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»Das ist die letzte Rückgabe heute, Mrs Kennefick.« Savannah steckte die Stempelkarte in den Einband eines populären neuen Horrorromans über eine Außenseiterin namens Carrie. Sie beäugte das Buch; das fiktive Highschool-Mädchen aus Maine, das erschreckende übernatürliche Kräfte besaß, war ihr sympathisch. Fast war sie versucht, das Buch selbst auszuleihen. Vielleicht hätte sie es auch getan, aber ihr Tag heute war schon grauenvoll genug gewesen.

Ihre Vorgesetzte, die alte Mrs Kennefick, hatte Savannah angeboten, ihr den Abend freizugeben, aber das Allerletzte, was Savannah jetzt wollte war, mehr Zeit als nötig allein in ihrer Wohnung zu verbringen. Ihre Abendschicht in der Bücherei war eine willkommene Ablenkung von dem, was an der Universität vorgefallen war.

Rachel war tot. Gott, Savannah konnte es kaum glauben. Ihr Magen krampfte sich zusammen beim Gedanken an ihre Freundin und Professor Keaton, die von einem unbekannten Täter angegriffen worden waren. Ihre Augen brannten von aufsteigenden Tränen, aber sie hielt sie zurück. Sie durfte sich jetzt vor Kummer und Schock nicht gehen lassen. Heute Abend hatte sie sich schon zwei Mal von der Buchrückgabe entschuldigen müssen und hatte es kaum zur Damentoilette geschafft, bevor sie schluchzend zusammengebrochen war.

Wenn sie es durch die restlichen vierzig Minuten ihrer Schicht schaffte, wäre das schon ein Wunder.

»Fertig, meine Liebe?« Mrs Kennefick kam hinter ihrem Schreibtisch hervor, tätschelte ihren ordentlichen grauen Haarknoten und strich sich die ähnlich farblose Strickweste glatt.

»Fertig«, sagte Savannah und legte das zerlesene Exemplar von Carrie auf den Bücherkarren zum Rest der Bücher, die sie diesen Abend zurückgebucht hatte.

»Wunderbar.« Die alte Frau nahm den Wagen und schob ihn davon, bevor Savannah sie daran hindern konnte. »Sie brauchen heute nicht zu bleiben, meine Liebe. Ich stelle die hier schon zurück. Würden Sie beim Rausgehen bitte abschließen?«

»Aber Mrs Kennefick, es macht mir wirklich nichts –«

Die Frau winkte ab und ging weiter, ihr Hinterteil in ihrem graubraunen Wollrock und die Schuhe mit den weichen Gummisohlen verschwanden im stillen Labyrinth der Bücherei.

Savannah sah hoch zur Wanduhr, beobachtete den Sekundenzeiger, der sich in Zeitlupe zu bewegen schien. Sie suchte nach etwas, was sie hier noch tun konnte, und wusste doch, dass alles nur ein Vorwand war, um nicht zu der Realität zurückkehren zu müssen, die draußen vor der Bibliothek auf sie wartete. Sie nutzte die Gelegenheit, Mrs Kenneficks Bleistifttasse und Büroklammerspender zu ordnen, und ging sogar so weit, mit dem Saum ihres langen Rollkragenpullis nicht existente Staubkörnchen vom makellosen Schreibtisch ihrer Vorgesetzten zu wischen.

Savannah war gerade dabei, die Leserakten auf Kante auszurichten, als sie spürte, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Eine seltsame Wärme prickelte über ihre Haut.

Jemand war draußen vor dem Schalter der Buchausgabe.

Obwohl es im angrenzenden Raum still war, schloss sie die Schublade des Aktenschrankes und ging hinaus, um nachzusehen.

Und ob da jemand war.

Der Mann stand mit dem Rücken zu ihr in der Raummitte, gekleidet in einen schwarzen Trenchcoat, schwarze Hosen und schwarze Stiefel mit schweren Sohlen. Ein Punk, dem Outfit nach. Ein ziemlich riesiger Punk.

Himmel, der Typ musste fast zwei Meter groß sein und extrem muskulös gebaut. Noch surrealer war, dass er in stummer Meditation dastand, den Kopf mit dem dichten, stachlig geschnittenen blonden Haar in den Nacken gelegt, und die Wandmalereien betrachtete, die die ganze obere Wandfläche des kunstvoll ausgestalteten, im neugotischen Stil getäfelten Raumes einnahmen.

Savannah ging auf ihn zu, vorsichtig und doch fasziniert. »Die Bibliothek schließt gleich. Kann ich Ihnen helfen?«

Er drehte sich langsam zu ihr um, und oh, wow …

Die Bezeichnung Punk passte vielleicht zu seinem Kleidungsstil, aber das war auch schon alles. Er sah gut aus – wahnsinnig gut. Unter seinem goldblonden Schopf befanden sich eine breite Stirn und scharfe Wangenknochen, kombiniert mit einem eckigen Kinn, das besser auf eine Filmleinwand gepasst hätte als hier in den Abbey-Saal der Boston Public Library.

»Ich seh mich nur um«, sagte er nach einer langen Pause, mit dem Hauch eines britischen Akzents in seiner tiefen Stimme.

Und das tat er, allerdings betrachtete er jetzt nicht mehr die Gemälde, sondern sie. Seine durchdringenden blauen Augen hielten sie fest, so scharf und kühl, als könnten sie schlagartig alles an ihr registrieren und verarbeiten.

Savannahs Haut fühlte sich unter seiner Aufmerksamkeit irgendwie eng an, ihr weicher beigefarbener Rollkragenpulli an ihrem Hals und an ihren Brüsten war plötzlich so rau wie Sandpapier. Ihr war plötzlich zu warm, sie fühlte sich zu sehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und war sich der schieren Größe und Männlichkeit dieses Fremden vor ihr nur allzu deutlich bewusst.

Sie versuchte, ruhig und professionell zu wirken, trotz des seltsamen Chaos, das als Reaktion auf diesen Mann in ihrem zentralen Nervensystem ausgebrochen war. Sie trat neben ihn, wenn auch nur, um seinem musternden Blick zu entkommen, und sah zu der Reihe von fünfzehn Originalgemälden auf, die König Artus und die Ritter seiner Tafelrunde darstellten, um die Jahrhundertwende von dem Künstler Edwin Austin Abbey für die Bücherei geschaffen. »Also, was interessiert Sie mehr – Abbeys Bilder oder die Artuslegende?«

Jetzt folgte er ihrem Blick nach oben an die Wand. »Mich interessiert alles. Der Verstand ist kein Gefäß, das gefüllt, sondern ein Feuer, das entfacht werden will.«

Savannah erkannte, dass das ein Zitat war, sie hatte es schon irgendwann im Seminar gehört. »Plutarch?«, riet sie.

Der umwerfende Nicht-Punk neben ihr belohnte sie mit einem anerkennenden Seitenblick und einem Grinsen. »Philosophiestudentin?«

»Nicht mein stärkstes Fach, aber ich komme klar.«

Seine Mundwinkel zuckten ein wenig, offenbar hatte sie Eindruck bei ihm gemacht. Er hatte ein hübsches Lächeln. Ebenmäßige weiße Zähne und volle, sinnliche Lippen, die ihren Puls ein wenig schneller schlagen ließen. Und auch dieser britische Akzent tat seltsame Dinge mit ihrer Herzfrequenz. »Lassen Sie mich raten«, sagte er und musterte sie wieder auf diese entnervende Art. »Wellesley? Oder vielleicht Radcliffe?«

Sie schüttelte den Kopf, als er die beiden renommierten privaten Colleges für Frauen erwähnte. »Uni Boston. Ich bin Erstsemester in Kunstgeschichte.«

»Kunstgeschichte. Ungewöhnliche Wahl. Die meisten Colleges produzieren doch heutzutage nur teure Ärzte und Juristen. Oder kleine Mathegenies, die die Einsteins der Zukunft werden wollen.«

Savannah zuckte mit den Schultern. »Ich fühle mich einfach mehr in der Vergangenheit zu Hause.«

Normalerweise war das auch so. Aber nicht in letzter Zeit. Nicht nach dem, was sie gestern in der Geschichte des Schwertes gesehen hatte. Jetzt wünschte sie sich, in der Zeit zurückgehen und die Berührung zurücknehmen zu können, die ihr den brutalen Mord an den beiden kleinen Jungen aus der Vergangenheit gezeigt hatte. Sie wünschte sich, auch den anderen Schrecken leugnen zu können, den sie in der Geschichte des Schwertes gesehen hatte – die Monster, die einfach nicht existieren konnten, außer in der übelsten Horrorliteratur.

Sie wünschte sich, die Zeit zurückdrehen zu können zu dem Augenblick, als Rachel ihr von ihrem Date mit Professor Keaton erzählt hatte, damit sie sie warnen konnte, nicht hinzugehen.

Jetzt, nach allem, was in der letzten Zeit passiert war, konnte Savannah in der Vergangenheit keinen Trost mehr finden.

»Ich bin übrigens Gideon.« Die tiefe, sonore Stimme zog sie zurück in die Gegenwart, ein willkommener Rettungsanker, auch wenn er von einem Fremden kam. Er streckte ihr die Hand hin, aber sie brachte nicht den Mut auf, sie zu nehmen.

»Savannah«, antwortete sie leise und verschränkte die nackten Hände hinter ihrem Rücken, um dem Drang zu widerstehen, seine Hand zu nehmen, auch wenn ihre Gabe mit lebenden Dingen gar nicht funktionierte. Der Gedanke, ihn zu berühren, war verlockend und beunruhigend zugleich. Sie hatte das Gefühl, ihn irgendwie zu kennen, vielleicht hatte sie ihn schon in der Bibliothek oder irgendwo in der Stadt gesehen, und doch war sie sicher, dass dem nicht so war. »In diesem Teil der Bibliothek haben wir kaum Besucher. Der Bates-Lesesaal und die Sargent-Halle sind beliebter.«

Sie schweifte ab, aber er schien es nicht zu merken, oder es war ihm egal. Diese fesselnden blauen Augen sahen sie an, musterten sie eindringlich. Sie konnte fast spüren, wie die Mechanik seines Verstandes alles analysierte, was sie sagte und tat. Etwas suchte.

»Und was ist mit Ihnen, Savannah?«

»Mit mir?«

»Welcher Raum ist Ihr Favorit?«

»Oh.« Sie stieß ein nervöses Lachen aus, fühlte sich dumm in seiner Gegenwart, ein Gefühl, das sie sonst gar nicht kannte. Als hätten all ihre Studien und all ihre Bildung sie nicht darauf vorbereiten können, jemanden wie ihn zu treffen. Was für ein verrückter Gedanke, er machte gar keinen logischen Sinn. Und doch hatte sie dieses Gefühl. Dieser Mann – Gideon, dachte sie probeweise seinen Namen – schien alterslos und gleichzeitig irgendwie uralt. Er strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das zu sagen schien, dass ihn so leicht nichts überraschen konnte. »Dieser Raum ist mein Favorit«, murmelte sie benommen. »Heldengeschichten habe ich schon immer gemocht.«

Seine Mundwinkel zuckten. »Männer, die Drachen töten? Die Prinzessin aus dem Turm retten?«

Savannah warf ihm einen schrägen Seitenblick zu. »Nein, die Suche nach Wahrheit von jemandem, der keine Angst hat, nach ihr zu streben, mit allen Konsequenzen.«

Er hob leicht das Kinn. »Sogar, wenn es bedeutet, den Gefährlichen Sitz zu riskieren?«

Gemeinsam sahen sie auf zu dem Gemälde, das diesen Teil der Artuslegende darstellte, den leeren Stuhl der Tafelrunde, der jedem den Tod brachte, der unwürdig war, den Heiligen Gral zu suchen.

Savannah spürte, dass Gideon sie wieder musterte, obwohl sein Blick auf das Gemälde über ihnen gerichtet war. Die Hitze seines riesigen Körpers, der ihr näher war, als sie bemerkt hatte, schien durch ihre Kleider zu brennen, sich ihrer Haut einzuprägen. Ihr Puls schlug etwas schneller, als die Sekunden verstrichen.

»Erstsemester«, sagte er nach einer Weile mit einem seltsam nachdenklichen Ton. »Mir war nicht klar, dass du so jung bist.«

»In ein paar Monaten werde ich neunzehn«, antwortete sie, unerklärlicherweise defensiv. »Warum? Was hattest du gedacht? Wie alt bist du denn?«

Er schüttelte langsam den Kopf, dann sah er wieder zu ihr hinüber. »Ich sollte gehen. Wie du schon sagtest, die Bibliothek schließt gleich. Ich will dich nicht von der Arbeit abhalten.«

»Du kannst gerne noch bleiben. Ich muss dich erst in einer Viertelstunde rauswerfen, also kannst du dir so lange noch in Ruhe die Gemälde ansehen.« Sie warf einen letzten Blick auf Sir Galahad, der zu dem Stuhl geführt wurde, der entweder seine Ehre bestätigen oder ihm den Untergang bringen würde, und konnte nicht anders, als ein anderes Plutarch-Zitat anzubringen: »Malerei ist stumme Poesie, und Poesie ist sprechende Malerei.«

Gideon antwortete ihr mit einem Lächeln, von dem ihr fast die Knie weich wurden. »So ist es, Savannah. Genau so.«

Sie konnte gar nicht anders als zurücklächeln. Und zum ersten Mal an diesem Tag fühlte sie sich entspannt. Sie fühlte sich glücklich. Voller Hoffnung, so seltsam das auch war. Nicht niedergedrückt vom Kummer und betäubt von Schock und Verwirrung.

Und das alles nur wegen einer Zufallsbegegnung mit einem Fremden und des unerwarteten Gesprächs mit ihm.

Einige kurze Momente der Freundlichkeit von jemandem, der keine Ahnung hatte, was sie durchgemacht hatte. Jemandem, der aus einer Laune heraus an ihren Arbeitsplatz geschlendert war und den schlimmsten Tag ihres Lebens etwas weniger schrecklich gemacht hatte, einfach nur, indem er dort war.

»War nett dich zu treffen, Gideon.«

»Ebenso, Savannah.«

Dieses Mal war sie es, die ihm die Hand hinhielt. Er ergriff sie, ohne zu zögern. Wie sie erwartet hatte, war sein Griff warm und stark, und ihre Hand verschwand fast in seinen langen Fingern. Als sie sich löste, fragte sie sich, ob er gerade dasselbe spürte wie sie. Gott, die kurze Berührung durchzuckte sie wie ein leichter elektrischer Schlag, Hitze und Energie schossen ihr in die Adern.

Und wieder hatte sie das Gefühl, dass ihr irgendetwas an ihm vage bekannt vorkam …

»Ich sollte gehen«, sagte er schon zum zweiten Mal. Sie wollte nicht, dass er so bald ging, aber sie konnte ihn ja wohl kaum bitten, noch zu bleiben. Oder doch?

»Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder«, platzte sie heraus.

Er starrte sie an, antwortete aber nicht.

Dann drehte er sich einfach um, genauso rätselhaft wie er plötzlich vor ihr gestanden hatte, und ging davon, zur Tür und in die Nacht hinaus.

Gideon wartete tief geduckt wie ein gotischer Wasserspeier auf der Dachkante der Bibliothek, bis Savannah einige Minuten später das Gebäude verließ.

Er hatte gehen wollen, wie er gesagt hatte. Nachdem er sich nur Minuten mit ihr unterhalten und erfahren hatte, dass sie ein achtzehnjähriges Erstsemester war, Herrgott noch mal, hatte er entschieden, dass er diese intelligente, unschuldige junge Frau nicht in seine Suche nach dem heutigen Besitzer des verdammten Schwertes hineinziehen würde.

Er konnte Savannah nicht als Informantin benutzen.

Er würde sie überhaupt nicht benutzen.

Und er sollte weiß Gott nicht vor ihrem Arbeitsplatz herumlungern und ihr auch nicht geräuschlos und verstohlen von einem Dach zum nächsten folgen, als sie von der Bücherei zur U-Bahn ging. Aber genau das tat er jetzt, wobei er sich sagte, dass es nur darum ging, eine schutzlose junge Frau in einer Stadt voller verborgener Gefahren sicher nach Hause zu bringen.

Wobei sie ihn zu Recht zu diesen Gefahren rechnen würde, wenn sie wüsste, was er wirklich war.

Gideon sprang auf die Straße hinunter und schlüpfte in sicherer Entfernung von ihr in die U-Bahn-Station. Er stieg in einen anderen Waggon und beobachtete sie durch die Menge, um sicherzugehen, dass sie während der Fahrt nicht belästigt wurde. Als sie an der Haltestelle Lower Allston ausstieg, folgte er ihr bis zu einem bescheidenen zweistöckigen Wohnblock in einer Seitenstraße, die Walbridge hieß. Kurz darauf ging hinter dem zugezogenen Vorhang eines Fensters im ersten Stock das Licht an.

Er wartete, hielt eine ungeplante Wache im Schatten der anderen Straßenseite, bis der gedämpfte Lichtschein in Savannahs Wohnung anderthalb Stunden später erlosch.

Dann verschwand er wieder in die Dunkelheit, die sein Zuhause und sein Schlachtfeld war.