8

»Das soll wohl ein verdammter Witz sein.«

Lucan Thorne war alles andere als erfreut, zu hören, dass Gideon sich in der Nacht unerlaubt von der Truppe entfernt hatte. Und noch weniger begeistert war er, zu hören, wo Gideon diese letzten Stunden verbracht hatte.

»Eine gottverdammte Stammesgefährtin? Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht, Mann?« Der Gen-Eins-Anführer des Ordens stieß einen üblen Fluch aus. »Vielleicht hast du gar nicht gedacht, was? Jedenfalls nicht mit deinem Hirn. Das allein ist schon ein ernster Grund zur Sorge, wenn du mich fragst. Du hast noch nie deine Pflicht gegenüber dem Orden vernachlässigt, Gideon. In all den Jahren kein einziges Mal.«

»Das habe ich auch jetzt nicht.«

Er saß mit Lucan und Tegan in der Kommandozentrale, der Erstere ging wütend im Raum auf und ab wie eine Raubkatze im Käfig. Tegan dagegen saß lässig in einem Bürostuhl am anderen Tischende und zeigte nur flüchtiges Interesse an der Standpauke für Gideon am Morgen danach, während er müßig einen Kuli auf seinem Notizblock kreisen ließ.

»Mein Interesse an dieser Frau hat nichts mit meinen Ordensaufgaben zu tun. Ich sagte doch, es ist persönlich.«

»Genau das meine ich.« Lucan verengte die stürmischen grauen Augen zu schmalen Schlitzen. »Persönliche Agenden haben in dieser Operation keinen Platz. Sie machen nachlässig. Mach deine Arbeit nachlässig, und es sterben Menschen.«

»Ich hab das im Griff, Lucan.«

»Das ist nicht deine Entscheidung, Gid. Du kennst die Vorschriften. Wir müssen ihre Existenz den Dunklen Häfen melden, damit sie die Sache übernehmen. Mit diplomatischer Arbeit geben wir uns nicht ab, und das aus verdammt gutem Grund.«

»Sie hat eine tödliche Vampirattacke auf einen Menschen mit angesehen«, platzte Gideon heraus. »Die Studentin, die nach dem Angriff auf sie und einen der Professoren der Universität neulich in der Leichenhalle endete. Das tote Mädchen war Savannahs Mitbewohnerin. Sie wurde von einem Angehörigen unserer Spezies ermordet.«

Lucans Kiefer spannte sich noch mehr an. »Bist du sicher? Du willst damit sagen, dass diese Stammesgefährtin – Savannah – dort war, als es passierte?«

»Ihre Gabe, Lucan. Es ist Psychometrie. Sie berührt einen Gegenstand und kann in seine Vergangenheit sehen. So hat sie den Mord an ihrer Freundin mit angesehen.«

»Hat sie das irgendwem erzählt?«, meinte Tegan am anderen Tischende gedehnt.

»Nein. Nur mir«, antwortete Gideon. »Und ich hätte gerne, dass das so bleibt – um ihrer und unserer ganzen Spezies willen. Und das ist noch nicht alles, was sie gesehen hat.«

Jetzt starrten ihn beide Gen-Eins-Krieger an.

»Kann diese Scheiße noch schlimmer werden?«, knurrte Lucan.

»Bei dem Angriff wurde ein Schwert aus dem kunsthistorischen Archiv der Universität gestohlen. Eines, das ich sehr gut kenne, denn mit ihm wurden meine kleinen Brüder vor dem Dunklen Hafen unserer Familie in London abgeschlachtet.« Gideon räusperte sich, konnte immer noch den Rauch schmecken, der noch Monate, nachdem der Stall in Brand gesteckt worden war, nicht verflogen war. »Savannah hat auch dieses Schwert berührt. Sie hat die Rogues gesehen und das, was sie meiner Familie angetan haben. Ich hatte seither keinen Gedanken an das verdammte Schwert verschwendet – bis jetzt. Bis mir klar wurde, dass es jetzt, über dreihundert Jahre später, hier in Boston aufgetaucht ist.«

Tegan stieß ein Knurren aus. »Aufgetaucht, nur um wieder zu verschwinden.«

»Genau. Ich muss wissen, wer dieses Schwert jetzt hat.«

Tegan nickte vage, sein überlanges lohfarbenes Haar, das ihm in die Augen fiel, konnte das intensive Funkeln seiner grünen Augen nicht ganz verdecken. »Du denkst, es gibt eine Verbindung zwischen dem Schwert hier in Boston und den Morden an deinen Brüdern vor dreihundert Jahren.«

»Es ist eine Frage, die beantwortet werden muss«, sagte Gideon. »Und das kann ich nur, wenn Savannah mir den Stammesvampir identifizieren kann, der für den Angriff in der Universität verantwortlich ist.«

»Was ist mit dem anderen Opfer, das überlebt hat?«, fragte Lucan. »Ein weiterer potenzieller Zeuge, der wirklich dort war und den Killer gesehen hat.«

Gideon schüttelte den Kopf. »Er ist immer noch im Krankenhaus, sein Zustand ist kritisch. Bis er wieder so weit auf dem Damm ist, dass ich ihn verhören und anschließend seine Erinnerung löschen kann, kann Savannah mir schon alles erzählt haben, was ich brauche.«

Obwohl Lucan nichts Entsprechendes sagte, konnte Gideon den Argwohn in den scharfen Augen des Gen Eins sehen. »Du riskierst zu viel damit, dich auf diese Frau einzulassen. Sie ist eine Stammesgefährtin, Gideon. Das ist vielleicht für Jungs wie Con und Rio okay, aber für uns andere?« Er sah zu Tegan hinüber, dann wieder zu Gideon. »Wir sind jetzt die dienstältesten Mitglieder dieser Operation. Der harte Kern. Wir alle haben genug Scheiße durchgemacht, um zu wissen, dass Beziehungen, Blutsverbindungen, sich nicht mit dem Kriegerleben vertragen. Am Ende muss immer jemand leiden.«

»Ich suche keine Gefährtin, verdammt noch mal«, antwortete Gideon scharf. Es klang zu defensiv, sogar für seine eigenen Ohren. Er stieß einen deftigen Fluch aus. »Und ich habe nicht die Absicht, ihr wehzutun.«

»Gut«, sagte Lucan. »Dann dürftest du kein Problem damit haben, wenn ich arrangiere, dass jemand aus den Dunklen Häfen sie in ihrer Wohnung aufsucht, zu ihrer eigenen Sicherheit in Gewahrsam nimmt und über den Stamm und ihren Platz in unserer Welt aufklärt.«

Wütend schoss Gideon von seinem Stuhl auf, um seinem alten Freund und Anführer des Ordens zu widersprechen. »Sie in Trance versetzen und dann bei einem der Dunklen Häfen von Boston abladen? Keine Chance. Sie ist doch nur ein verwirrtes, verängstigtes Mädchen, Lucan.«

»Du verhältst dich nicht so, als wäre sie eines. Du verhältst dich, als wärst du persönlich für diese Frau verantwortlich. Als wäre dein Interesse an ihr schon mehr als nur vorübergehender Natur.«

Himmel, wirklich? Gideon wollte die Anschuldigung entkräften, aber die Worte blieben wie schweres, kaltes Blei in seiner Kehle stecken.

Er hatte nicht vorgehabt, Gefühle für Savannah zu entwickeln. Er hatte weiß Gott dieses plötzliche, heftige besitzergreifende Gefühl nicht erwartet, das ihn beim bloßen Gedanken daran überkam, dass er jetzt einfach weggehen und ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen dem zivilen Flügel des Stammes überlassen sollte.

Genauso wenig hätte er sich je vorstellen können, sich einem direkten Befehl von Lucan Thorne zu widersetzen, und das, während sein Bauchgefühl ihm sagte, dass Lucan eigentlich recht hatte. Allein schon um Savannahs willen.

Lucan fixierte Gideon grimmig. »Sie ist jetzt da draußen unterwegs, mit dem Wort Vampir auf der Zungenspitze. Was denkst du, wie vielen Leuten sie es erzählen wird, bis wir sie festnehmen können? Sie hat es dir erzählt, verdammt noch mal. Was, wenn sie damit als Nächstes zur Polizei geht?«

»Wird sie nicht«, sagte Gideon und wünschte sich, das zu glauben. »Ich habe ihr gesagt, ich würde ihr helfen, das alles aus der Welt zu schaffen. Dass sie mir vertrauen kann.«

»Dir vertrauen? Sie hat dich eben erst kennengelernt«, bemerkte Lucan. »Sie hat Freunde, denen sie diese Geschichte erzählen könnte. Kommilitonen. Familie?«

Gideon nickte. »Eine Schwester in Louisiana. Ich weiß von niemandem sonst. Aber ich kann es herausfinden. Ich kann mich um alle offenen Fragen kümmern. Aber ich will derjenige sein, der Savannah alles erklärt. Nach letzter Nacht bin ich ihr das schuldig.«

Lucan knurrte, seine Miene steinern, nicht überzeugt.

»Ich will wissen, was dieses Schwert, mit dem meine Brüder abgeschlachtet wurden, hier in Boston verloren hat«, drängte Gideon weiter. »Ich will wissen, wer es hat und warum. Es geht doch auch den Orden etwas an, dass der Bastard einen Menschen ermordet hat, um es zu kriegen, und einen weiteren halb tot zurückgelassen hat.«

»Wir können sie nicht alleine in der Stadt herumlaufen lassen, Gid. Was sie weiß, bedroht den ganzen Stamm. Und auch sie selbst, wenn der Mörder ihrer Mitbewohnerin irgendwie erfährt, dass es eine Zeugin gab, und Savannah ins Visier nimmt.«

Bei dem Gedanken gefror Gideons Blut zu Eis. Er würde eigenhändig jeden Stammesvampir vernichten, der ihr auch nur ein Haar krümmte. »Ich werde nicht zulassen, dass ihr jemand etwas tut. Sie muss beschützt werden.«

»Allerdings«, sagte Lucan. »Und zwar Tag und Nacht. Aber das können wir nicht leisten, solange sie unter der Menschenbevölkerung lebt. Und wir bringen weiß Gott keine Zivilistin ins Hauptquartier.« Lucan starrte ihn an, in seinem eckigen Kinn zuckte eine Sehne. »Wenn du sie über den Stamm und unsere Welt aufklären willst, okay, dann mach das. Wenn du sehen willst, ob ihre Gabe uns hilft, den Bastard zu identifizieren, der diese Menschen angegriffen hat, okay, du hast hiermit freie Hand.«

Gideon nickte, dankbar für die Chance und erleichterter, als er hätte sein sollen bei der Aussicht, dass Savannah seiner Obhut anvertraut wurde.

Lucan räusperte sich betont. »Du bringst sie auf den neuesten Stand. Du befragst sie. Aber das alles tust du im sicheren Schutz eines Dunklen Hafens. Das ist jetzt der beste Ort für sie, Gideon. Das weißt du.«

Er wusste es. Aber deshalb musste es ihm nicht gefallen.

Und es gefiel ihm ganz und gar nicht.

Aber im Augenblick sah auch er keine bessere Möglichkeit.

»Ich mache ein paar Anrufe«, sagte Lucan. »Das alles geht noch heute Nacht über die Bühne.«

Gideon blieb stehen, mit zusammengebissenen Zähnen, die Hände an seinen Seiten zu Fäusten geballt, als der Anführer des Ordens den Raum verließ. Kurz darauf stand Tegan von seinem Stuhl auf. Er drehte sich zu Gideon um und musterte ihn mit seinem typischen ausdruckslosen Blick. Er hatte etwas in der Hand – ein zusammengefaltetes Stück Papier, aus dem Notizbuch gerissen, das mit dem Kuli auf dem Tisch lag, mit dem er während ihrer spontanen Besprechung herumgespielt hatte.

»Was ist das?«, sagte Gideon, als ihm der riesige Gen Eins den Zettel hinhielt.

Tegan antwortete nicht.

Er stapfte aus der Kommandozentrale und ging ohne ein weiteres Wort den Korridor hinunter.

Am nächsten Tag um die Mittagszeit war das Universitätsgelände voller Studenten, Leute saßen in kleinen Gruppen unter hohen, grün belaubten Eichen und aßen ihre Lunchpakete, andere betätigten sich sportlich auf den weiten, grünen Rasenflächen. Alle schienen den sonnigen und warmen Oktobertag so richtig zu genießen. Ein hübscher Schnappschuss von einer Welt, die so unschuldig schien. So … normal.

Savannah schlenderte an ihren plaudernden, lachenden, sorglosen Kommilitonen vorbei, ihre Schritte eilig auf dem betonierten Gehsteig, die Arme fest um ihre Büchertasche geschlungen.

Sie hatte gerade eine Besprechung mit ihrer Tutorin gehabt, die sie für eine Weile beurlaubt hatte. Sie würde bald nach Hause fahren, schon in ein paar Stunden. Sie hatte der Tutorin gesagt, dass sie einige »persönliche Probleme« verarbeiten musste, aber schon in ein paar Wochen wieder an den Seminaren teilnehmen würde. Dabei war Savannah nicht sicher, ob ein Leben ausreichen würde, um alles zu verarbeiten, was sie in den letzten paar Tagen erlebt hatte.

Sie fragte sich immer noch, ob sie irgendwie den Verstand verlor. Gideon schien das gestern Abend nicht geglaubt zu haben. Es war unheimlich lieb von ihm gewesen, nach ihr zu sehen – dass er sich Sorgen gemacht hatte, weil sie sich krankgemeldet hatte. Sein Trost, ungebeten und unerwartet, war genau das gewesen, was sie gebraucht hatte.

Und der Kuss war auch nicht von schlechten Eltern gewesen. Der absolute Wahnsinn, um ehrlich zu sein. Es hatte sie völlig überrumpelt, wie gut es sich anfühlte, in seinen Armen zu liegen, ihr Mund auf seinem. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie immer noch seine heißen Lippen auf ihren eigenen spüren. Und auch ihr Körper erinnerte sich an ihn, jedes Nervenende wurde kribbelig und warm schon beim Gedanken daran, in seinen Armen zu sein.

Jeder andere hätte ihren labilen emotionalen Zustand gestern Abend vermutlich zu seinem Vorteil ausgenutzt und versucht, ihr an die Wäsche zu gehen. Nach diesem Kuss hätte weiß Gott nicht viel gefehlt, und sie hätte sich rumkriegen lassen.

Sie hatte geträumt, dass er fast die ganze Nacht bei ihr geblieben war. Aber als sie heute Morgen allein aufgewacht war, immer noch in Tanktop und Jeans, war er fort.

Würde sie ihn wiedersehen?

Nicht sehr wahrscheinlich. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn erreichen konnte. Keine Ahnung, wo er wohnte oder was er beruflich machte. Sie wusste nicht einmal seinen Nachnamen. Irgendwie hatte er seit ihrer ersten zufälligen Begegnung vermieden, ihr irgendetwas von Bedeutung über sich selbst zu erzählen, außer dass er offensichtlich gebildet und extrem belesen war.

Ganz zu schweigen von seiner endlosen Geduld und seinem Verständnis, wenn hysterische Frauen etwas von übersinnlicher Wahrnehmung und übernatürlichen Kreaturen faselten, die nur in Slasherfilmen und Horrorbüchern existierten.

Tatsächlich war Gideon mehr als geduldig und verständnisvoll gewesen. Er war eine Quelle der Ruhe für sie gewesen und hatte ihr damit mehr geholfen, als sie je zu hoffen gewagt hatte. Ein Teil von ihr glaubte ihm, wenn er sagte, dass er ihr helfen konnte, das alles zu ergründen. Dass er ihr helfen wollte, zu verstehen, was sie ihm erzählt hatte, obwohl er sie doch insgeheim für ziemlich durchgeknallt halten musste.

Ein Teil von ihr glaubte, dass Gideon wirklich halten konnte, was er ihr versprochen hatte. Er vermittelte einfach diese totale, unbeirrbare Kompetenz. Mit seiner Präsenz füllte er jeden Raum aus, in dem er sich aufhielt, strahlte eine undefinierbare Kraft aus. Seine intelligenten blauen Augen sagten jedem, der in sie hineinsah, dass er den Verstand und die Erfahrung eines doppelt so alten Mannes besaß.

Wie alt war er eigentlich?

Savannah hatte ihn um die dreißig geschätzt, aber sie war sich nicht sicher. Er hatte nicht geantwortet, als sie ihn bei ihrer ersten Begegnung in der Bücherei gefragt hatte. Er wirkte irgendwie zu weltgewandt, zu weise, um nur gute zehn Jahre älter zu sein als sie. Er musste viel älter sein, als sie angenommen hatte, aber sein Gesicht war faltenlos, keine Narben oder Flecken, die auf sein Alter schließen ließen.

Und sein Körper … er fühlte sich an wie aus massiven Muskeln und starken, unzerbrechlichen Knochen gebaut. Alterslos, wie so vieles andere an ihm.

Und jetzt, wo sie darüber nachdachte, hatte er auch etwas entfernt Bekanntes an sich. Wenn sie ihn ansah, meldete ihr Unbewusstes ihr ständig, dass sie sich schon einmal getroffen hatten, so unmöglich das auch war.

Ihren Instinkten – oder anderen Teilen ihrer Anatomie zum Trotz – war sie sicher, dass sie Gideon zum ersten Mal vor zwei Tagen im Abbey-Raum der öffentlichen Bibliothek von Boston begegnet war. Bis vor zwei Nächten war er ein Fremder für sie gewesen. Ein Fremder, der nicht verdient hatte, ihre Probleme aufgehalst zu bekommen, real oder imaginär.

Was der Grund war, warum sie zugestimmt hatte, als Amelie heute Morgen angerufen und ihr gesagt hatte, dass sie ein Busticket für sie gekauft hatte, das heute Abend vor der Abfahrt am Bahnhof auf sie wartete. Wahrscheinlich war es das Beste, wenn sie eine Weile nach Louisiana zurückkehrte.

Sie hatte noch einen Termin an der Uni zu erledigen, dann würde sie in ihre Wohnung zurückgehen und fertig packen. Sie wünschte, sie hätte vor der Abfahrt irgendeine Möglichkeit, Gideon zu sehen, sich wenigstens bei ihm zu verabschieden. Aber solange sie nicht den ganzen Tag vor der Bibliothek herumlungern wollte in der Hoffnung, dass er vielleicht diesen Nachmittag dort auftauchte, hatte sie keine Möglichkeit, ihn zu finden, bevor sie heute Abend zum Bahnhof aufbrach.

Vielleicht wusste ja Mrs Kennefick mehr über ihn? Sie hatte ihr ganzes Erwachsenenleben im Archiv der Bibliothek verbracht; wenn Gideon einen Leserausweis hatte, konnte Mrs Kennefick Savannah seinen vollen Namen und seine Adresse geben. Das war immerhin einen Versuch wert. Sie würde sie anrufen und fragen, sobald sie im Institut für Anglistik fertig war.

Bei diesem Gedanken strömte ihr ein solches Gefühl der Hoffnung durch die Adern, dass sie den weißen Firebird auf der Straße kaum registrierte, der im Schritttempo neben sie rollte. Das Beifahrerfenster wurde heruntergekurbelt, und aus dem Wageninneren drang Discomusik.

Genervt sah Savannah hinüber und blinzelte in der hellen Sonne, als der Fahrer die Geschwindigkeit noch weiter drosselte, um mit ihr Schritt zu halten.

Es war der allerletzte Mensch auf der Welt, den sie heute zu sehen erwartete. »Professor Keaton?«

»Savannah. Wie geht es Ihnen?«

»Mir?«, fragte sie ungläubig. Er bremste und beugte sich über den Beifahrersitz, als sie sich bückte und in den Wagen spähte, um ihn sich besser anzusehen. »Ich bin okay, aber was ist mit Ihnen? Was machen Sie hier draußen? Es hieß doch, Sie sind im Krankenhaus und werden frühestens in einer Woche entlassen.«

»Bin seit einer Stunde draußen. Dank der Wunder der modernen Medizin.« Sein Lächeln wirkte schwach, es stieg nicht bis in seine Augen. Er wirkte blass und matt, seine gebräunte Haut wächsern gegen seinen dunklen Schnauzer und die dichten Augenbrauen. Er sah hager und erschöpft aus, wie ein Partygänger nach einem wilden Wochenende.

Kein Wunder – vor zwei Nächten hatte man den Mann bewusstlos in die Notaufnahme gekarrt. Jetzt saß er am Steuer seines Zuhälterschlittens, und aus den Boxen plärrte Barry White. Sie ging auf den Wagen zu und bückte sich, um durch das Beifahrerfenster mit ihm zu reden. »Sind Sie sicher, dass Sie so bald schon wieder fahren sollten? Sie wurden vor zwei Tagen fast umgebracht, Professor Keaton. Ich meine nur, nach allem, was Sie durchgemacht haben …«

Er sah ihr zu, wie sie ungeschickt nach Worten suchte, seine Miene war jetzt ernst. »Ich sollte überhaupt nicht hier sein, wollen Sie damit sagen, was, Savannah? Ich sollte nicht am Leben sein, während Ihre Freundin tot ist.«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf, peinlich berührt, dass er ihre unbeholfene Ausdrucksweise so missverstanden hatte. »Das habe ich nicht gemeint. So etwas würde ich nie denken.«

»Ich habe versucht, sie zu beschützen. Sie zu retten, Savannah.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich konnte nichts tun. Ich hoffe, Sie glauben mir. Und ich hoffe, Sie können mir vergeben.«

»Natürlich«, murmelte sie. »Ich bin sicher, Sie haben getan, was Sie tun konnten. Niemand kann Ihnen die Schuld dafür geben, was mit Rachel passiert ist.«

Als sie redete, bildete sich vor ihrem inneren Auge unwillkürlich das Bild des Monsters. Die schrecklichen Fänge. Die glühenden Kohlen, die seine Augen waren. Ihre Haut wurde kalt bei der Erinnerung, und ein eisiges Frösteln schoss ihr die Wirbelsäule hinauf.

Und doch schien Keaton seltsam ungerührt. Er wirkte irgendwie distanziert von dem Grauen jener Nacht. Er akzeptierte einfach ruhig das Wunder, die Attacke durch ein nicht-menschliches, höllisches Wesen überlebt zu haben. Entweder war ihm das ganze Ausmaß des Horrors, den er erlitten hatte, gar nicht klar, oder er verbarg es gut.

Oder aber Savannahs Gabe war nicht zu trauen. Sie hatte sie nie wirklich kontrollieren können, aber vielleicht wurde sie unzuverlässig. Vielleicht wurde sie gar nicht verrückt – vielleicht verlor sie einfach ihre Fähigkeit, die sie so lange vor dem Rest der Welt geheim gehalten hatte.

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schrecklich das für Sie gewesen sein muss, Professor Keaton. Für Sie und für Rachel.« Sie sah ihn genau an, suchte nach Rissen in seiner so beherrschten Fassade. »Als Sie versucht haben, ihr Leben zu retten, konnten Sie den Angreifer sehen?«

»Ja«, antwortete er und verzog keine Miene. »Ich habe ihn kurz gesehen, unmittelbar bevor ich bewusstlos geschlagen wurde.«

Savannahs Atem gefror in ihren Lungen. »Haben Sie es jemandem erzählt?«

»Natürlich. Der Polizei heute Morgen, bei meiner Vernehmung nach der Entlassung aus dem Krankenhaus.«

Savannah schluckte, alles andere als sicher, ob sie einen anderen Menschen laut aussprechen hören wollte, was ihr solches Entsetzen bereitete. »Was haben Sie ihnen erzählt, Professor Keaton?«

»Was ich gesehen habe. Einen Obdachlosen, der wahrscheinlich von der Straße hereinkam, auf der Suche nach etwas von Wert, um es für Drogen zu versetzen. Rachel und ich überraschten ihn, und er griff uns an wie ein wildes Tier.«

Savannah hörte zu, und für einen Augenblick verschlug es ihr die Sprache. Das ergab keinen Sinn. Nicht, dass die Vision, die Rachels Armreif ihr gezeigt hatte, mehr Sinn machte, aber ihr war klar, dass Keaton log. »Sind Sie sicher? Dass es ein Obdachloser war und nicht … jemand anders?«

Da lachte Keaton laut auf. Abrupt stellte er das Radio ab, seine Bewegungen waren zu hastig. »Ob ich sicher bin? Ich war der Einzige, der dort war und gesehen hat, was passiert ist. Natürlich bin ich sicher. Was soll das, Savannah? Was ist mit Ihnen los?«

»Nichts.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich versuche nur zu verstehen, was passiert ist.«

»Ich habe es Ihnen gesagt.« Er beugte sich weiter über den Beifahrersitz und griff nach dem Türöffner. »Wohin wollen Sie eigentlich?«

»Zur Anglistik«, antwortete sie hölzern, ein unerklärliches Gefühl von Unbehagen breitete sich in ihr aus. »Ich muss mich mit meinem Professor treffen, welchen Unterrichtsstoff ich während meiner Beurlaubung mit nach Hause nehme.«

»Sie verlassen die Uni?« Er klang überrascht, aber sein Gesicht blieb seltsam reglos, ausdruckslos und undurchdringlich. »Wegen dem, was passiert ist?«

»Ich muss.« Sie wich von der Tür zurück und achtete dabei darauf, dass ihre Bewegungen locker wirkten und ihre Stimme unbeschwert klang, während sie hastig eine Notlüge formulierte. »Es gibt bei mir zu Hause gerade einige Probleme, und meine Familie braucht mich.«

»Verstehe.« Keaton nickte. »Sie haben doch sicher gehört, dass Rachels Beerdigung Ende dieser Woche in Brookline ist. Ich weiß, dass Sie ganz alleine in Boston sind, also, wenn Sie möchten, nehme ich Sie gerne mit …«

»Nein danke.« Natürlich hatte sie von der Beerdigung gehört und Rachels Mutter ihr Beileid ausgesprochen, als die aufgelöste Frau sie angerufen hatte, um ihr Datum und Uhrzeit mitzuteilen. »Ich fahre heute Abend nach Louisiana. Mein Busticket ist schon reserviert.«

»So bald schon«, bemerkte er. »Nun, dann lassen Sie mich Sie wenigstens zur Anglistik mitnehmen. Wir können uns unterwegs noch ein wenig unterhalten.«

Savannahs Unbehagen vertiefte sich. Nie im Leben wäre sie zu ihm in den Wagen gestiegen, so seltsam, wie er sich benahm. »Ich bin schon spät dran, es geht schneller, wenn ich zu Fuß die Abkürzung quer über das Unigelände nehme.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Aber danke für das Angebot, Professor Keaton. Jetzt muss ich wirklich los.«

»Wie Sie möchten«, sagte er und schaltete sein Radio wieder ein. »Machen Sie’s gut, Savannah.«

Sie nickte ihm fröhlich zu und ging auf den sicheren Gehsteig zurück, zu den Hunderten von Studenten, die immer noch in ihrer Mittagspause umherliefen. Savannah sah zu, wie Keaton davonfuhr.

Sobald sein weißer Wagen um eine Ecke außer Sichtweite auf einen anderen Teil des Campus verschwunden war, atmete sie auf. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie den Atem angehalten hatte. Dann drehte sie sich hastig in die entgegengesetzte Richtung um und rannte davon, als wäre ihr der Leibhaftige auf den Fersen.