12

Gideon war beim Reden die ganze Zeit vor ihr auf und ab gegangen.

Jetzt, wo er geendet hatte, blieb er endlich stehen und sah in erwartendem, seltsam liebenswertem Schweigen zu, wie Savannah versuchte, all das soeben Gehörte in sich aufzunehmen.

»Bist du okay?«, fragte er vorsichtig, als das ganze Ausmaß ihres neuen Wissens sie sprachlos machte. »Kannst du mir folgen, Savannah?«

Sie nickte, versuchte, all die Puzzleteile in ihrem Kopf zusammenzusetzen.

Die ganze unglaubliche Geschichte seiner Spezies, woher sie kam, wie sie seit Tausenden von Jahren verborgen unter den Menschen lebten. Und wie Gideon und eine kleine Gruppe gleich gesinnter, mutiger Stammesvampire – modernen dunklen Rittern, wie es sich anhörte – als Einheit zusammenarbeiteten, hier in Boston, um die Stadt vor der Gewalt der Rogues zu schützen.

Es war alles ziemlich verrückt.

Aber sie glaubte ihm.

Sie nahm ihn beim Wort, dass das fantastische Märchen, das er ihr da eben erzählt hatte, die Wahrheit war.

Es war, ob sie es akzeptieren wollte oder nicht, ihre neue Realität.

Eine Realität, die etwas weniger beängstigend wirkte, wenn sie mit Gideon in ihr war.

Sie sah zu ihm auf. »Außerirdische Vampire, was?«

Er lächelte ironisch. »Die Ältesten waren Außerirdische, aber keine grünen Männchen. Tödliche Raubtiere, wie dieser Planet sie nie gesehen hatte. Das absolut oberste Ende der Nahrungskette.«

»Okay. Aber ihre Nachkommen –«

»Der Stamm.«

»Der Stamm«, sagte sie, prüfte immer noch alles Gehörte mit ihrem Verstand. »Sie sind zum Teil menschlich?«

»Hybride Nachkommen der Ältesten und Stammesgefährtinnen, Frauen wie dir«, stellte er klar.

Savannah tastete zu ihrem linken Schulterblatt, wo ein kleines Muttermal sie als weibliches Gegenstück von Gideons Spezies auswies. Sie stieß ein leises Lachen aus und schüttelte den Kopf. »Mama hat immer gesagt, das ist ein Feenkuss.«

Gideon trat näher zu ihr auf den alten Holzstuhl zu. Er zuckte leicht mit den Schultern. »Etwas hat dich und die anderen, die mit diesem Muttermal geboren sind, anders gemacht als andere Frauen. Woher wollen wir wissen, dass es keine Feen waren?« Sein Mund kräuselte sich zu einem zärtlichen, vertraulichen Lächeln. »Es macht dich zu etwas ganz Besonderem, Savannah. Außergewöhnlich. Aber das alles wärst du sowieso, auch ohne dein Muttermal.«

Ihre Blicke trafen sich, sie sahen einander lange an. Savannah beobachtete fasziniert, wie die feurigen Funken in seinen hellblauen Iriskreisen wie Sterne zu funkeln begannen. Seine Pupillen hatten sich zu schmalen, vertikalen Schlitzen zusammengezogen – Tieraugen, wie die einer Katze. Vielleicht hätte sie beunruhigt oder abgestoßen sein sollen; stattdessen sah sie gebannt seiner unglaublichen, fantastischen Veränderung zu.

Sie streckte die Hand nach ihm aus, zog ihn näher. Er trat zwischen ihre Knie und ging in die Hocke. Sein riesiger Körper strahlte Hitze aus. Wo ihre Knie und Schenkel ihn berührten, konnte sie das Hämmern seines Pulses spüren. Ihr eigener Herzschlag schien ihm zu antworten, verfiel in seinen Rhythmus, als wären sie ein und dasselbe Wesen.

Savannah konnte nicht widerstehen, ihn zu berühren.

Seine nackte Brust, seine Schultern und starken, muskulösen Arme waren mit einem dichten Netz kunstvoller Bögen und Schnörkel bedeckt, nur eine Schattierung dunkler als seine goldene Haut.

Dermaglyphen, hatte er ihr erklärt, zusammen mit all dem anderen.

Sie fuhr eines der Muster auf seinem festen Brustmuskel mit der Fingerspitze nach und staunte, wie es sich unter ihrer Berührung mit Farbe füllte. Sie folgte der kunstvoll verschlungenen Glyphe weiter und beobachtete, wie sie lebendig wurde, in rötlichem Gold und dunklen Edelsteinfarben schillerte.

»Sie sind wunderschön«, sagte sie und hörte sein tiefes zustimmendes Knurren, das aus seiner Brust aufstieg, als sie noch mehr Farbe auf andere Stellen seiner samtigen Haut lockte. Er hatte sie fasziniert von dem Augenblick an, als sie ihn unter den Abbey-Wandgemälden in der Bibliothek getroffen hatte. Aber jetzt wurde sie auch auf eine andere Art neugierig auf ihn. Sie wollte ihn besser kennenlernen, alles über ihren Liebsten wissen, der so viel mehr war als ein einfacher Mensch. »Ich könnte den ganzen Tag mit deinen Dermaglyphen spielen«, gab sie zu, unfähig, ihr Staunen und Entzücken zu verbergen. »Ich liebe es, wie sie weinrot und indigoblau werden, wenn ich sie berühre.«

»Verlangen«, knurrte er heiser. »Das ist es, was diese Farben bedeuten.«

Sie sah auf und sah einen wachsenden Hunger in seinem gut aussehenden Gesicht, hörte ihn in seiner tiefen, rauen Stimme. »Deine Augen«, sagte sie und bemerkte, wie die bernsteingelben Funken sich vermehrt hatten und zu einem Glühen geworden waren, das langsam seine blauen Iriskreise ausfüllte. »Als wir uns vorhin geliebt haben, habe ich die Hitze deiner Augen gespürt. Ich habe gesehen, wie in deinen Augen ein Feuer aufgeflammt ist, so wie jetzt. Du hast es vor mir verborgen.«

»Ich wollte dir keine Angst machen«, gab er unumwunden zu.

»Ich habe jetzt keine Angst, Gideon. Ich will es wissen.« Sie streckte die Hand nach ihm aus und legte sie um seinen angespannten Kiefer. »Ich will verstehen.«

Er starrte sie lange an, dann knurrte er ihren Namen und küsste sie langsam und ausgiebig.

Savannah schmiegte sich an ihn, emporgehoben von der Lust, seine heißen Lippen auf ihren zu spüren. Sie hungerte nach mehr, spielte prüfend mit der Zungenspitze über seine Lippen. Zuerst gab er nicht nach und knurrte, als wollte er sie abweisen.

Sie würde nicht zulassen, dass er sich vor ihr versteckte. Nicht jetzt. Nie wieder, wenn sie zusammen waren.

Sie rutschte an die Stuhlkante, schlang die Hände um seinen Hinterkopf, bohrte die Finger in sein kurzes seidiges Haar und schmiegte sich fest an ihn. Sie fuhr mit der Zunge seine Lippen nach und forderte Einlass.

Mit einem leisen Fluch gab er nach, und sie schob ihre Zunge in seinen hungrigen Mund. Die scharfen Spitzen seiner Fänge streiften sie, als sie ihn heftiger küsste. Als sie es kaum noch aushalten konnte, zog sie sich zurück, um ihm ins Gesicht zu sehen.

Jetzt hatte er kaum noch etwas von einem Normalsterblichen an sich. Seine Augen glühten hell, seine Fänge waren riesig und rasiermesserscharf. Seine Dermaglyphen pulsierten in dunklen Farben auf seiner Haut, als wären sie lebendig.

Er war einfach überwältigend, und sie empfand keine Angst, als sie seine vollständige Transformation in sich aufnahm.

»Bring mich ins Bett, Gideon. Ich will, dass du mich wieder liebst, so wie du jetzt bist.«

Mit einem außerirdischen Knurren riss er sie vom Stuhl und in seine starken Arme.

Dann stand er auf und trug sie ins Schlafzimmer, wie befohlen.

Gideon hatte noch nie etwas Schöneres gesehen als den Ausdruck von Lust auf Savannahs Gesicht, als sie auf ihm saß und ihrem Orgasmus entgegenritt, ihre dunklen Augen auf seinen, während sie sich ohne Eile, aber in langsam steigerndem Tempo bewegte.

Sie waren aus dem Bett gestiegen, irgendwann, bevor draußen vor den versiegelten Fenstern der Stadtvilla der Morgen dämmerte. Jetzt saßen sie einander in einer Badewanne voll warmem Badewasser gegenüber, Savannah auf ihm, sein Schwanz tief in ihrer engen Scheide, ihre Brüste tanzten aufreizend vor seinen durstigen Augen und seinem hungrigen Mund. Er konnte nicht widerstehen, eine der aufgerichteten braunen Brustwarzen zwischen die Zähne zu nehmen, fuhr mit der Zunge über die harte kleine Spitze und strich dabei mit den Spitzen seiner Fänge sanft über ihren Busen.

Sie holte heftig zitternd Atem, als er seinen Mund etwas fester um sie schloss, gerade genug, um sie daran zu erinnern, was er war und um sich selbst mit dem Verlangen zu quälen, mit ihr die letzte Grenze zu überschreiten – sie ganz zu seiner Frau zu machen.

Sie zu lieben, ohne Angst oder ohne seine wahre Natur vor ihr zu verbergen, war Wahnsinn gewesen. Unsagbar gut. Sie hatten sich letzte Nacht völlig verausgabt und nur kurz in enger Umarmung geschlafen, bevor sie wieder aufgewacht waren, um sich wieder zu küssen, zu streicheln und zu lieben.

Gideon wusste, er hätte sich irgendwann loseisen müssen, um sich im Hauptquartier zurückzumelden, aber er hatte einfach die Willenskraft nicht aufbringen können, das Bett, das er mit Savannah teilte, zu verlassen. Und so, wie die Dinge diesen Morgen liefen, schaffte er es wohl nie mehr zurück. Savannah wiegte sich auf ihm und sah ihn an, ihr Gesicht gebadet im bernsteinfarbenen Lichtschein seiner Augen.

Er streichelte ihr Gesicht und ihren Hals, als sie sich in einem tieferen, schnelleren Rhythmus auf ihm bewegte. Das Badewasser schwappte laut um sie herum, das Geräusch ihrer Vereinigung klang nass und sinnlich. Dann begann sie zu kommen, ihren geöffneten Lippen entfuhr ein leises Stöhnen.

Gideon packte ihren Po fester und bewegte sein Becken synchron mit ihrem. Sein Schwanz fühlte sich in ihrer engen Scheide wie heißer Stahl an, und der Druck am unteren Ende seiner Wirbelsäule wurde zu einem wilden Fieber. Seine Fänge schossen in ganzer Länge heraus, sein Zahnfleisch pulsierte vom Drang, Savannahs zarten, langen Hals zu schmecken, als sie den Kopf zurückwarf und ihren Höhepunkt herausschrie.

Gideon folgte ihr wenig später mit einem heiseren Schrei, sein Orgasmus brachte seinen ganzen Körper zum Erschauern. Welle um Welle sengender Hitze schoss aus ihm heraus. Er rief ihren Namen und wusste nicht, ob er Gebet war oder Fluch.

Sie lächelte, als er sie mit seinem Samen füllte, ihre dunklen Augen nahmen gierig seinen Anblick in sich auf, obwohl er wusste, dass er wild und außerirdisch aussehen musste. Sie hatte keine Angst vor ihm. Nicht seine Savannah, nicht jetzt.

Sie sank gegen ihn, schwach und gesättigt. Gideon hielt sie fest und strich ihr mit den Händen über den Rücken. Ihr Atem war warm an seinem Hals, ihre Lippen weich und feucht auf seinem Puls, und seine Halsschlagader reagierte prompt mit einem Zucken.

»Ich kann einfach nicht genug von dir kriegen«, murmelte sie. »Hast du mich irgendwie verhext mit deiner Stammes-Sexmagie?«

Er lachte leise. »Wenn ich so was nur könnte. Ich würde dich nie mehr aus meinem Bett lassen. Oder meiner Wanne.«

»Oder vom Stuhl im Wohnzimmer«, fügte sie hinzu, eine Erinnerung an einen weiteren Ort, der in den letzten Stunden der Lust beste Verwendung gefunden hatte.

Bei dem Gedanken wurde Gideon schon wieder steif, und er fragte sich, wie intensiv ihr Liebesspiel sein würde, wenn sie ein blutsverbundenes Paar wären. Nur ein kleiner Biss, und sie würde für immer ihm gehören. Gefährliche Gedanken. Etwas, worüber er gar nicht ernsthaft nachdenken wollte, auch wenn sein Körper sich gegenteilig äußerte.

»Ich kann auch nicht genug von dir kriegen«, sagte er und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Ich war schon sehr lange mit niemandem mehr zusammen. Ich musste mich erst wieder dran erinnern, wie das geht. Aber du bist eine tolle Lehrerin.«

Er spürte sie lächeln. »Nun, du machst alles goldrichtig.«

»Ich lerne schnell.«

Savannah lachte und schmiegte sich enger an ihn. Sie lag in der engen viktorianischen Badewanne halb auf ihm, eines ihrer langen Beine um ihn gelegt, die Arme um seine Brust geschlungen. Gideon streichelte ihren Arm. »Für lange Zeit habe ich meine ganze Energie in meine Ordensmissionen gesteckt. Jetzt mache ich blau. Die machen mir die Hölle heiß – und das mit Recht –, wenn ich mich zurückmelde und sage, wo ich gewesen bin.«

Savannah hob den Kopf und musterte sein Gesicht. »Wie lange?«

»Wie lange es her ist, seit ich eine Frau so wollte, wie ich dich will?«

Sie nickte.

»Nie«, sagte er. »In der Hinsicht bist du die Erste. Ich hatte meinen Teil an Affären. Aber die waren gedankenlos und haben mir nichts bedeutet.«

»Wie lange ist es her, seit du das letzte Mal Sex hattest?«, beharrte sie.

»Das letzte Mal?« Er zuckte mit den Schultern. »Das dürfte achtzehn oder neunzehn Jahre her sein.« Eine Zeitspanne so lang wie ihr ganzes Leben, was ihm jetzt angemessen vorkam. »Es war nichts Besonderes, Savannah. Keine von ihnen war es, im Vergleich zu uns. Zu dir.«

Sie wurde ganz still und fuhr eine Glyphe auf seiner Brust nach. »Ich war nur mit einem einzigen Jungen zusammen – Danny Meeks, ein Junge aus meiner Heimatstadt. Quarterback in der Schulmannschaft, König der Highschool … der Junge, mit dem alle Mädchen in der Schule zusammen sein wollten.«

Gideon knurrte und spürte einen Anfall von roher Besitzgier. Er wollte schon eine klugscheißerische Bemerkung über hinterwäldlerische Sportskanonen mit dem IQ ihrer Schuhgröße machen, aber er konnte spüren, dass Savannah ihm noch nicht alles erzählt hatte.

»Was hat er dir getan?«, fragte er, seine Besitzgier verdunkelte sich zu Wut, als sein Argwohn wuchs, dass dieser dumme Junge sie irgendwie verletzt hatte.

»Ich dachte wirklich, er hat mich gern. Er hatte doch die freie Auswahl, konnte jedes Mädchen der Schule haben, und er hatte eben erst mit dem hübschesten, beliebtesten Mädchen meiner Klasse Schluss gemacht. Aber er wollte mich.« Sie seufzte leise, fuhr immer noch mit dem Finger Gideons Dermaglyphen nach, deren Farbe sich jetzt wieder vertiefte. Dieses Mal nicht vor Verlangen, sondern aus Wut über ihren Schmerz. »Wir sind ein paarmal miteinander ausgegangen, und nach ein paar Wochen fing er an, mir zuzusetzen, wollte mehr. Ich war noch Jungfrau. Ich wollte warten, bis ich den Richtigen treffe, weißt du?«

Gideon streichelte ihren Arm und ließ sie reden, während er schon wusste, worauf die Geschichte hinauslief, und es gefiel ihm ganz und gar nicht.

»Schließlich habe ich nachgegeben«, sagte sie. »Wir hatten Sex, und es war furchtbar. Es hat wehgetan. Er war grob und ungeschickt.«

Gideon knurrte. Er wollte sie sich nicht mit einem anderen Mann vorstellen, und schon gar nicht mit einem, der so lieblos mit ihr umging.

»Danach waren wir noch ein paar Monate zusammen«, fuhr sie fort. »Danny hat mich nie besser behandelt. Er hat sich immer nur genommen, was er wollte. Nach einer Weile begann ich, Gerüchte zu hören, dass er wieder angefangen hatte, seine ehemalige Freundin anzurufen. Dass er nur mit mir zusammen war, weil er sie eifersüchtig machen wollte. Dann waren sie plötzlich wieder zusammen, und ich habe es erst erfahren, als ich sie bei einem seiner Spiele herumknutschen sah. Ich habe ihm nie etwas bedeutet. Er hat mir etwas vorgemacht, und die ganze Zeit, in der wir zusammen waren, hat er mich nur benutzt, um das zu bekommen, was er wirklich wollte.«

»So ein Arschloch«, knurrte Gideon. Er bebte vor Wut, wollte nichts lieber, als dem kleinen Arschloch eine ordentliche Lektion erteilen. Den Bastard erwürgen dafür, dass er ihr wehgetan hatte. »Savannah, das tut mir leid.«

»Ist schon okay.« Sie schüttelte den Kopf an seiner Brust. »Ich habe daraus gelernt. Es hat mich vorsichtiger gemacht. Ich habe besser auf mich und mein Herz aufgepasst. Und dann bist du gekommen …«

Sie sah auf in seine Augen. »So fantastischen Sex wie mit dir konnte ich mir in meinen wildesten Träumen nicht vorstellen, Gideon. Und ich habe nie verstanden, wie verloren ich mich mein ganzes Leben lang gefühlt habe – bis ich dich gefunden habe. Es muss wohl Schicksal gewesen sein, das uns neulich in der Bibliothek zusammengeführt hat.«

Gideon hatte einen Anflug von Schuldbewusstsein beim Gedanken daran, wie sie sich getroffen hatten. Nur er wusste, dass es nicht das Schicksal gewesen war, das ihn an jenem Abend zu ihr geführt hatte. Er hatte sie ursprünglich als Krieger auf einer Einzelmission aufgesucht, weil er Informationen zu dem Schwert sammeln wollte und darüber, wer es jetzt hatte.

Diese Mission hatte sich rasch verändert, sobald er Savannah kennengelernt hatte. Sobald sie ihm so schnell so viel bedeutete. Er hätte es ihr schon lange sagen sollen, am besten sofort – und hätte es jetzt auch getan, aber bevor er das erste Wort herausbrachte, verschloss sie ihm mit einem zärtlichen Kuss den Mund.

Es kostete ihn seine ganze Kraft, ihren süßen Kuss nicht zu beenden und die anderen verdammenden Worte zu sagen, die ihm auf der Zungenspitze lagen: Bleib bei mir. Als meine Stammesgefährtin. Ich will eine Blutsverbindung mit dir.

Aber es war nicht fair, so viel von ihr zu verlangen, nicht, wenn sie gerade erst in seine Welt eintrat und er sich immer noch um unerledigte Angelegenheiten zu kümmern hatte.

Er hatte immer noch unbekannte, verborgene Feinde zu eliminieren. Und er würde keine Sekunde lang annehmen, dass die Gefahr, die Savannah verfolgte, aus der Welt war, nur weil er den Rogue getötet hatte, der sie an der South Station angefallen hatte.

Die Erinnerung an diesen Kampf ernüchterte ihn schlagartig. Sie musste die Veränderung in ihm gespürt haben, denn jetzt zog Savannah sich von ihm zurück. »Was ist los? Stimmt was nicht?«

»Gestern Abend am Busterminal«, sagte er. »Ist dir jemand aufgefallen, der dir gefolgt ist? Dich beobachtet hat, vor oder nach deiner Ankunft dort? Ich meine nicht den Rogue, sondern jemand anderen. Jemand, der vielleicht gewusst hat, dass der Rogue dich angreifen würde.«

»Nein. Warum?« Besorgnis flackerte in ihrem suchenden Blick auf. »Denkst du, der Rogue war nicht alleine? Dass ich irgendwie gezielt angegriffen wurde?«

»Ich denke, es ist eine realistische Möglichkeit, Savannah.« Gideon wollte sie nicht unnötig beunruhigen, aber sie musste auch verstehen, wie gefährlich die Situation draußen für sie werden könnte. »Ich glaube, der Rogue wurde geschickt, um dich für jemand anderen aufzuspüren.«

Und um sie zum Schweigen zu bringen, ein Gedanke, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Savannah starrte ihn an. »Wegen dem, was mit Rachel und Professor Keaton passiert ist? Denkst du, der Mörder ist jetzt hinter mir her? Warum?«

»Das Schwert, Savannah. Was hast du noch gesehen, als du es berührt hast?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab’s dir doch gesagt. Ich habe Rogues gesehen, die diese beiden kleinen Jungen ermordet haben. Und ich habe dich gesehen, wie du jemanden mit dem Schwert angegriffen hast. Du hast ihn damit getötet.«

Gideon nickte grimmig. »Das war ein Duell, vor vielen Jahren. Ich habe den Stammesvampir getötet, der das Schwert hergestellt hat. Sein Name war Hugh Faulkner, ein Gen-Eins-Stammesvampir, und damals der beste Waffenschmied von London. Er war auch ein perverses Arschloch, das sich an Blutvergießen aufgeilte. Besonders, wenn es um junge Menschenfrauen ging.«

»Was ist passiert?«

»Eines Nachts in London tauchte Faulkner in einem Wirtshaus in der Cheapside auf, mit einer Menschenfrau unter dem Arm. Sie war in ziemlich schlechter Verfassung, blass und reagierte nicht, fast völlig ausgesaugt.« Gideon konnte den Abscheu in seiner Stimme nicht verbergen. Seine Spezies hatte Gesetze, um die Menschen vor dem schlimmsten Missbrauch durch Stammesvampire zu schützen, aber es gab auch Einzelne wie Faulkner, die dachten, dass sie über dem Gesetz standen.

»Die anderen Stammesvampire in dem Wirtshaus wollten sich nicht mit einem Gen Eins anlegen, besonders einem so üblen Burschen wie Faulkner. Aber ich konnte einfach nicht ertragen, was er dieser Frau angetan hatte. Es kam zu einem Wortwechsel. Und dann waren Faulkner und ich plötzlich draußen in der Dunkelheit und kämpften auf Leben und Tod um das Schicksal dieser Frau.« Gideon erinnerte sich so gut daran, als sei es erst gestern gewesen, nicht schon dreihundert Jahre her. »Ich hatte mir mit meinen Schwertkünsten einiges Ansehen verschafft, jedenfalls war ich besser als Faulkner. Er verlor fast sofort sein Schwert und stolperte, ein tödlicher Fehler. Ich hätte mir sofort seinen Kopf holen können, aber in einem Akt der Gnade habe ich es nicht getan. Was dumm von mir war, wie sich herausstellte.«

»Er hat falsch gespielt?«, riet Savannah.

Gideon nickte vage. »Im Augenblick, als ich mich umdrehte, um sein Schwert vom Boden aufzuheben, machte Faulkner Anstalten, aufzustehen und mich anzugreifen. Mir war sofort klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Ich habe mich schnell wieder umgedreht, und bevor Faulkner aufstehen konnte, habe ich ihn mit seinem eigenen verdammten Schwert in zwei Hälften gehackt.«

Savannah holte leise Atem. »Das habe ich gesehen. Wie du ihn mit dem Schwert getötet hast, das ich berührte.«

»Ich habe den Kampf gewonnen und dafür gesorgt, dass die Menschenfrau versorgt wurde, bis sie sich wieder erholt hatte«, antwortete Gideon. »Was Faulkners Schwert anging, wünsche ich mir, ich hätte es in jener Nacht einfach neben seiner Leiche liegen lassen.«

Ein Ausdruck des Begreifens trat in Savannahs sanfte Augen. »Die Zwillinge, die ich mit dem Schwert habe spielen sehen, bevor sie im Stall von Rogues angefallen wurden …«

»Meine Brüder«, bestätigte er. »Simon und Roderick.«

»Gideon«, flüsterte sie. »Das tut mir so leid für dich.«

»Es ist lange her«, sagte er.

»Aber du spürst es immer noch. Nicht wahr?«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Es war meine Schuld. Ich hätte sie beschützen müssen. Unsere Eltern waren tot. Die Jungen waren meine Verantwortung. Mehrere Wochen nach der Konfrontation mit Faulkner war ich auf einer Zechtour in der Stadt. Simon und Roddy waren noch klein, noch keine zehn, aber alt genug, um alleine zu jagen. Ich bin davon ausgegangen, dass ich sie ein paar Stunden in der Nacht allein lassen konnte.«

Savannah griff nach seiner fest geballten Faust, zog sie an ihre Lippen und küsste die Finger voller Mitgefühl. Er entspannte seine Finger und schob sie zwischen ihre. »Meine Brüder waren der Grund, warum ich nach Boston kam. Ich bin dem Orden beigetreten, um Rogues zu jagen, nachdem ich die drei getötet hatte, die die Jungen ermordet hatten, und dann noch Dutzende mehr.«

»Hunderte mehr«, erinnerte ihn Savannah.

Er knurrte. »Ich dachte, Rogues zu töten, würde gegen die Schuldgefühle wegen meiner Brüder helfen, aber das tut es nicht.«

»Wie lange versuchst du das schon, Gideon?«

Er stieß einen leisen Fluch aus. »Simon und Roddy wurden vor dreihundert Jahren getötet.«

Sie hob den Kopf und starrte ihn mit offenem Mund an. »Wie alt bist du genau?«

»Dreihundertzweiundsiebzig«, knurrte er. »Plus/minus ein paar Monate.«

»Oh mein Gott.« Sie ließ ihren Kopf wieder auf seine Brust sinken und lachte. Dann lachte sie noch mehr. »Ich dachte, Rachel hat einen Knall, weil sie auf Professor Keaton stand, der war erst knapp vierzig. Und ich verliebe mich hier in eine Antiquität.«

Gideon wurde ganz reglos. »Du verliebst dich?«

»Ja«, antwortete sie leise, aber ohne zu zögern. Sie sah zu ihm auf und hob eine schmale schwarze Braue. »Jetzt sag mir bloß nicht, dass ein dreihundertzweiundsiebzig Jahre alter Vampir davon das Muffensausen kriegt.«

»Nein«, sagte er, war aber plötzlich vorsichtig geworden.

Nicht wegen ihres Liebesgeständnisses; auf diese verheißungsvolle Erklärung würde er später zurückkommen.

Jetzt meldeten ihm seine Kriegerinstinkte kalten Alarm. Er setzte sich mit gerunzelter Stirn in der Wanne auf.

»Keaton«, sagte er ausdruckslos. »Wann wird der aus dem Krankenhaus entlassen?«

»Er ist schon draußen«, antwortete Savannah. »Ich habe ihn gestern auf dem Campus gesehen. Er sah furchtbar aus, sagte aber, er hätte sich wieder vollständig erholt, und man hätte ihn früher als geplant entlassen. Er war irgendwie komisch –«

Gideons Körper spannte sich an. »Inwiefern?«

»Weiß nicht. Komisch. Unheimlich. Und er hat mich angelogen, als ich ihn zu dem Angriff befragt habe.«

»Erzähl’s mir.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Er hat mir gesagt, er hat gesehen, wer Rachel in jener Nacht ermordet und ihn angegriffen hat. Keaton sagte, es war ein Obdachloser, aber Rachels Armreif hat mir etwas anderes gezeigt. Einen Mann in einem sehr teuren Anzug. Mit gelb glühenden Augen und Fängen.«

»Verdammte Scheiße. Das gibt’s doch nicht.« Gideon fragte sich, warum er es bisher noch nicht erkannt hatte. Der Angreifer hatte Savannahs Mitbewohnerin ermordet, aber den Professor am Leben gelassen. Das war kein Zufall. »Was hat Keaton dir sonst noch gesagt?«

»Nicht viel. Wie ich schon sagte, er war einfach komisch, ganz anders als sonst. Ich habe mich mit ihm nicht sicher gefühlt.«

»Wusste Keaton, dass du gestern Abend am Bahnhof sein würdest?«

Sie stutzte und überlegte. »Ich habe ihm gesagt, dass ich nach Hause nach Louisiana fahre. Vielleicht habe ich auch erwähnt, dass ich den Bus nehmen wollte –«

Gideon knurrte und stieg aus der Wanne. Wasser strömte von seinem nackten Körper. »Ich muss mir Keaton selbst ansehen. Nur so kann ich es sicher wissen.« Er überlegte, wie spät es gerade war – etwa kurz nach zwölf Uhr mittags – und stieß einen deftigen Fluch aus.

Auch Savannah stieg aus der Wanne, stellte sich neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Gideon, was musst du sicher wissen?«

»Keatons Verletzungen in der Nacht des Angriffs«, sagte er. »Ich muss wissen, ob er gebissen wurde.«

»Das weiß ich nicht. So viel habe ich nicht gesehen, als ich Rachels Armreif berührt habe.« Verwirrt starrte sie ihn an. »Warum? Was sagt es dir, ob Keaton gebissen wurde?«

»Wenn ich ihn sehe, werde ich sofort wissen, ob er noch ein Mensch ist oder ob sein Angreifer ihn gebissen und ausgesaugt hat. Ich muss wissen, ob der Vampir, der das Schwert aus der Universität gestohlen hat, ihn zu seinem Lakaien gemacht hat.«

»Zu seinem Lakaien.« Jetzt wurde Savannah ganz still. »Wenn Keaton gebissen wurde, dann weißt du, was du wissen musst?«

»Ja.« Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf. »Das Problem dabei ist, ich sitze bis nach Sonnenuntergang hier im Haus fest.«

»Gideon«, sagte sie. »Was, wenn ich Keaton jetzt sehe?«

»Was meinst du?« Er wurde wütend allein schon bei dem Gedanken daran, dass sie auch nur in die Nähe dieses Mannes kam. »Ohne mich gehst du nirgendwo hin. Das kann ich nicht riskieren.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich meine, vielleicht kann ich dir sagen, ob Keaton bei dem Angriff gebissen wurde.« Als er zur Antwort nur ein finsteres Gesicht machte, sagte sie: »Ich habe immer noch Rachels Armreif.«

»Wo?«

»Hier, bei mir. In meiner Handtasche drüben im Wohnzimmer.«

»Hole ihn bitte, Savannah. Jetzt gleich.«