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Das Kunstgeschichteseminar am nächsten Tag fiel natürlich aus.

Das Institutsgebäude war still, heute waren keine Studenten da. Nur die Professoren arbeiteten in ihren Büros. Laut den Gerüchten auf dem Campus würde Professor Keaton sich wieder völlig erholen. Er war immer noch im Krankenhaus, aber jemand hatte einen anderen Professor sagen hören, dass Keaton schon in ein paar Wochen wieder entlassen und bei der Arbeit sein würde. Das waren die einzigen guten Neuigkeiten in dieser ganzen schrecklichen Situation.

Savannah wünschte sich nur, auch Rachel hätte solches Glück im Unglück gehabt.

Es war der Tod ihrer Freundin, der Savannah an diesem Morgen wieder zum Institutsgebäude führte, obwohl kein Seminar stattfand. Sie schlüpfte ins Gebäude, vom Schauplatz des schrecklichen Verbrechens unerklärlich angezogen.

Warum waren Rachel und Professor Keaton angegriffen worden? Und von wem?

Das antike Schwert war in der Tat wertvoll, aber konnte das der Grund für einen so niederträchtigen, tödlichen Angriff sein?

Als Savannah die Treppe zum ersten Stock des Gebäudes hinaufstieg, hatte sie ein wenig das Gefühl, als wäre sie auf dem Weg zu ihrem eigenen Gefährlichen Sitz, auf einer Wahrheitssuche, für die sie vielleicht nicht angemessen vorbereitet war oder die vielleicht ihre Kräfte überstieg.

Die Polizeibeamten waren lange fort, das Absperrband vom Tatort entfernt worden. Und doch, einfach nur dort zu sein, ließ Savannah frösteln, als sie sich Professor Keatons Bürotür am anderen Ende des Ganges näherte. Aber sie musste den Raum noch einmal sehen. Sie hoffte, dort etwas zu finden, das sie beim letzten Mal übersehen hatte, etwas, das ihr irgendwie helfen würde, zu verstehen, was passiert war und warum.

Keatons Bürotür war zu und abgeschlossen, ebenso der Archiv- und Seminarraum nebenan.

Scheiße.

Savannah rüttelte am Türgriff, was völlig nutzlos war. Gegen die Schlösser konnte sie nichts ausrichten. Sie konnte höchstens wieder hinuntergehen und versuchen, einen der Professoren des Instituts zu überreden, ihr aufzuschließen.

Obwohl sie Lügen und Manipulationen sonst grundsätzlich ablehnte, begann ihr Verstand jetzt, eine Reihe von Gründen und Entschuldigungen auszuformulieren, die ihr vielleicht Zugang zu den Räumen verschaffen konnten. Sie hatte zufällig eines ihrer Bücher zu einem anderen Seminar dort vergessen und brauchte es dringend für eine bevorstehende Prüfung. Sie hatte ihren Studentenausweis verloren und dachte, er könnte in ihrem Notizbuch im Seminarraum sein. Sie musste die Katalogisierung eines letzten Postens der Sammlung fertig machen, um sicherzugehen, dass sie ihre Pluspunkte für das Projekt bekam, sobald Professor Keaton wieder zur Arbeit kam.

Na toll. Eine Idee lahmer als die andere.

Nicht, dass die ehrliche Antwort überzeugender wirken würde: Sie wollte sich Professor Keatons Büro vornehmen und alles darin mit bloßen Händen berühren, um zu sehen, ob sie etwas wahrnehmen konnte, was der Polizei vielleicht entgangen war.

Ernüchtert drehte Savannah sich um und wollte gehen. Dabei fiel ihr etwas ins Auge, das weiter unten im Gang auf dem Boden lag. Ein dünner Metallreif.

Konnte das sein, wonach es aussah?

Sie eilte hinüber, um nachzusehen, gleichzeitig aufgeregt und elend beim Anblick des zierlichen Armreifs zu ihren Füßen. Sie erkannte ihn sofort. Er gehörte Rachel. Er musste ihr vom Handgelenk gerutscht sein, als man die Tote weggebracht hatte.

Savannahs ganzes Sein zuckte zurück vor dem Anblick des blutverkrusteten Mementos von Rachels Tod. Aber sie musste den Armreif berühren. Was immer er ihr zu sagen hatte, Savannah musste es wissen.

Sie hob den Armreif vom Boden auf und schloss die Finger um das kalte Metall.

Ihre übersinnliche Gabe erwachte schlagartig. Die Vision aus dem Armreif überwältigte sie, die in dem Metall gespeicherte Erinnerung war so entsetzlich frisch.

Sie sah Rachel in Keatons Büro, ihr Gesicht verzerrt vor absolutem, tödlichem Entsetzen.

Und Savannah brauchte nicht lange, um zu verstehen, warum …

Ohne Vorwarnung blickte sie plötzlich in das Gesicht von Rachels Mörder, als die Bestie sich näherte.

Und es war eine Bestie. Dieselbe Art Monster mit glühenden Augen und geifernden Fängen, das Savannah zu vergessen versuchte, seit sie das alte Schwert berührt hatte. Nur dass dieses Monster keinen Kapuzenumhang trug wie die Gruppe, die die kleinen Jungen ermordet hatte. Dieses trug einen teuren dunklen Anzug und ein frisch gestärktes weißes Hemd. Der edle Zwirn eines Gentleman, aber das Gesicht eines albtraumhaften Monsters.

Die Kreatur sprang Rachel an, stürzte sich mit aufgerissenem Maul und rasiermesserscharfen Fängen auf ihre Kehle.

Oh mein Gott.

Unmöglich. Das konnte einfach nicht sein, nicht schon wieder. Das konnte nicht real sein.

Verlor sie etwa den Verstand?

Savannah bekam keine Luft mehr. Ihre Lungen verkrampften sich, brannten in ihrer Brust. Ihr Herz hämmerte wild, dröhnte ihr in den Ohren. Sie konnte ihre Stimme nicht finden, obwohl ihr ganzer Körper zu schreien schien.

Sie starrte mit offenem Mund auf den Armreif, der jetzt in ihrer Handfläche ruhte. Alle ihre Instinkte befahlen ihr, ihn wegzuwerfen, so schnell und so weit sie nur konnte. Aber er war alles, was ihr von ihrer Freundin geblieben war.

Und der schmale Metallreif enthielt vermutlich den einzigen Beweis für die Identität von Rachels Mörder.

Sie musste jemandem erzählen, was sie gesehen hatte.

Aber wem?

Ihre psychometrische Fähigkeit war befremdlich genug, aber zu erwarten, dass ihr jemand glaubte, wenn sie versuchte, die Monster zu beschreiben, die sie durch ihre Gabe gesehen hatte – und das nicht nur ein Mal, sondern zwei Mal?

Man würde sie für verrückt erklären.

Scheiße, vielleicht war sie das auch.

Savannahs Schwester Amelie hatte immer gesagt, dass ihre Mama ein wenig verrückt gewesen war. Vielleicht hatte sie das geerbt. Denn das war momentan das Einzige, was für sie einen Sinn ergab. Die einzig mögliche Erklärung dafür, was sie in den letzten paar Tagen mit angesehen hatte.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte oder an wen sie sich wenden konnte.

Sie brauchte Zeit zum Nachdenken.

Musste sich in den Griff bekommen, bevor sie noch völlig durchdrehte.

Savannah ließ Rachels Armreif in ihre Büchertasche fallen und rannte aus dem Gebäude.

Gideon klopfte schon zum zweiten Mal an Savannahs Wohnungstür, alles andere als überzeugt davon, dass das eine gute Idee war.

Andererseits war es auch kein Geniestreich gewesen, in der ersten Stunde seiner Patrouille heute Nacht einen Abstecher zur Boston Public Library zu machen, in der Hoffnung, sie zu sehen. Nichtsdestotrotz hatte er das getan und zu seiner Beunruhigung erfahren, dass Savannah nicht zu ihrer Schicht gekommen war. Dumme Idee oder nicht, seine Stiefel hatten ihn wie von selbst durch die Stadt zu ihrer bescheidenen Wohnung getragen.

Als er nun zum dritten Mal an die Tür klopfte, hörte er endlich, dass sich in der Wohnung etwas regte. Er hatte gewusst, dass sie zu Hause war; seine Gabe hatte es ihm verraten, auch wenn sie entschlossen schien, den Besucher an der Tür zu ignorieren. Der Türspion verdunkelte sich, als sie sich davor stellte und hinaussah. Dann hörte er auf der anderen Seite der Tür ein überraschtes Aufkeuchen. Ein Türschloss wurde aufgeschlossen. Dann das zweite.

Savannah öffnete die Tür, sichtlich sprachlos vor Überraschung. Gideon nahm ihren Anblick in sich auf, von ihren hübschen dunklen Augen und ihrem sinnlichen Mund bis zu ihren wohlgeformten Rundungen und langen, schlanken Beinen. Heute Abend war sie bequem angezogen, in einer Jeans mit Schlag, die an Hüften und Schenkeln eng anlag, und einem weißen Tanktop mit dem Logo einer Rockband unter einem offenen, ausgeblichenen Arbeitshemd.

Herr im Himmel, und unter dem hellroten Rolling-Stones-Logo trug sie keinen BH. Der unerwartete Anblick ihrer straffen kleinen Brüste ließ ihn fast vergessen, warum er gekommen war.

»Gideon.« Nicht direkt eine freundliche Begrüßung, so wie sie die schmalen schwarzen Brauen runzelte, als sie ihn ansah. Sie warf einen schnellen Blick an ihm vorbei zum Treppenabsatz, wirkte zerstreut und nervös. Als sie ihn wieder ansah, vertiefte sich ihr Stirnrunzeln. »Was machst du hier? Woher weißt du, wo ich wohne?«

Er hatte gewusst, dass das ein Problem werden würde, aber das Risiko war er eingegangen. »Ich habe vorhin bei der Bibliothek vorbeigeschaut, dachte, ich sehe dich dort noch mal. Deine Chefin sagte mir, du hättest dich heute krankgemeldet. Sie schien sehr besorgt um dich. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich nach dir sehe.«

»Mrs Kennefick hat dir meine Adresse gegeben?«

Hatte sie nicht, aber Gideon bestätigte es weder noch leugnete er es. »Bist du krank?«

Savannahs Miene entspannte sich etwas. »Ich bin okay«, sagte sie, aber er konnte sehen, dass sie unruhig und durcheinander war. Ihre Wangen waren blass, ihr Mund war angespannt. »Du hättest nicht kommen sollen. Mir geht’s gut, aber gerade passt es mir nicht, Gideon.«

Irgendetwas war hier verdammt faul. Er konnte ihre Nervosität spüren, die sie in Wellen ausstrahlte. Savannahs Angst hing schwer und greifbar zwischen ihnen in der Luft. »Dir ist etwas passiert.«

»Nicht mir.« Sie schüttelte schwach den Kopf und verschränkte die Arme wie einen Schutzschild vor der Brust. Ihre Stimme war leise und zögerlich. »Aber meiner Freundin Rachel, die hier mit mir gewohnt hat. Sie wurde vor ein paar Tagen ermordet. Sie und einer der Professoren der Bostoner Uni wurden angegriffen. Professor Keaton hat überlebt, aber Rachel …«

»Mein Beileid für deine Freundin«, sagte Gideon. »Das war mir nicht klar.«

Das war die Wahrheit oder ziemlich nahe dran. Er hatte nicht gewusst, dass Savannah die Opfer gekannt hatte. Er konnte sehen, dass sie litt, aber da war auch noch etwas anderes mit ihr los, und dem Krieger in ihm war alles suspekt, was er noch nicht über die Lage wusste.

»Ich habe neulich was im Fernsehen gesehen über einen Raubüberfall im Institut für Kunstgeschichte«, sagte er beiläufig. »Deine Freundin und der Professor wurden bei einem Einbruch angegriffen, und irgendein antiker Kunstgegenstand wurde gestohlen, nicht?«

Savannah starrte ihn eine Weile an, als könnte sie nicht entscheiden, was sie ihm antworten sollte. »Ich bin nicht sicher, was in jener Nacht passiert ist«, murmelte sie schließlich. Sie löste die Arme voneinander und legte eine Hand auf die Türkante. Dann trat sie einen Schritt zurück und drückte die Tür langsam zu. »Danke, dass du nach mir gesehen hast, Gideon. Mir ist gerade nicht sehr nach Reden, also …«

Er nutzte ihren Rückzug, um einen Schritt nach vorne zu gehen. »Was ist los, Savannah? Du kannst es mir sagen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich will nicht darüber reden. Ich kann nicht …«

Gideons Magen verkrampfte sich vor Besorgnis. »Du hast einen lieben Menschen verloren. Ich weiß, das ist nicht einfach. Aber gestern Abend in der Bücherei hast du anders gewirkt als jetzt. Nicht offensichtlich mitgenommen, so wie jetzt. Etwas hat dir Angst gemacht, Savannah. Leugne es nicht. Etwas ist dir heute passiert.«

»Nein.« Das Wort kam erstickt, wie unter Zwang heraus. »Bitte, Gideon. Ich will nicht mehr darüber reden.«

Sie versuchte verzweifelt, die Fassung zu wahren, das war nur allzu deutlich. Aber sie war wirklich aufgewühlt, von einem tieferen Gefühl als Kummer oder Angst.

Sie hatte Todesangst.

Er musterte sie genauer, sah es in dem Zittern, das ihren ganzen Körper erfasst hatte. Herr im Himmel, was konnte ihr nur solche Angst gemacht haben?

»Savannah, hat dich jemand bedroht?« Sein Blut kochte allein schon bei dem Gedanken daran. »Hat dir jemand etwas getan?«

Sie schüttelte den Kopf, zog sich schweigend in ihre Wohnung zurück und ließ ihn an der offenen Tür stehen. Er folgte ihr hinein, uneingeladen, aber er würde jetzt nicht einfach gehen und sie alleine lassen mit dem, was ihr solches Entsetzen eingejagt hatte.

Gideon schloss die Tür hinter sich und trat in das beengte Wohnzimmer. Sein Blick wanderte zum Schlafzimmer auf der linken Seite, wo ein offener Koffer auf dem Bett lag, einige zusammengefaltete Kleidungsstücke hineingeworfen.

»Fährst du weg?«

»Ich muss eine Weile raus hier«, sagte sie, ging immer noch langsam vor ihm her in das kleine Wohnzimmer und kehrte ihm den Rücken zu. »Ich brauche wieder einen klaren Kopf. Der einzige Ort, wo das geht, ist zu Hause in Atchafalaya. Ich habe heute Nachmittag meine Schwester angerufen. Amelie denkt auch, es ist das Beste, wenn ich heimfahre.«

»Louisiana?«, sagte er. »Das ist verdammt weit weg, nur um einen klaren Kopf zu bekommen.«

»Es ist mein Zuhause. Dort gehöre ich hin.«

»Nein«, sagte er knapp. »Vor irgendetwas hast du panische Angst und läufst davon. Ich hatte dich für stärker gehalten, Savannah. Ich dachte, du magst Helden, die sich nicht unterkriegen lassen und die Wahrheit suchen, um jeden Preis.«

»Du weißt überhaupt nichts über mich«, konterte sie und drehte sich abrupt zu ihm um. Ihre dunkelbraunen Augen durchbohrten ihn mit einer heißen Mischung aus Angst und Wut. Wieder verschränkte sie die Arme vor der Brust, ihre ganze Haltung strahlte Verletztheit und Abwehr aus.

Langsam ging er auf sie zu. Sie wich nicht zurück, hatte aber die Arme fest verschränkt, hinderte ihn – oder jeden –, ihr wirklich nahe zu kommen.

Gideon nahm eine ihrer Hände mit festem, aber sanftem Griff. »Du brauchst dich nicht vor mir zu schützen. Ich bin einer von den guten Jungs.«

Er nahm auch ihre andere Hand und zog ihre beiden Arme herunter. Ihr Brustkorb hob und senkte sich mit jedem flachen, hastigen Atemzug, als er die Hand hob und an ihre zarte Wange legte. Ihre Haut war samtig unter seinem Daumenballen, ihre vollen, dunkelrosa Lippen weich wie Seide.

Er konnte dem Drang nicht widerstehen, sie zu küssen – und wenn auch nur dieses eine Mal.

Er schloss die Finger um ihren warmen Nacken, zog sie an sich und streifte ihre Lippen mit seinen. Sie war noch süßer, als er sich vorgestellt hatte, ihr heißer Mund und die Zartheit ihres Kusses weckten ein Verlangen in ihm, wie ein Verdurstender es nach kaltem, klarem Wasser haben musste.

Gideon konnte nicht anders, er zog sie noch enger an sich, und seine hungrige Zungenspitze forderte Einlass. Mit einem Stöhnen öffnete sie die Lippen für ihn, packte ihn an den Schultern und klammerte sich in köstlicher Hingabe an ihn.

Er streifte ihr das Denimhemd ab, um die nackte Haut ihrer Arme zu spüren. Das war ein Fehler. Denn jetzt drückten sich Savannahs aufgerichtete Brustwarzen gegen seine Brust, das Gefühl brannte sich schlagartig durch seine schwarze Lederjacke und sein T-Shirt und erregte ihn so heftig, als stände sie nackt vor ihm.

Er spürte, wie sich die scharfen Spitzen seiner Fänge ausfuhren, als Verlangen ihn durchzuckte wie ein Flächenbrand. Nur gut, dass er die Augen geschlossen hatte, sonst hätte der glühende Schein seiner Augen ihr verraten, dass er kein Mensch war.

Gideon knurrte an ihrem Mund, sagte sich, dass diese rasche, gefährliche Leidenschaft nur Folge der langen Abstinenz war, die er sich selbst auferlegt hatte.

Klar. Da machte er sich definitiv etwas vor.

Was er fühlte, war etwas viel Überraschenderes. Und es war auch beunruhigend.

Denn in diesem Augenblick wollte er nicht einfach irgendeine Frau. Er wollte nur diese eine hier.

Vielleicht spürte sie die düstere Kraft seines Verlangens nach ihr. Sie musste es weiß Gott gemerkt haben, sein Schwanz zwischen ihnen war so steif geworden wie ein Stahlrohr, und in seinen Adern pulsierte der brennende Trieb, sie zu nehmen, als sein Eigentum zu beanspruchen.

»Gideon, ich kann nicht.« Sie löste sich von ihm und holte stockend Atem, hob die Faust an den Mund und presste sie an ihre feuchten, vom Küssen geröteten Lippen. »Tut mir leid, ich kann das nicht«, flüsterte sie gebrochen. »Ich kann nicht anfangen, etwas zu wollen, das sich so gut und richtig anfühlt, wenn alles andere um mich herum sich so schrecklich falsch anfühlt. Ich bin einfach so verwirrt.«

Hölle noch mal, er auch. Und Verwirrung war ein völlig ungewohntes Gefühl für ihn. Diese Frau hatte ihn schon in dem Augenblick umgehauen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, angefangen mit ihren schlagfertigen Antworten in der Bücherei bis zum heftigen Wunsch, den sie in ihm weckte, einfach nur in ihrer Nähe zu sein.

Er war nicht zu ihrer Wohnung gekommen mit der Absicht, sie zu verführen, aber jetzt, wo er sie geküsst hatte, wollte er sie. Und wie. Ihr Kuss hatte in ihm eine wilde Sehnsucht hinterlassen, zum ersten Mal in mehr Jahren, als er zugeben wollte. Es erforderte seine ganze Selbstbeherrschung, um das Hämmern seines Pulses zu beruhigen und um sicherzugehen, dass seine Augen nicht mehr bernsteinfarben glühten, bevor er sie ansah. Seine Fänge wieder in ihren menschenähnlichen Zustand zurückzuzwingen, bevor er zum Sprechen ansetzte.

Savannah stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so verwirrt. Und du hast recht, Gideon. Ich habe Angst.« Sie sah so verletzlich und zart aus. So allein. »Ich habe Angst davor, verrückt zu werden.«

Er trat näher und schüttelte leicht den Kopf. »Du wirkst nicht verrückt auf mich.«

»Du weißt es nicht«, antwortete sie leise. »Niemand weiß es, außer Amelie.«

»Niemand weiß was, Savannah?«

»Dass ich … Dinge sehe.« Sie ließ diese Aussage lange zwischen ihnen hängen, suchte seinen Blick, beobachtete sein Gesicht nach einer Reaktion. »Ich habe den Angriff auf Rachel mit angesehen. Ich habe gesehen, wie sie ermordet wurde. Ich habe … das Monster gesehen, das das getan hat.«

Gideon wurde schlagartig sehr still, als sie das Wort Monster aussprach. Er bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, zeigte äußerlich nichts als Ruhe und geduldiges Verständnis, obwohl seine Stammesinstinkte schlagartig in Alarmbereitschaft versetzt waren, seine internen Alarmglocken schrillten. »Wie meinst du das, du hast den Mord an deiner Freundin mit angesehen? Warst du dabei?«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe es danach gesehen, als ich einen von Rachels Armreifen draußen vor Professor Keatons Büro gefunden habe. Sie hat ihn in der Mordnacht getragen. Ich habe ihn berührt, und er hat mir alles gezeigt.« Sie presste die Lippen zusammen, unsicher, ob sie weiterreden sollte. »Ich kann nicht erklären, wie oder warum, aber wenn ich einen Gegenstand berühre … kann ich kurze Momente aus seiner Vergangenheit sehen.«

»Und als du ihren Armreif berührt hast, hast du den Tod deiner Freundin gesehen.«

»Ja.« Savannah starrte ihn an mit einem Blick, der viel zu weise war. Trostlos von einem düsteren, unbeirrbaren Wissen. »Ich habe gesehen, wie Rachel von etwas getötet wurde, das kein Mensch war, Gideon. Es sah aus wie einer, aber konnte keiner sein. Mit scharfen Fängen und schrecklichen glühenden gelben Augen.«

Ach. Du. Verdammte. Scheiße.

Dass sie ihm eben gestanden hatte, eine übersinnliche Gabe zu besitzen – was viele Normalsterbliche fingierten, aber nur sehr wenige wirklich besaßen –, war schlagartig vergessen. Es war diese andere Enthüllung, die Gideon das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Als er nicht sofort antwortete, stieß sie ein freudloses Lachen aus. »Siehst du, jetzt denkst du auch, dass ich verrückt bin.«

»Nein, nein.« Er hielt sie nicht für verrückt. Ganz und gar nicht. Sie war intelligent und schön, hundert Jahre Weisheit lag in diesen sanften braunen Augen, die noch keine zwanzig Jahre miterlebt hatten. Sie war außergewöhnlich, und jetzt fragte Gideon sich, ob da noch mehr an Savannah war, als er bisher gedacht hatte.

Aber bevor er ihr die Fragen stellen konnte – über ihre übersinnliche Wahrnehmung und ob sie irgendwo auf dem Körper ungewöhnliche Muttermale hatte –, wandte sie sich von ihm ab, und die Antwort war direkt vor seinen Augen. Ein kleines rotes Muttermal auf ihrem linken Schulterblatt, halb verdeckt vom dünnen Träger ihres weißen Tanktops. Es war unverkennbar: eine Träne, die in die Wiege einer liegenden Mondsichel fiel.

Savannah war keine Normalsterbliche.

Sie war eine Stammesgefährtin.

Ach verdammt. Das sah nicht gut aus. Gar nicht gut. Es gab Vorschriften zu befolgen, wenn Frauen wie Savannah unter der normalsterblichen Homo-sapiens-Bevölkerung entdeckt wurden. Und diese Vorschriften enthielten definitiv nicht Verführung oder falsches Spiel, zwei Dinge, zwischen denen Gideon gerade balancierte wie ein Tänzer auf einem Hochseil.

»Da ich dich mit meiner psychischen Labilität offenbar sprachlos gemacht habe«, fuhr sie fort, als es ihm so untypischerweise die Sprache verschlagen hatte und ihm auch keine schnelle Lösung einfallen wollte, »kann ich dir genauso gut auch die andere Vision erzählen, die ich gesehen habe. Da war ein Schwert in der kunstgeschichtlichen Sammlung, ein sehr altes Schwert. Der einzige Gegenstand, der in der Mordnacht verschwunden ist. Ich habe dieses Schwert neulich auch berührt, Gideon.« Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn an. »Es hat mir die gleiche Art von Kreatur gezeigt – eine ganze Gruppe von ihnen. Mit diesem Schwert haben sie vor langer Zeit zwei kleine Jungen abgeschlachtet. Ich habe noch nie etwas so Schreckliches gesehen. Nicht bevor ich gesehen habe, was mit Rachel passiert ist. Ich weiß, du glaubst wahrscheinlich kein Wort von dem, was ich sage …«

»Doch, Savannah.« Von dem eben Gehörten drehte sich ihm der Kopf, von allem, was er in dieser verängstigten, aber dennoch so direkten Frau sah. »Ich glaube dir, und ich will dir helfen.«

»Helfen? Wie denn?« Er hörte die Verzweiflung, die sich jetzt in ihre Stimme schlich. Sie war erschöpft, emotional völlig ausgelaugt. Langsam ging sie zu dem durchgesessenen Sofa hinüber und ließ sich hineinfallen, beugte sich nach vorn und vergrub das Gesicht in den Händen. »Wie kannst du bei so etwas schon helfen? Ich meine, was ich gesehen habe, kann einfach nicht real gewesen sein. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, nicht?«

Scheiße, fast hätte er ihr die Wahrheit erzählt. Dass es für ihre Verwirrung eine Erklärung gab und er ihr helfen würde, alles zu verstehen, was sie jetzt so ängstigte und verunsicherte.

Aber er konnte es nicht. Er hatte nicht das Recht dazu.

Der Orden musste über Savannahs Existenz informiert werden. Als Krieger – Hölle noch mal, wie jeder andere Stammesangehörige – war es Gideons Pflicht, dafür zu sorgen, dass diese Frau sanft und schonend in ihre Welt eingeführt wurde und erfuhr, welchen Platz sie darin einnahm – wenn sie sich dafür entschied. Statt sie schonungslos vor vollendete Tatsachen zu stellen.

»Was ich sage, ergibt keinen Sinn«, murmelte sie. »Aber vielleicht sollte ich zur Polizei und es ihnen trotzdem erzählen.«

»Tu das nicht, Savannah.« Seine Worte kamen zu schnell heraus, zu heftig. Es war ein Befehl, und er konnte ihn nicht zurücknehmen.

Sie hob abrupt den Kopf, die Brauen gerunzelt. »Ich muss es doch jemandem erzählen, oder etwa nicht?«

»Das hast du. Du hast es mir erzählt.« Er ging zu ihr hinüber und setzte sich neben sie auf das Sofa. Weder zuckte sie zusammen noch zog sie sich zurück, als er ihr die Hand auf den Rücken legte und sie langsam streichelte. »Lass mich dir helfen, das alles durchzustehen.«

»Wie denn?«

Mit der freien Hand streichelte er ihre samtige Wange. »Vorerst musst du mir einfach vertrauen, dass ich es kann.«

Sie sah ihm lange in die Augen, und schließlich nickte sie und schmiegte sich in seine Umarmung. Ihr Kopf lag auf seinem Herzen, ihr schlanker Körper warm und weich in seinen Armen. Es kostete ihn Anstrengung, sein Verlangen zu zügeln, wenn Savannah sich so vertrauensvoll an ihn schmiegte.

Aber jetzt brauchte sie Trost. Sie brauchte ein Gefühl von Sicherheit. Und das konnte er ihr geben, zumindest für den Moment.

Gideon hielt sie, als sie in seinen Armen in einen tiefen Schlaf fiel. Irgendwann später, es mussten Stunden sein, hob er sie vom Sofa und trug sie vorsichtig zu ihrem Bett hinüber, damit sie es bequemer hatte.

Er blieb, bis kurz bevor es hell wurde, und wachte über sie. Sorgte dafür, dass sie in Sicherheit war.

Fragte sich, auf was zur Hölle er sich da eigentlich gerade einließ.