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Von verrottenden Dachbalken regneten Glasscherben und Trümmer in die Dunkelheit herunter, als drei Mitglieder des Patrouilleteams des Ordens durch das verdreckte Oberlicht einer verlassenen Textilfabrik in Chinatown in die Fabrikhalle hinuntersprangen. Als Reaktion auf den Überraschungsangriff von oben stob die Gruppe der wildäugigen, blutsüchtigen Bewohner der alten Ruine auseinander in Deckung.

Die würden nicht weit kommen.

Gideon und seine beiden Mitstreiter hatten ein Mitglied des Roguenestes fast die ganze Nacht verfolgt und auf den besten Zeitpunkt zum Angriff gewartet. Sie hatten sich von dem Blutsauger zu seinem Schlupfwinkel führen lassen, wo der Orden nicht nur dieses eine blutsüchtige Raubtier eliminieren konnte, sondern gleich mehrere. Ein halbes Dutzend, schätzte Gideon auf die Schnelle, als er, Dante und Conlan kurz nach Mitternacht ihren Überraschungsangriff starteten.

Sobald Gideons Stiefelsohlen auf dem müllübersäten Boden landeten, setzte er auch schon einem der fliehenden Rogues nach und packte ihn bei seinem verdreckten Trenchcoat, der ihm wie ein Segel hinterherflatterte. Er warf den Rogue hart zu Boden, den Unterarm in den Nacken der mutierten Kreatur gepresst. Mit der freien Hand griff Gideon nach dem kürzeren seiner beiden Dolche, die einen ständigen Teil seiner Kampfausrüstung bildeten. Die dreißig Zentimeter lange, rasiermesserscharfe, titanbeschichtete Stahlklinge glänzte im schwachen Mondlicht, das vom offenen Dach hereinfiel.

Der Rogue begann, wild um sich zu schlagen, fauchte durch die Fänge und versuchte, sich zu befreien. Gideon gab dem Blutsauger keine Chance.

Er ließ den Mantel los, packte den Rogue an seinem struppigen braunen Haar und riss ihm den Kopf nach hinten. Die bernsteingelben Augen des Vampirs glühten wild und unkoordiniert, aus seinem offenen Maul tropfte klebriger Speichel, er knurrte und zischte in der rasenden Wut seiner Blutgier.

Gideon stieß ihm den Dolch in die Kuhle an seinem entblößten Halsansatz.

Allein schon die Klinge bedeutete den sicheren Tod, aber das Titan – ein schnell wirkendes Gift für den verseuchten Blutkreislauf der Rogues – gab ihm den Rest. Der Körper des Vampirs bäumte sich auf, als das Titan in sein Blut drang und seine Zellen von innen heraus zu zerfressen begann. Innerhalb weniger Sekunden hatte er sich in schwelenden Glibber verwandelt, von dem nur ein trockener Aschehaufen übrig blieb. Dann war er ganz verschwunden.

Während das Titan dem Rogue den Garaus machte, fuhr Gideon herum, um die Lage bei den anderen zu checken. Conlan verfolgte einen Blutsauger, der sich auf eine stählerne Laufplanke hoch über dem Boden der Fabrik geflüchtet hatte. Der riesige schottische Krieger warf einen Titandolch nach ihm und schoss ihn damit so unfehlbar ab wie mit einer Kugel.

Einige Meter weiter war Dante in einen Nahkampf mit einem Rogue verwickelt, der so dumm war zu glauben, dass er gegen den dunkelhaarigen Krieger eine Chance hatte. Dante wich seinen ungedeckten Schlägen ruhig, aber rasch aus, zog dann seine geschwungenen Zwillingsdolche aus ihren Scheiden an seinen Hüften und zog sie dem angreifenden Rogue über die Brust. Der Blutsauger heulte vor Schmerzen auf und brach zu seinen Füßen zusammen.

»Drei ausgeschaltet«, rief Con in seinem kehligen schottischen Dialekt. »Noch drei übrig.«

Gideon nickte seinen Teamgefährten zu. »Zwei sind gerade nach hinten zur Laderampe unterwegs. Lasst die Scheißkerle nicht entkommen.«

Sofort rannten Conlan und Dante in die angegebene Richtung los. Sie zogen seit Jahren unter Gideons Befehl auf Roguejagd, lange genug, um zu wissen, dass sie sich auch im wildesten Kampfgetümmel immer auf seine Anweisungen verlassen konnten.

Gideon steckte seinen kurzen Dolch in die Scheide zurück und zog sein Schwert, die Waffe, die er zu Hause in London getragen hatte, damals, bevor seine Reisen – und sein Schwur – ihn nach Boston geführt hatten, um Lucan Thorne aufzusuchen und sich dem Orden anzuschließen.

Gideon sah sich rasch um, durchsuchte die düsteren Schatten des alten Gebäudes. Sofort hatte er den letzten Rogue entdeckt. Er floh zur westlichen Seite des Gebäudes und blieb dabei immer wieder stehen, offensichtlich auf der Suche nach einem Versteck.

Gideon zoomte auf seine Beute ein, sah sie mit mehr als nur seinen Augen. Er war mit einer viel stärkeren Gabe der Wahrnehmung geboren: der übersinnlichen Fähigkeit, lebende Energiequellen durch feste Masse hindurch zu sehen.

Während der längsten Zeit seines langen Lebens – dreihundertfünfzig Jahre und mehr – war seine Gabe kaum mehr für ihn gewesen als ein cleverer Trick. Ein nutzloses Gesellschaftsspiel, viel weniger wichtig als seine Schwertkünste. Doch seit er dem Orden beigetreten war, hatte er seine übersinnliche Gabe zu einer Waffe geschärft. Eine, die seinem Leben ein neues Ziel gegeben hatte.

Seinen einzigen Lebensinhalt.

Jetzt setzte er diese Gabe ein, um seine aktuelle Zielperson aufzuspüren. Der Rogue, den er jagte, musste den Gedanken aufgegeben haben, ein Versteck zu finden. Jetzt verschwendete der mutierte Vampir keine wertvollen Sekunden mehr mit Pausen, sondern drehte im Gebäude abrupt nach Süden ab.

Durch die Ziegel, das Holz und den Stahl der schützenden Wände beobachtete Gideon, wie die Lichtkugel seiner Energie ihre Richtung änderte und tiefer in die Eingeweide der Fabrikruine wanderte. Gideon folgte ihr geräuschlos und unaufhaltsam. Vorbei an einem Chaos umgestürzter Nähmaschinen und ausgeblichener, ungezieferverseuchter Stoffrollen. Um eine Ecke in einen langen, trümmerübersäten Gang.

Leere Lagerräume und feuchte, dunkle Büroräume gingen von ihm ab. Gideons Opfer war in den Gang geflohen und hatte dann einen tödlichen Fehler begangen. Seine Energiekugel schwebte reglos hinter einer geschlossenen Tür am Ende des Ganges – nur wenige Meter von einem Fenster entfernt, das ihn nach draußen auf die Straße geführt hätte. Wenn die Blutgier dem Vampir nicht seinen Verstand genommen hätte, wäre er entkommen.

Aber der Tod hatte ihn gefunden.

Gideon näherte sich geräuschlos der Tür und blieb vor ihr stehen. Dann trat er sie mit einem brutalen Tritt aus den Angeln.

Der Aufprall warf den Rogue nach hinten auf den Rücken, auf den müllübersäten Boden des Büros. Gideon machte einen Satz, rammte dem mutierten Vampir einen Fuß in die Brust und die Schwertspitze unters Kinn.

»G…Gnade«, knurrte die Bestie, seine Stimme nur ein animalisches Knurren. Gnade war ein Wort, das keine Bedeutung hatte für einen Angehörigen des Stammes, der so rettungslos an die Blutgier verloren war wie diese Kreatur. Das wusste Gideon aus erster Hand. Der Atem des Rogue war sauer, stank nach Krankheit und dem übermäßigen Konsum seiner Droge – Menschenblut. Zäher Schleim rasselte in seiner Kehle, als der Vampir die Lippen von riesigen, gelben Fängen bleckte. »Lass … mich … gehen. Hab … Gnade …«

Gideon starrte unverwandt in die wilden, bernsteinfarbenen Augen. Er sah nur Grausamkeit in ihnen. Er sah Blut und rauchende Trümmer. So bestialische Morde, dass sie ihn immer noch verfolgten.

»Gnade«, zischte der Rogue, während Wut in seinen wilden Augen blitzte.

Mit einer raschen Schulterbewegung stach Gideon tief zu, durchtrennte dem Vampir effizient Hals und Wirbelsäule.

Eine schnelle, schmerzlose Exekution.

Mehr an Gnade war heute Nacht von ihm nicht zu bekommen.