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Savannah nahm die U-Bahnlinie T von ihrer Wohnung in Allston zur Uni, immer noch ganz verschlafen und mit dringendem Bedürfnis nach Kaffee. Sie hatte, gelinde gesagt, sehr unruhig geschlafen. Zu viele verstörende Träume. Zu viele beunruhigende Fragen wirbelten ihr im Kopf herum, seit sie das verdammte Schwert angefasst und in seine Vergangenheit geblickt hatte. Sie hatte die ganze Nacht praktisch kein Auge zugetan.

Außerdem war Rachel nicht von ihrem Date mit Professor Keaton nach Hause gekommen. Natürlich war das so geplant gewesen. Hatte sie das gestern nicht gesagt? Nichtsdestotrotz hatte Savannah in ihrem Schlafzimmer in der beengten kleinen Wohnung wach gelegen und darauf gelauscht, dass ihre Mitbewohnerin nach Hause kam. Hatte sich Sorgen gemacht, dass Rachel sich in einen Typen wie Professor Keaton verknallte, einen wesentlich älteren Mann, der kein Geheimnis aus seinem hohen Frauenverschleiß und seiner Vorliebe für Studentinnen machte.

Savannah wollte nicht, dass ihrer Freundin wehgetan wurde. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlte, ausgenutzt zu werden von jemandem, dem sie vertraute; eine Lektion, die sie nie wiederholen wollte. Außerdem würde Rachel wahrscheinlich nur darüber lachen, dass sie sich solche Sorgen um sie machte. Sie würde sie eine Glucke nennen – zu zurückhaltend und ernst für ihr Alter –, so wie Savannah es schon ihr ganzes Leben lang von anderen zu hören bekam.

Um ehrlich zu sein, beneidete sie Rachel ein wenig darum, dass sie so ein Freigeist war. Während Savannah die ganze Nacht Gedanken gewälzt und sich Sorgen gemacht hatte, amüsierte Rachel sich vermutlich bestens mit Professor Keaton. Berichtigung: Bill, dachte sie, verdrehte die Augen und versuchte, sich jetzt nicht vorzustellen, wie ihre Mitbewohnerin in den Qualen der Leidenschaft Professor Keatons Namen keuchte.

Gott, wie würde sie heute nur das Seminar überstehen, ohne sich die beiden unwillkürlich – und absolut ungewollt – nackt miteinander im Bett vorzustellen?

Savannah ging um die Ecke zum Unigelände an der Commonwealth Avenue, in Gedanken immer noch bei der potenziell unbehaglichen Situation, als der Anblick von Polizeifahrzeugen und einem vor dem Kunstgeschichtsgebäude geparkten Notarztwagen mit Blaulicht sie stutzig machte. Gerade sprangen ein paar Reporter und ein Kamerateam aus einem Übertragungswagen und drängten sich durch die vor dem Gebäude versammelte Menge.

Was um Himmels willen …?

Sie eilte hinüber, eine schreckliche Vorahnung stieg in ihr auf. »Was ist da los?«, fragte sie einen Kommilitonen am Rand der Zuschauermenge.

»Jemand hat gestern Abend einen der Kunstgeschichts-Profs in seinem Büro angegriffen. Anscheinend geht es ihm ziemlich schlecht.«

»Wenigstens lebt er noch«, fügte jemand hinzu. »Anders als die Studentin, die bei ihm war.«

Savannah fiel das Herz in die Hose, so kalt wie ein Stein. »Eine Studentin?« Nein, nicht Rachel. Das konnte nicht sein. »Wer ist es?«

Die Antwort kam von einem anderen Zuschauer in der Menge. »Irgendein Erstsemester aus seinem Antiquitäten-Seminar. Anscheinend waren sie da oben in seinem Büro miteinander zugange, als es passierte.«

Savannahs Füße bewegten sich wie von selbst und trugen sie auf den Eingang des Gebäudes zu, bevor sie überhaupt registriert hatte, dass sie sich bewegte. Sie rannte hinein und wich dabei den Polizisten und Universitätsangestellten aus, die versuchten, die wachsende Menge draußen und in Schach zu halten.

»Miss, jetzt darf niemand ins Gebäude«, rief ihr einer der Polizeibeamten zu, als sie auf die Treppe zurannte. Sie ignorierte den Befehl, rannte so schnell sie konnte die drei Stockwerke hinauf und den Gang hinunter auf Professor Keatons Büro zu.

Das Fernsehteam, das sie vor wenigen Minuten bei der Ankunft gesehen hatte, stand mit laufenden Kameras im Gang, während die Polizei und die Sanitäter hinter der offenen Tür arbeiteten. Als sie näher kam, schob ein Notarzt einen Patienten auf einer Tragbahre auf den Korridor hinaus und eilte mit ihm an ihr vorbei zum Aufzug.

Professor Keaton war bewusstlos, sein Gesicht und Hals voller Blut, die Haut kalkweiß über der Decke, die ihn bis zum Kinn bedeckte. Savannah war starr vor Schock.

»Platz machen an der Tür«, schrie eine schroffe Stimme mit Bostoner Akzent hinter ihr. Sie zuckte zusammen und trat einen Schritt zur Seite, als eine weitere Tragbahre aus dem Büro des Professors geschoben wurde.

Diese Patientin wurde nicht von einem Notarzt betreut. Die Sanitäter schoben sie ohne Dringlichkeit auf den Gang hinaus und auf den zweiten Aufzug zu. Savannah presste sich die Hand über den Mund, um den erstickten Aufschrei zu unterdrücken, der in ihrer Kehle aufstieg.

Oh Rachel. Nein.

Das Leintuch, das ihren zierlichen Körper völlig verhüllte, war voller dunkelroter Flecken. Einer ihrer Arme war darunter hervorgerutscht und hing schlaff über die Kante der Tragbahre. Savannah starrte in stummem Kummer hin, unfähig, den Blick von dieser leblosen Hand mit dem Dutzend schmaler Armreifen am Handgelenk, klebrig von ihrem Blut, abzuwenden.

Von Ungläubigkeit und Entsetzen überwältigt, stolperte Savannah in das Büro des Professors, kurz davor, sich zu übergeben.

»Alle raus hier!«, befahl einer der Detectives, der drinnen bei der Arbeit war. Er legte Savannah eine Hand auf die Schulter, als sie sich zusammenkrümmte und sich den Magen hielt, um ihr Frühstück nicht loszuwerden. »Miss, Sie müssen gehen. Das ist ein Tatort.«

»Sie war meine Mitbewohnerin«, murmelte Savannah, erstickt von Tränen. Ihr wurde schwindelig vom Anblick der Blutspritzer an der Wand hinter Professor Keatons Sofa und Schreibtisch. »Warum tut jemand so etwas? Warum hat man sie umgebracht?«

»Wir sind dabei, das herauszufinden«, sagte der Cop, und seine Stimme klang schon etwas mitfühlender. »Mein Beileid wegen Ihrer Freundin, aber Sie müssen uns jetzt unsere Arbeit machen lassen. Ich würde mich aber gerne mit Ihnen darüber unterhalten, wann Sie Ihre Freundin zum letzten Mal gesehen haben, also warten Sie bitte draußen.«

Dass er redete, war für das Fernsehteam offenbar das Signal, um sich mit der Kamera in den Raum zu drängen. Der Reporter schob sich zwischen Savannah und den Polizeibeamten und rammte ihm sein Mikro unter die Nase. »Haben Sie schon Hinweise darauf, was hier vorgefallen ist? War es ein zufälliger Einbruch? Raubüberfall? Oder war der Angriff persönlich? Besteht ein Sicherheitsrisiko für den Campus, für Studenten und Lehrende?«

Der Cop sah den Aasgeier mit dem Mikro aus schmalen Augen an und stieß einen genervten Seufzer aus. »Zum jetzigen Zeitpunkt besteht kein Grund zur Annahme, dass ein allgemeines Sicherheitsrisiko besteht. Es gibt keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen, genauso wenig wie für andere Kampfspuren als denen hier in diesem Büro. Obwohl nicht der Anschein besteht, als sei etwas gestohlen worden, können wir Diebstahl als Tatmotiv bis zur vollständigen Sicherung des Tatortes nicht ausschließen …«

Savannah konnte es nicht mehr mit anhören. Sie ging langsam aus Keatons Büro nach nebenan in den Seminarraum, wo sie, Rachel und die anderen Studentinnen erst gestern Nachmittag noch zusammengearbeitet hatten. Sie ließ sich auf einen Stuhl an einem der Arbeitstische sinken und fühlte sich irgendwie außerhalb ihres eigenen Körpers, während drüben im blutbespritzten Büro die Erörterung von Rachels Ermordung und Professor Keatons Glück im Unglück weiterging.

Savannahs Blick wanderte ziellos über die gestapelten Nachschlagewerke auf den Arbeitstischen, dann hinüber zum Archivraum. Die Tür war weit geöffnet, aber es waren weder Cops noch Unipersonal dort anwesend.

Sie stand auf und näherte sich benommen, betrat den abgedunkelten Raum.

Und sogar durch den Nebel ihres Schocks und Kummers erkannte sie sofort, dass etwas nicht stimmte.

»Es ist weg.«

Sie wirbelte herum, ein plötzlicher Adrenalinstoß jagte sie praktisch im Laufschritt zu Professor Keatons Büro zurück. Sie sah sich rasch im Raum um, blickte hinter den unordentlichen Schreibtisch und unter das abgewetzte Sofa, wobei sie versuchte, all das Blut zu ignorieren.

»Es ist weg.« Die Polizeibeamten und Fernsehleute verstummten, alle drehten sich zu ihr um. »Hier ist letzte Nacht etwas gestohlen worden.«

Eva hatte schon wieder den Rauchmelder in der Küche des Hauptquartiers ausgelöst. Angesichts des nervtötenden Piepens kam jeder Krieger im Haus immer sofort angerannt, um das verdammte Ding abzustellen.

Gideon ließ seinen Mikrocomputer, an dem er an diesem Morgen gearbeitet hatte – seine neue Obsession –, stehen und liegen und rannte den gewundenen Korridor des unterirdischen Hauptquartiers hinauf in die Küche, die eigens für Eva und Danika eingebaut worden war, den einzigen beiden Bewohnerinnen, die biologisch fähig waren, zu essen, was dort zubereitet wurde. Und selbst das war fraglich, wenn Rios Stammesgefährtin mit Kochen dran war.

Der Spanier kam nur Sekunden vor Gideon in der Küche an. Rio hatte den Alarm abgestellt und zog Eva gerade liebevoll in seine Arme, er lachte gutmütig, während sie ihre Entschuldigungen vorbrachte.

»Ich hatte mich nur eine Minute lang umgedreht, um etwas in den Fernsehnachrichten anzuschauen«, protestierte sie und zeigte zu dem kleinen tragbaren Fernsehgerät auf der Arbeitsfläche. Kopfschüttelnd gingen Lucan, Dante und Tegan wieder zurück an ihre Arbeit. Nur Conlan blieb da, er ging zu seiner Stammesgefährtin Danika hinüber, die hinter vorgehaltener Hand lächelte, und legte den Arm um sie.

»Außerdem«, fuhr Eva fort, »dieses Mal gab es doch praktisch gar keinen Rauch. Dieser Rauchmelder hasst mich persönlich, ich schwör’s!«

»Ist schon okay, Baby«, sagte Rio und lachte herzlich. »Kochen war noch nie deine Stärke. Sieh’s doch mal positiv, wenigstens ist niemandem was passiert.«

»Sag das mal ihrem Frühstück«, sagte Gideon trocken. Er nahm die Pfanne mit verkohlten Eiern und Würstchen vom Herd und warf die Bescherung in den Müll.

Als er am Fernseher vorbeiging, sah er in atemberaubende schokoladenbraune Rehaugen, gerahmt von dichten, fedrigen Wimpern, und blieb stehen. Die junge Frau wurde vor einem der Bostoner Universitätsgebäude interviewt. Kurze schwarze Locken rahmten ihr liebliches, sanftes Gesicht. Ein perfektes Oval von glatter, milchkaffeefarbener Haut, die sich samtweich anfühlen musste.

Aber der Mund der jungen Schönen war angespannt, und als Gideon jetzt genauer hinsah, erkannte er, dass in den schönen dunklen Augen Tränen standen.

»Erzählen Sie uns mehr über den Kunstgegenstand, der Ihren Angaben zufolge verschwunden ist«, drängte der Reporter und hielt ihr aggressiv das Mikrofon ins Gesicht.

»Es ist ein Schwert«, antwortete sie, mit einer Stimme, die genauso schön war wie ihr Gesicht, obwohl sie zitterte und ihre Worte etwas unsicher klangen. »Ein sehr altes Schwert.«

»Ah ja«, sagte der Reporter. »Und Sie sagen, Sie sind sicher, dieses Schwert gestern noch in Professor Keatons Seminarraum gesehen zu haben?«

»Worum geht’s da?«, fragte Gideon, die Augen gebannt auf die junge Frau gerichtet.

»Gestern Nacht wurde ein Professor an der Uni angegriffen«, erklärte Danika. »Man hat ihn ins Mass General Hospital gebracht, sein Zustand ist kritisch, aber stabil. Die Studentin, die bei ihm war, wurde getötet. Der Polizei zufolge ist da ein Raubüberfall eskaliert.«

Gideon quittierte das mit einem Knurren und fragte sich, was die interviewte Studentin damit zu tun hatte.

»Das Schwert gehörte zu einer Sammlung kolonialer Möbel und Kunstobjekte, die kürzlich der Universität vermacht wurde«, sagte sie zu dem Reporter. »Zumindest glaube ich, dass es Teil dieser Sammlung war. Wie auch immer, jetzt ist es weg, und soweit ich sehen kann, fehlt sonst nichts.«

»Mhm. Und können Sie unseren Zuschauern das Schwert beschreiben?«

»Es ist eine englische Arbeit aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts«, antwortete sie bestimmt. »Auf dem Griff ist ein Adler oder Falke eingraviert.«

Gideon erstarrte, sein Blut gefror zu Eis.

»Es hat einen Rubin im Knauf«, fuhr die junge Frau fort, »eingefasst von stählernen Krallen.«

Herr im Himmel.

Gideon stand reglos da, während sein Hirn versuchte, das Gehörte zu verarbeiten.

Die Waffe, die diese Studentin in so unverkennbaren Details beschrieb … er kannte sie nur allzu gut.

Genau dieses Schwert hatte er vor sehr langer Zeit in seinen Händen gehalten. Es war verschwunden in der Nacht, in der seine kleinen Zwillingsbrüder ermordet worden waren, geraubt, wie er annahm, von den Rogues, die sie damit abgeschlachtet hatten, während Gideon nicht im Dunklen Hafen gewesen war. Nicht bei ihnen gewesen war, um sie zu beschützen, wie er es hätte tun müssen.

Er hätte nie gedacht, dass er das Schwert jemals wiedersehen würde, und er wollte es auch nicht wiedersehen. Nicht nach jener Nacht.

Er hätte nie damit gerechnet, dass es ausgerechnet hier in Boston auftauchen würde.

Wie lange war es schon hier? Wem hatte es gehört?

Und vor allem, wer konnte solches Interesse an ihm haben, um dafür zu töten?

Feuer flammte in seinen Adern auf vor lauter Drang, das herauszufinden. Er musste mehr wissen.

Und als Gideon die hübsche Studentin auf dem Bildschirm anstarrte, wusste er schon genau, wo er mit seiner Suche beginnen würde.