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Seit etwa hundert Jahren beherbergte die Stadt Boston unwissentlich einen Kader von Stammeskriegern, die geschworen hatten, den Frieden mit der Menschheit zu wahren und die Existenz des Vampirvolkes – und besonders ihrer mutierten, blutsüchtigen Mitglieder – vor den Menschen geheim zu halten. Der Orden war um 1350 in Europa von acht Vampiren gegründet worden, von denen heute nur noch zwei am Leben waren: Lucan, der Respekt einflößende Anführer des Ordens, und Tegan, ein eiskalter Krieger, der nach seinen eigenen Regeln spielte und sich von niemandem befehlen ließ.

Sie, zusammen mit dem Rest des aktuellen Teams – Gideon, Dante, Conlan und Rio – saßen an diesem Spätnachmittag im unterirdischen Hauptquartier um einen Konferenztisch versammelt. Gideon hatte gerade von der Razzia seines Teams auf das Roguenest in der vorigen Nacht berichtet, und jetzt stellte Rio die Ergebnisse seiner Solo-Erkundungsmission zu einem mutmaßlichen Nest im Stadtteil Southie vor.

Am Kopfende des langen Tisches, links von Gideon, hörte der schwarzhaarige Gen-Eins-Anführer des Ordens in undurchdringlichem Schweigen den Berichten der Krieger zu, die Fingerspitzen unter dem Kinn mit den dunklen Bartstoppeln aneinandergelegt.

Gideons Hände waren nicht so untätig. Obwohl er mit dem Kopf völlig bei der Sache war, bastelte er gleichzeitig am Prototypen eines neuen Mikrocomputers herum, den er vor wenigen Tagen bekommen hatte. Optisch machte die Maschine nicht viel her, es war nur eine Metallkiste von der Größe eines Aktenkoffers, mit kleinen Kippschaltern und roten LED-Lämpchen an der Vorderseite, aber verdammt, sein Herz schlug für dieses Ding. Das war fast so gut wie Rogues einäschern. Scheiße, fast so gut wie Sex.

Nicht, dass er noch einen direkten Vergleich hatte, so lange wie es her war, dass er sich erlaubt hatte, eine Frau zu begehren. Es mussten viele Jahre sein. Jahrzehnte, wenn er sich die Mühe machen wollte, nachzurechnen. Und das wollte er nicht.

Während Rio zum Ende seines Berichts kam, ließ Gideon ein schnelles Binärcode-Programm durchlaufen, indem er die Befehle mit den Kippschaltern in den Prozessor eingab. Die Maschine hatte nur eine begrenzte Rechenleistung und sehr begrenzte Funktionen, aber Technologie faszinierte ihn, und sein Verstand dürstete ständig nach neuem Wissen und neuen Herausforderungen.

»Gute Arbeit, Männer«, sagte Lucan, als die Sitzung sich dem Ende näherte. Er sah zu Tegan hinüber, dem riesigen Krieger mit dem lohfarbenen Haar am anderen Ende des Tisches. »Wenn Rios Informationen stimmen, könnten wir es hier mit einem Nest von über einem Dutzend Blutsaugern zu tun haben. Um das auszuräuchern, werden wir heute Nacht jeden Mann brauchen.«

Tegan starrte ihn einen Augenblick stumm an, seine smaragdgrünen Augen blickten hart. »Wenn du willst, dass ich da reingehe und das Nest ausräuchere, dann sag es. Wird erledigt. Aber du weißt, dass ich alleine arbeite.«

Lucan starrte wütend zurück, in seinen kühlen grauen Augen blitzten bernsteinfarbene Funken auf. »Du säuberst das Nest, aber nicht ohne Verstärkung. Auf Selbstmordkommandos gehst du gefälligst in deiner Freizeit.«

Einige lange Sekunden herrschte in der Kommandozentrale unbehagliches Schweigen. Tegans Mund zuckte, er öffnete die Lippen und zeigte die Spitzen seiner Fänge. Dann stieß er ein tiefes kehliges Knurren aus, ließ aber den Machtkampf nicht noch weiter eskalieren. Zum Glück, denn wenn diese beiden Gen-Eins-Krieger einander einmal ernsthaft an die Gurgel gingen, würde es weiß Gott keinen klaren Sieger geben.

Wie die übrigen Krieger, die um den Tisch versammelt waren, wusste Gideon von dem bösen Blut zwischen Lucan und Tegan. Der Grund war eine Frau – Tegans Stammesgefährtin Sorcha. Sie war schon lange tot, wurde ihm kurz nach der Gründung des Ordens entrissen. Tegan hatte sie zuerst tragisch an einen Feind verloren, der sie zu seiner Lakaiin gemacht hatte, ein Schicksal schlimmer als der Tod. Aber es war Lucans Hand gewesen, durch die Sorcha umgekommen war, ein Gnadenakt, den Tegan ihm wohl nie vergeben würde.

Es war eine düstere, aber wirksame Erinnerung daran, warum die meisten Krieger sich keine Stammesgefährtin nahmen. Von denen, die derzeit im Orden waren, hatten nur Rio und Conlan Stammesgefährtinnen. Eva und Danika waren starke Frauen; das mussten sie auch sein. Obwohl Stammesvampire praktisch unsterblich und schwer zu töten waren, riskierten die Krieger auf jeder Mission den Tod. Und die Sorge, dass ihre Stammesgefährtin zurückblieb und um sie trauerte, war eine Verantwortung, die nur wenige von ihnen übernehmen wollten.

Die Pflicht erlaubte keine Zerstreuungen.

Das war ein Leitsatz, den Gideon auf die harte Tour hatte lernen müssen. Ein Fehler, den er nicht ungeschehen machen konnte, so sehr er es sich auch wünschte.

Egal wie viele Rogues er einäscherte, seine Schuld verließ ihn nie.

Mit einem leisen, gemurmelten Fluch riss Gideon seine Gedanken aus der Vergangenheit zurück ins Jetzt und gab die letzte Serie seines Programmiercodes in den Computer ein. Er legte den Schalter um, der die Befehle ausführen würde, und wartete.

Zuerst passierte nichts. Dann …

»Hey, geil!«, krähte er und blickte in triumphierendem Staunen um sich, als die roten LED-Lichter an der Vorderseite des Prozessors in einem Wellenmuster aufleuchteten – genau wie von seinem Programm instruiert. Die Krieger sahen ihn zuerst verwirrt und dann mit sichtlicher Besorgnis um seinen Geisteszustand an. »Schaut euch das mal an! Das ist der Hammer, Leute.«

Er drehte den Prozessor auf dem Tisch herum, damit alle das technologische Wunder sehen konnten, das da vor ihren Augen geschah. Als keiner reagierte, lachte Gideon ungläubig auf. »Ach kommt schon, das ist Wahnsinn. Das ist die verdammte Zukunft.«

Dante an der anderen Tischseite feixte. »Genau was wir brauchen, Gid. Ein blinkender Brotkasten.«

»Dieser Brotkasten ist ein noch nicht im Handel erhältlicher Tischrechner.« Er nahm den Metalldeckel ab, damit alle die Platinen und Kabel sehen konnten. »Wir haben hier einen brandneuen 8-bit-Prozessor mit sagenhaftem 256-byte-Speicher, alles in diesem kompakten Design.«

Weiter unten am Tisch lehnte Rio, der lässig auf seinem Stuhl gesessen hatte, sich vor, um besser zu sehen. Seine Stimme mit dem rollenden spanischen Akzent klang belustigt. »Können wir da Pong drauf spielen?« Er und Dante lachten leise, nach einer Weile fiel auch Con ein.

»Eines Tages werdet ihr noch Augen machen, wozu Technologie fähig ist«, sagte Gideon zu ihnen und ließ sich seine Erregung nicht von ihnen madig machen; bitte, dann war er eben ein unhipper Technikfreak. Er zeigte zu einem Raum nebenan, nicht viel größer als ein eingebauter Wandschrank, wo er vor einigen Jahren begonnen hatte, eine Kommandozentrale von Großrechnern zu bauen, die unter anderem die Sicherheits- und Überwachungssysteme des Hauptquartiers steuerten. »Ich sehe schon den Tag vor mir, wenn dieser Raum voller Prozessoren in Kühlschrankgröße ein echtes Techniklabor wird, mit genügend Rechenleistung, um eine ganze Kleinstadt zu betreiben.«

»Okay, cool«, antwortete Dante, und seine Mundwinkel zuckten. »Aber bis es so weit ist, dürfen wir auf deiner Kiste Pong spielen?«

Gideon zeigte ihm den Stinkefinger, musste aber trotzdem grinsen. »Wichser. Ich bin hier von hoffnungslosen Flachbohrern umgeben.«

Lucan räusperte sich und kam wieder zum Thema des Treffens zurück. »Wir müssen anfangen, unsere Patrouillen zu verstärken. Mir wäre nichts lieber, als Boston völlig von Rogues zu säubern, aber wir haben auch andere Städte, die wir uns dringend vornehmen müssen. Wenn alles so weitergeht, werden wir früher oder später unsere Grundstrategie überdenken müssen.«

»Soll heißen, Lucan?«, fragte Rio. »Dass wir neue Mitglieder brauchen?«

Er nickte vage. »Sollten wir in der nächsten Zeit in Betracht ziehen.«

»Ursprünglich waren wir zu acht«, sagte Tegan. »Wir sind jetzt schon lange mit sechs Mann ausgekommen.«

»Sind wir«, stimmte Lucan ihm zu. »Aber die Lage da draußen wird weiß Gott nicht besser. Langfristig brauchen wir vielleicht sogar mehr als acht Mann.«

Conlan stützte die Ellbogen auf die Tischkante und sah sich in der Runde um. »Ich kenne da einen guten potenziellen Kandidaten. Aus Sibirien. Jung, aber solide. Könnte sich lohnen, mit ihm zu reden.«

Lucan stieß ein Knurren aus. »Ich werde dran denken. Jetzt zurück zu unserer Arbeit hier. Letzte Nacht sechs Rogues eingeäschert, und schon das nächste Nest im Visier ist für den Anfang gar nicht schlecht.«

»Nicht schlecht«, warf Gideon ein, »aber lange nicht genug für meinen Geschmack.«

Rio pfiff leise. »Das Einzige, das stärker ist als dein Verstand, Amigo, ist dein Hass auf Rogues. Wenn ich je zum Rogue mutiere, will ich dir lieber nicht über den Weg laufen.«

Gideon quittierte die Bemerkung mit einem grimmigen Blick in Rios Richtung. Er konnte seinen Drang nicht leugnen, die verseuchten Mitglieder seiner Spezies auszurotten. Das ging bei ihm etwa zweihundert Jahre zurück. Zu seinen Anfängen in London.

Dante beäugte ihn nachdenklich von der anderen Tischseite. »Die Blutsauger von gestern Nacht inklusive – wie viele hast du schon umgelegt, Gid?«

Er zuckte mit den Schultern. »Paar Hundert.«

Im Kopf stellte Gideon eine schnelle Berechnung an: Seit seiner Ankunft in Boston 1898 waren es exakt zweihundertachtundsiebzig. Vorher hatten sechsundvierzig weitere Rogues ihre Köpfe durch sein Schwert verloren, einschließlich der drei, die seine kleinen Brüder abgeschlachtet hatten.

Er konnte sich die Gesichter der Jungen nicht mehr vorstellen, auch nicht mehr ihr Lachen hören. Aber immer noch konnte er die Asche des Feuers schmecken, als er damals in der Mordnacht verzweifelt versucht hatte, sie aus dem brennenden Stall zu ziehen. Seither hatte Gideon Rogues gejagt, um so seine Schuldgefühle zu dämpfen. Versucht, ein wenig Erlösung zu finden für sein Versagen, seine Brüder zu beschützen.

Und wie hatte das seitdem funktioniert?

Eigentlich gar nicht.