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Savannah saß auf der Kante ihres Hartschalenkoffers am South-Station-Busterminal, ihr rechtes Knie wippte nervös auf und ab. Ihr Bus hatte Verspätung. Sie war heute Abend einige Stunden zu früh zum Bahnhof gekommen, konnte kaum erwarten, unterwegs zu sein. Wollte verzweifelt nichts wie weg hier.

Ihr beunruhigendes Zusammentreffen mit Professor Keaton hatte ihr zusätzlich zu allem anderen zugesetzt, aber es war ihr Anruf in der Bücherei später von zu Hause aus gewesen, der Savannahs Verwirrung und Unbehagen wirklich verstärkt hatte.

Mrs Kennefick hatte ihr nicht helfen können, Gideon ausfindig zu machen. Oh, sie erinnerte sich gut an den großen blonden Mann in schwarzem Leder, der gestern Abend nach Savannah gefragt hatte.

»So einer ist schwer zu übersehen«, hatte sie gesagt, das Understatement des Jahres. »Nicht direkt unser typischer Leser.«

Nein, Gideon hatte überhaupt nichts Typisches an sich. Außer der Tatsache, dass er ein Mann war und offenbar gut darin, Frauen ins Gesicht zu lügen. Denn als sie Mrs Kennefick gefragt hatte, ob sie ihm ihre Adresse gegeben hatte, hatte die Frau das entschieden bestritten.

»Nein, natürlich nicht, Liebes. Heutzutage kann man doch nicht vorsichtig genug sein. Aber er hat mir gesagt, er sei ein Freund von Ihnen. Ich hoffe, ich habe nicht meine Kompetenzen übertreten, als ich ihm sagte, Sie hätten sich krankgemeldet.«

Savannah hatte ihrer freundlichen alten Vorgesetzten versichert, dass sie nichts falsch gemacht hatte, aber innerlich hatte sie eine Woge des Zweifels überkommen. Gideon war ihr suspekt geworden. Wenn Mrs Kennefick ihn nicht zu ihrer Wohnung geschickt hatte, wie hatte er sie gefunden? Und warum ließ er sie in dem Glauben, dass er mit ehrlichen Mitteln an ihre Adresse gekommen war?

Nichts ergab mehr einen Sinn für sie. Plötzlich kam ihr alles und jeder verdächtig vor, und ihre ganze Welt schien endgültig aus den Fugen zu geraten.

Was sie brauchte, war eine ordentliche Dosis Zuhause, damit sie wieder einen klaren Kopf und ihr Leben auf die Reihe bekam. Damit alles wieder Sinn machte. Sie sehnte sich nach Amelies gutem Essen und ihrer warmen, weichen Umarmung.

Wenn nur dieser verdammte Bus endlich käme.

Zwanzig Minuten Verspätung schon. Draußen vor dem Bahnhof war es eben dunkel geworden. Die Bahnhofshalle war voller abendlicher Pendler, die zu ihren Zügen und Bussen eilten, während durch offene Türen Abgaswolken hereinquollen und die Deckenlautsprecher unverständliche Ankündigungen quäkten.

Die Pendler waren so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen waren, und Savannah blieb mit ein paar weiteren Nachzüglern zurück, um eine gefühlte Unendlichkeit lang auf irgendein Zeichen zu warten, dass sie heute Abend noch aus diesem Bahnhof wegkam. Sie stand mit einem tiefen Gähnen auf, gerade als die Lautsprecher wieder knarzten und eine unverständliche Durchsage zum Bus nach Louisiana kam.

Savannah packte ihren Koffer und rannte zu einem der Schalter hinüber. »Ich habe die Ansage eben nicht verstanden. Haben sie durchgesagt, wie lange es noch dauert, bis man in den Bus nach New Orleans einsteigen kann?«

»Zehn Minuten.«

Endlich. Gerade noch Zeit genug, um aufs Klo zu gehen, und dann wäre sie endlich unterwegs. Savannah dankte der Frau am Schalter und ging zur Damentoilette weiter oben im Bahnhof, den Koffer in der Hand. Mit dem sperrigen Gepäckstück kam sie nur unbeholfen vorwärts. So unbeholfen, dass sie bei der Reihe von Toiletten und öffentlichen Münzfernsprechern fast über den riesigen, gestiefelten Fuß eines Obdachlosen gestolpert wäre, der in der dunklen Nische direkt vor dem Eingang der Damentoilette saß.

»Entschuldigung«, murmelte sie, als sie erkannte, dass sie ihn angerempelt hatte.

Er schien sich nichts daraus zu machen. Oder vielleicht registrierte er sie gar nicht, war weggetreten oder schlief. Der Mann in dem zerschlissenen Navy-Kapuzen-Sweatshirt und den dreckigen Arbeitshosen hob nicht einmal den Kopf. Savannah konnte sein Gesicht nicht sehen, nur seine langen, fettigen Haarsträhnen, die ihm von der niedrigen Stirn bis übers Kinn hingen.

Savannah packte ihren Koffer fester, ging um seinen reglosen Körper herum und betrat die Toilette.

Gideon wusste, dass Savannah nicht zu Hause war, noch bevor er an ihre Tür klopfte. Drinnen war alles dunkel und still. Und auch kein verräterischer Schimmer ihrer Energie drang durch die Wände, als er mit seiner Gabe nach ihr suchte.

»Scheiße.«

Vielleicht hätte er es zuerst in der Bücherei versuchen sollen. Aber noch während er überlegte, wie schnell er es quer durch die Stadt schaffen würde, um dort nach ihr zu suchen, ergriff ihn eine ungute Vorahnung.

Savannah würde doch Boston nicht verlassen haben … oder doch?

Das hatte sie jedenfalls letzte Nacht vorgehabt. Er hatte gedacht, er hätte sie überzeugt, hierzubleiben und sich von ihm helfen zu lassen, aber was hatte er ihr schon Handfestes gegeben? Einen heißen Kuss und ein vages Versprechen, dass er irgendwie, auf wunderbare Weise, alles wiedergutmachen konnte?

Scheiße! Er war ein Idiot, zu denken, dass ihr das als Grund zum Bleiben reichen würde. Er konnte ihr keinen Vorwurf daraus machen, wenn sie ihren Koffer fertig gepackt und sich auf den Weg nach Louisiana gemacht hätte, sobald er aus ihrem Bett gekrochen war, zwölf Stunden zuvor.

Er konnte sie nicht so schnell verloren haben.

Er würde sie nicht so einfach gehen lassen, verdammt. Und das hatte weniger mit dem Orden oder dem Protokoll der Dunklen Häfen zu tun, als er zugeben wollte, nicht einmal sich selbst gegenüber.

Wenn Savannah die Stadt verließ, würde er ihr eben folgen.

Gideon packte den Türknauf. Abgeschlossen.

Er war stark genug, um das verdammte Ding mit bloßen Händen abzureißen, aber als Stammesvampir mit übernatürlichen Kräften war er nicht auf Steinzeitmethoden angewiesen.

Mental löste er die beiden Bolzenschlösser aus ihren Angeln. Die Tür sprang auf, und Gideon schlüpfte in die Wohnung. Ein schneller Blick in ihr Schlafzimmer sagte ihm, dass seine schlimmsten Befürchtungen zutrafen.

Savannahs Koffer war weg, und im vollgestopften kleinen Kleiderschrank hingen mehrere leere Kleiderbügel.

»Verdammt«, knurrte er und stapfte hinaus ins Wohnzimmer, wo er sie erst gestern Abend noch geküsst und in seinen Armen gehalten hatte, während sie an ihn geschmiegt auf dem Sofa schlief. Er sah sich in der ganzen Wohnung um, auf der Suche nach irgendeinem Hinweis, der ihn zu ihr führte.

Da fiel sein Blick auf einen Notizblock neben dem Telefon in der Küche. Mit übernatürlicher Geschwindigkeit durchquerte er den Raum und hob ihn auf. Auf dem obersten Zettel hatte jemand in einer schwungvollen Handschrift South Station notiert, gefolgt von einer Nummer und einer Uhrzeit. Ein Busfahrplan.

Savannahs Abfahrtszeit nach New Orleans.

Sie verließ die Stadt.

Und wenn diese Abfahrtszeit stimmte, war sie schon unterwegs.

Fort, seit über zwanzig Minuten.

Gideon raste trotzdem aus der Wohnung, entschlossen, sie einzuholen. Er brach zu Fuß auf, seine Stammesgene trugen ihn schneller als jedes von Menschen gemachte Verkehrsmittel.

Er war nichts als ein kalter Luftzug für die Menschen, an denen er vorbeikam, seine Füße flogen über den Asphalt und durch den zähen Feierabendverkehr, in Richtung South Station.

Savannah stellte ihren Koffer neben dem Papierhandtuchspender im leeren Vorraum der Toilette ab und trat in die mittlere Kabine. Sie betätigte die ausgeleierte Türverriegelung und hörte das leise Geräusch der Schwingtür am Eingang, als jemand nur wenige Sekunden nach ihr die Damentoilette betrat. Hoffentlich keiner, der ihren ramponierten alten American-Tourister-Koffer klauen wollte.

Sie wollte gerade den Reißverschluss ihrer Jeans öffnen, als der Raum plötzlich widerhallte vom Geräusch von Metall, das schwer auf Beton kratzte. Als ob jemand den überquellenden Mülleimer quer über den Boden des Vorraums schleifte. Kam etwa das Reinigungspersonal, um sauber zu machen?

»Hallo? Hier ist belegt«, rief sie.

Und dann wünschte sie sich, den Mund gehalten zu haben, denn niemand antwortete.

Der Raum wurde plötzlich ganz still, es war nichts mehr zu hören als das leise Tropfgeräusch eines Wasserhahns in eines der verstopften weißen Waschbecken im Vorraum. Savannah erstarrte, all ihre Instinkte waren schlagartig in Alarmbereitschaft.

Sie lauschte, hoffte auf das Geräusch einer Stimme – dass sich jemand unbeholfen für die Störung entschuldigte und sie bat, die Toilette zügig zu verlassen, damit sie gereinigt werden konnte. Sie hörte nichts. Sie war alleine hier.

Nein, nicht alleine.

Von irgendwo auf der anderen Seite der klapprigen Metalltür atmete jemand keuchend mit offenem Mund. Schwere Stiefel näherten sich schlurfend auf dem dreckigen Betonboden und blieben vor ihrer Kabine stehen.

Savannah erkannte sie sofort wieder.

Das war der Obdachlose, der draußen im Terminal geschlafen hatte.

Eine Angstwelle überflutete sie, sie bekam am ganzen Körper Gänsehaut, aber sie sagte im drohendsten Tonfall, den sie schaffte: »Du machst besser, dass du hier rauskommst, Arschloch, wenn du die Nacht nicht in einer Zelle verbringen willst.«

Durch seinen keuchenden Atem hörte sie ein leises Lachen. Tief und bösartig. Irgendwie wahnsinnig. Vielleicht nicht ganz menschlich.

Oh Gott.

Savannah schluckte schwer. Sie war in der Toilettenkabine eingesperrt, wusste nicht, ob sie schreien und jemand anderen in ihren Albtraum mit hineinziehen sollte oder still bleiben und beten, dass ihr in Auflösung befindlicher Verstand ihr wieder einen Streich spielte.

Wenigstens war die Gefahr auf der anderen Seite der Metalltür. Die war nicht sonderlich stabil, aber von innen abgeschlossen. Solange sie diese Tür zwischen ihnen hatte, war sie in Sicherheit.

Aber für wie lange?

Sie hatte die Antwort keine Sekunde später.

Während sie zitternd zwischen Toilette und Tür stand, begann der Riegel an der Tür, sich plötzlich ganz von allein zu bewegen.

Der Bahnhof South Station war voller Reisender aus einem eben angekommenen Zug, als Gideon in der Bahnhofshalle rutschend zum Stehen kam. Er schlängelte sich gegen den Strom durch die wogende Menge. Manche der Reisenden bewegten sich ungeduldig und zielstrebig, andere schlenderten ziellos herum. Gideon fand die Anzeigetafel und suchte die Abfahrtszeit von Savannahs Bus nach New Orleans.

Er hatte Verspätung.

Beste Neuigkeiten, nur dass der Bus den Bahnhof laut Anzeigetafel schon wieder verlassen hatte. Vor gerade mal zwei Minuten.

Am liebsten hätte Gideon etwas kaputt geschlagen. »Verdammt.«

Er überlegte, ob er dem Bus folgen sollte. Wenn er ihn nicht unterwegs einholte, hatte er gute Chancen, ihn beim ersten planmäßigen Halt einzuholen. Und dann? Einsteigen und Savannah suchen, vor all den anderen Reisenden?

Was wäre die bessere Taktik, wenn er sie gefunden hatte: sie in Trance versetzen und vor zig Zeugen aus dem Bus zerren? Oder sich einfach neben sie setzen und ihr alles über Stammesgefährtinnen, Rogues und andere Vampire außerirdischen Ursprungs erzählen, auf der Fahrt nach New Orleans?

Scheiße, was für eine Katastrophe.

Aber viel anderes blieb ihm nicht übrig.

Gideon ging tiefer ins Bahnhofsgebäude und versuchte zu kalkulieren, wie diese beiden Katastrophenszenarien jeweils ausgehen würden. Als er auf den Gang zustapfte, der zu den Bahnsteigen führte, stieg ihm plötzlich ein ekelhaft süßlicher Duft in die Nase.

Unverkennbar Roguegestank und das ganz in der Nähe.

Gideon sah sich nach der Geruchsquelle um. Um ihn herum waren nur Menschen im Bahnhof. Und doch prickelten seine Nackenhaare vor Gewissheit. Sein Blick fiel auf einen gelben Warnkegel, der die Tür zur Damentoilette am anderen Ende der Halle blockierte. Er ging darauf zu, und der üble Roguegestank verstärkte sich.

Seine übersinnliche Gabe drang durch das Holz und die stählerne Schwingtür und ortete zwei Hitzequellen im Raum. Eine war riesig und ungeschlacht. Die andere, kleiner und schlank, war angesichts der Gefahr vor Schreck erstarrt.

Oh verdammt.

Savannah.

In Gideons ganzem Körper flammte heißer, wilder Zorn auf. Eben noch stand er in der Bahnhofshalle, und schon in der nächsten Sekunde war er in der geschlossenen öffentlichen Toilette, stieß den umgekippten Mülleimer zur Seite und sprang den Rogue an – gerade in dem Augenblick, als der Blutsauger sich in die Kabine drängen wollte, um Savannah anzugreifen.

Mit einem tiefen Knurren wuchtete Gideon den Vampir von Savannah fort und knallte ihn mit dem Rücken gegen die Wand mit den weißen Waschbecken und dreckigen Spiegeln auf der anderen Raumseite. Beim Aufprall krachte eines der alten Waschbecken auf den Boden und zerschellte mit einem dumpfen Schlag vor Gideons Füßen. Wasser sprühte aus dem abgerissenen Hahn, zischte fast so wild wie der Vampir, der versuchte, sich aus Gideons unnachgiebigem Griff zu befreien.

Der Blutsauger grunzte und fauchte, knirschte mit seinen gelben Fängen. Er stank nach Blutgier und den sauren Überresten seiner letzten Nahrungsaufnahme, aber seine gelben Augen mit den schmalen, geschlitzten Pupillen hatten den Blick einer ausgehungerten Bestie, die immer noch nach Blut dürstete.

Die Tatsache, dass dieses Ungeheuer Savannah so nahe gekommen war – nur Sekunden davor gewesen war, sie zu berühren, sie zu beißen, nahe genug, um sie zu töten – brachte Gideons Adern vor Mordlust zum Pulsieren.

Er wollte den Bastard vernichten, der ihr Böses wollte.

Und das hätte er auch getan, wenn Savannah nicht mit im Raum gewesen wäre und alles mit angesehen hätte.

Ihr erschrockenes Gesicht spiegelte sich in dem gesprungenen Spiegel hinter dem riesigen Rogue, der wütend gegen Gideons Griff ankämpfte. Savannahs dunkle Rehaugen waren aufgerissen vor Entsetzen, ihr hübscher Mund geöffnet in einem stummen Schrei, als sie Gideon und das Monster anstarrte, das er an die Toilettenwand drückte.

»Raus mit dir, schnell«, sagte Gideon zu ihr. Er brannte darauf, den Blutsauger zu töten, aber es war ihm zuwider, es vor ihr zu tun. »Warte draußen auf mich, Savannah. Du solltest jetzt nicht zusehen.«

Aber sie rührte sich nicht. Vielleicht konnte sie es nicht. Oder vielleicht waren es einfach ihre Hartnäckigkeit und ihr scharfer, neugieriger Verstand, dessen Bedürfnis nach Antworten stärker war als ihre Angst.

Der Rogue bäumte sich auf und schlug wild um sich, versuchte, Gideon abzuschütteln. Ihm blieb keine Zeit mehr. Der Lärm draußen im Bahnhof würde die meisten Kampfgeräusche aus der Toilette übertönen, aber er musste diese Sache jetzt schnell zu Ende bringen, bevor sie noch unerwünschte Aufmerksamkeit erregten. Gideon zog einen seiner langen Dolche aus der Scheide unter seinem schwarzen Trenchcoat.

Die gelben Augen des Blutsaugers folgten seiner Bewegung, und sein höhnisches Grinsen wich der Erkenntnis seines bevorstehenden Endes. Er brüllte auf, seine dreckige Hand schoss hervor und tastete nach irgendeiner Waffe.

Er bekam keine Gelegenheit dazu.

Gideon verlagerte seine Position und schob seinen Dolch zwischen ihre Körper. Mit einem harten Stoß drang die Klinge tief in den Brustkorb des Rogue ein. Der Blutsauger erstarrte, er keuchte heftig, die feurig glühenden Augen starr auf Gideon gerichtet, und sein scheußliches Gesicht erschlaffte in seiner Niederlage.

Gideon hielt den Dolch fest, als der mutierte Stammesvampir zuckend um den tödlichen, titanbeschichteten Stahl verendete.

Der Tod kam augenblicklich. Gideon ließ die riesige Leiche des Rogue fallen, in der schon das Titan wütete und ihn von innen heraus zu zersetzen begann. Schon in wenigen Minuten würde der sterbende Fleisch- und Knochenhaufen nur noch Asche sein, und dann würden alle Spuren seiner Existenz restlos verschwinden.

Gideon drehte sich zu Savannah um. »Bist du verletzt?«

Stumm schüttelte sie den Kopf. »Gideon … wer war er? Was war er?« Sie holte mühsam Atem. »Mein Gott, was ist hier nur los?«

Gideon steckte seinen blutigen Dolch in seine Scheide zurück und ging zu ihr hinüber. Er legte einen schützenden Arm um ihren zitternden Körper und hob sanft ihr Gesicht. »Hat er dich angefasst?«

»Nein«, murmelte sie. »Aber wenn du nicht gekommen wärst …«

Er küsste sie kurz und zärtlich. »Ich bin hier. Ich sorge dafür, dass dir nichts passiert, Savannah. Vertraust du mir?«

»Ja«, flüsterte sie. »Ich vertraue dir.« Sie spähte um ihn herum zu dem toten Rogue, der sich jetzt samt Kleidern und Stiefeln rasch zersetzte. »Aber ich verstehe einfach nicht, was hier los ist. Wie kann das nur real sein?«

»Komm.« Er nahm ihre Hand in seine. »Es könnten noch mehr von der Sorte in der Nähe sein. Wir müssen hier weg.«

Er führte sie aus der Toilette und wieder in den geschäftigen Bahnhof. Erst als sie draußen in der kühlen Abendluft auf dem Bürgersteig standen, erkannte Gideon, dass er keine Ahnung hatte, wo er jetzt mit ihr hingehen sollte.

Savannahs Wohnung lag am anderen Ende der Stadt, mehrere Meilen entfernt. Nicht, dass es klug war, sie dort hinzubringen. Das eben im Bahnhof war vermutlich kein Zufallsangriff gewesen. Wer immer diesen Blutsauger auf sie angesetzt hatte, beschattete zweifellos auch ihre Wohnung. Und so sehr Gideon auch wissen wollte, wer das war, standen Savannahs Sicherheit und Wohlergehen jetzt für ihn an allererster Stelle.

Was bedeutete, sie umgehend im nächstbesten Dunklen Hafen abzuliefern.

Das wäre in der Tat die logischste, pragmatischste Entscheidung gewesen. Aber Logik und Pragmatik gingen ihm gerade so was von am Arsch vorbei.

Er wollte Savannah nicht mit tausend offenen Fragen aus einer grauenhaften Situation herausreißen, nur um sie dann dem zivilen Flügel des Stammes zu übergeben. Tatsächlich konnte er sich überhaupt nicht vorstellen, sie irgendjemandem zu übergeben. Er spürte, wie ihre zarten Finger sich fester um seine breite Hand schlossen, als sie neben ihm in der Dunkelheit stand und darauf wartete, dass er seine Entscheidung traf. Ihm vertraute, dass er sie beschützen würde, wie er es ihr versprochen hatte.

Gideon sah in ihre samtigen braunen Augen und spürte ein plötzliches, wildes Gefühl von Besitzgier. Es kam gar nicht infrage, sie wegzuschicken. Es war seine Pflicht, sie sanft in seine Welt einzuführen. Er wurde wütend beim Gedanken daran, dass irgendein Fremder, von der Agentur oder ein Zivilist, sich um diese Frau kümmerte.

Seine Frau.

Der Gedanke stieg von irgendwo tief aus seinem Unterbewusstsein auf, ein wildes Urgefühl, das in seinen Adern pulsierte und ihm bei jedem Herzschlag in den Ohren dröhnte.

Und er brauchte sie ebenfalls.

Nachdem er sie vorhin im Bahnhof in Gefahr gesehen hatte – als ihm klar wurde, dass er sie heute Abend fast verloren hätte –, hätte Gideon Savannah am liebsten in seine Arme gerissen und sie nie wieder aus den Augen gelassen.

Er würde sie nicht den Dunklen Häfen oder der Agentur ausliefern, auch wenn das bedeutete, dass er bewusst die Verhaltensvorschriften des Stammes ignorierte.

Selbst wenn das bedeutete, sich dreist über Lucans Befehle hinwegzusetzen.

Gideon griff in die Hosentasche seiner schwarzen Drillichhose und zog den Papierfetzen heraus, den Tegan ihm heute im Hauptquartier gegeben hatte. Er las zum zweiten Mal, was darauf stand. Nur eine Adresse, sonst nichts.

Eine Adresse, nicht weit von ihrem Standort entfernt.

Er war nicht sicher, was ihn erwartete, wenn sie dort ankamen, aber momentan war es wohl seine beste und einzige Möglichkeit.

»Gehen wir«, murmelte er und streifte mit den Lippen ihre warme Schläfe.

Er legte beschützend den Arm um sie, die sich an ihn wie an einen Rettungsanker klammerte, und führte sie weg von dem betriebsamen Bahnhof.