

Eines Stammesvampirs, den sie nicht kannte, der seine tote Gefährtin betrauerte. Sich die Schuld an ihrem Tod gab.

Savannah sah ihn in einem Aufblitzen ihrer übersinnlichen Gabe: einen riesigen Krieger mit zottigem lohfarbenen Haar und durchdringenden smaragdgrünen Augen. Augen, in denen heiße Wut, Kummer und Selbsthass brannten.

Sein Schmerz war zu viel, zu groß für sie.

Zu herzzerreißend, um noch mehr davon aushalten zu können.

Hastig zog sie die Hand weg und wich zurück, entfernte sich so weit wie möglich von der schrecklichen Vergangenheit, die in dieser Kiste lag.

Jetzt hatte sie genug von den verborgenen Räumen und Geheimnissen dieses Hauses. Erschüttert stieg sie die Leiter wieder hinauf, um auf Gideons Rückkehr zu warten.

Nachdem er bei Anbruch der Dunkelheit im Verwaltungsgebäude der Fakultät eingebrochen war und sich dort die nötigen Informationen besorgt hatte, ging Gideon weiter in das Arbeiterviertel Southie, zum Haus eines gewissen Professor William Charles Keaton.

Man sah dem heruntergekommenen Holzhaus im Neuenglandstil der Jahrhundertwende nicht direkt an, dass dort ein lebensfroher Junggeselle wohnte, aber ein protziger weißer Firebird stand auf der Seiteneinfahrt und verriet den Schürzenjäger.

Oder vielmehr den ehemaligen Schürzenjäger.

Nachdem ihm Savannah am Nachmittag seinen Verdacht bestätigt hatte – dass Keaton von dem Stammesvampir, der ihn angegriffen hatte, tatsächlich gebissen worden war –, war Gideon ziemlich sicher, dass Keaton sich jetzt nur noch für die Befehle seines Meisters interessierte.

Gideon musste wissen, wem Keaton jetzt diente.

Er musste wissen, wem so viel an Hugh Faulkners Schwert gelegen war, dass er dafür über Leichen ging, und auch, warum.

Er machte sich keine großen Hoffnungen, dass Keaton ihm diese Antworten so einfach geben würde, wenn überhaupt. Lakaien zu verhören war immer eine undankbare Aufgabe. Die ganze Loyalität eines Geistsklaven gehörte seinem Meister.

Trotzdem musste Gideon es versuchen.

Schon um Savannahs Sicherheit willen.

Er hatte vorhin nur ungern zum letzten Mittel gegriffen, sie in Trance zu versetzen, aber ihm war keine Wahl geblieben. Er wäre nie ohne sie aus dem Haus gekommen. Sie einzuschließen würde ihm wahrscheinlich auch keine Heldenmedaille einbringen.

Scheiße.

Jetzt schuldete er ihr noch eine weitere Entschuldigung – angefangen mit der, die er vorbringen würde, sobald er sie wiedersah.

Dafür, dass er sie die ganze Zeit im Glauben gelassen hatte, dass ihr erstes Treffen ein glücklicher Zufall gewesen war. Schicksal hatte sie es genannt und ihm dann gestanden, dass sie sich in ihn verliebt hatte.

Er musste ihr sagen, dass seine Gefühle für sie – auch wenn er sie ursprünglich aus anderen Gründen aufgesucht hatte – echt waren. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, schon vom ersten Augenblick an.

Sie musste wissen, was sie ihm bedeutete – sogar noch mehr als seine persönliche Suche nach dem verdammten Schwert und dem Stammesvampir, der bereit war, dafür zu töten.

Sie musste wissen, dass er sie liebte.

Er kannte keine bessere Möglichkeit, ihr das zu beweisen, als die Gefahr auszuschalten, in der sie schwebte, als jeden zu vernichten, der ihr etwas tun wollte.

Angefangen mit dem Lakaien in diesem Haus.

Gideon betrat es geräuschlos, das Schloss der alten Haustür hatte überhaupt keine Chance gegen den mentalen Befehl, mit dem er es öffnete. Ein Fernseher plärrte unbeachtet im Wohnzimmer, das von der Diele abging. Auf dem Tablett neben dem gepolsterten braunen Fernsehsessel stand eine Aluminiumschale mit einem angetrockneten Fertiggericht. Auf der Sitzfläche war eine Straßenkarte von Louisiana ausgebreitet.

Scheißkerl.

Gideon musste sich anstrengen, um die Wut zu zügeln, die in ihm zu kochen begann, als er die Bleistiftlinie bemerkte, die zur südlichen Region des Staates führte.

Er sah mit seiner übersinnlichen Gabe um sich, suchte nach der Energie des Hausbewohners. Er ortete Keatons schwachen orangefarbenen Schein unter den Dielen unter seinen Füßen. Der Lakai war im Keller.

Gideon stapfte auf die Treppe in der Diele zu, die nach unten führte.

Unten brannte ein trübes Licht.

Geräusche drangen die Treppe herauf, unten kramte jemand herum … dann plötzlich abrupte Stille.

Der Lakai hatte die Anwesenheit eines Stammesvampirs in seinem Haus, der nicht sein Meister war, registriert.

Mit gezückter Pistole stieg Gideon die Treppe hinab in einen offenen Kellerraum. Keaton war fort, zweifellos hatte er sich in ein Versteck verkrochen. Er würde nicht weit kommen.

Gideon ging weiter, sein Blick wanderte über eine roh gezimmerte Werkbank, hinter der an der Wand diverse Heimwerkerutensilien und kleine Behälter mit Zubehör hingen. Ein dunkler Matchbeutel lag offen auf der Werkbank. Er enthielt mehrere Seilrollen, ein Jagdmesser und eine Rolle silbernes Isolierband.

Gideons Blut kochte bei diesem Anblick. Das war die nötige Ausrüstung für eine Entführung.

Keatons Meister war offenbar davon abgekommen, Rogues auf Savannah zu hetzen, und wollte sie jetzt lebend. Bei dem Gedanken war Gideon nicht wohler.

Er sah sich wild in dem beengten Keller um, suchte nach dem Lakaien.

Ortete ihn schließlich in einem hinteren Raum des Kellers.

Gideon stapfte zu ihm hinüber, er war vom Hauptraum mit einem Perlenvorhang abgetrennt. Er schob ihn zur Seite und betrat den Raum, der in einem Stil dekoriert war, den man nur als Kriegsmuseum der frühen Neuzeit bezeichnen konnte. An den Wänden hing eine umfangreiche Sammlung von Musketen und Keulen, Rapieren und Pulverhörnern. Offensichtlich stand Keaton auf Geschichte mit einem Hauch von Mord und Totschlag.

Gideon stapfte hinüber zum Lichtschein von Keatons energetischer Aura, er hatte sich in einem Schrank am anderen Ende des Raumes verkrochen. Gideon hätte dem Bastard am liebsten durch die Schranktür ein Loch in den Leib gepustet, aber er brauchte den Lakaien lebend, um ihm den Namen seines Meisters zu entreißen.

»Planen Sie eine Fahrt in den Süden, Keaton?«, fragte er.

Keine Antwort. Der Lakai im Schrank machte leichte, unwillkürliche Bewegungen, die Gideon als leichte Verschiebungen seiner Energiemasse wahrnahm. Er konnte Keaton nicht sofort töten, aber ihm nach und nach einen Körperteil wegzupusten, würde Gideons Frage den nötigen Nachdruck verleihen.

»Wir müssen reden, Keaton. Du musst mir sagen, wem du dienst.«

Jetzt kicherte der Lakai höhnisch. Gideon stieß einen Fluch aus und schüttelte den Kopf. »Entweder du kommst jetzt raus oder du kommst nur noch in Stücken raus.«

Wieder keine Antwort. Also feuerte Gideon einen Schuss in die Tür.

Der Lakai grunzte, reagierte aber kaum auf den Schmerz. Dann begann er, manisch zu kichern.

Gideon erkannte seinen Fehler einen Sekundenbruchteil zu spät.

Keaton öffnete mit einem breiten Lächeln die Schranktür. Er hielt zwei Handgranaten aus dem Zweiten Weltkrieg in den Händen. Sie waren schon entsichert.

Verdammte Scheiße!

Gideon fuhr herum und raste in die entgegengesetzte Richtung.

Schaffte es halb die Treppe hinauf, als die Handgranaten explodierten.

Die Explosion warf ihn an die Wand, Rauch und Trümmer regneten um ihn herum. Er stürzte hart, spürte, wie ein Hagel von Splittern auf seinen Rücken niederregnete. Aber er lebte noch, war immer noch ganz. Er spürte eine Woge der Erleichterung … bis ihm der beunruhigende Geruch seines eigenen Blutes in die Nase stieg.

Eine Menge davon.

Er setzte sich auf der Treppe auf und sah an sich herunter, um den Schaden einzuschätzen. Hunderte von Schnittwunden und Stellen mit versengter Haut, wo die heißen Granatsplitter ihn getroffen hatten. Nichts, was seine Stammesgene nicht innerhalb von ein paar Stunden heilen konnten.

Aber es war die andere Wunde, die ihm zu denken gab.

In seinem linken Oberschenkel klaffte ein katastrophaler Schnitt, der ihm fast das Bein durchtrennt hatte.

Bei jedem Herzschlag schoss sein Blut wie ein Geysir aus ihm heraus.

Sein Körper konnte sich von Verletzungen heilen, öfter, als Gideon sich je die Mühe gemacht hatte zu zählen.

Aber das hier war schlimm.

Das war tödlich, sogar für einen Angehörigen seiner Spezies.