11

Bill Keaton wusste, dass er an diesem Abend in seinem Haus in Southie Gesellschaft hatte, noch bevor sich der große Mann im makellosen Anzug aus den Schatten seiner Haustür löste.

Er hatte diesen Besuch erwartet. Es war ihm verboten, den Mann selbst aufzusuchen, aber er hatte sich ständig für seine Befehle bereitzuhalten und sie dann ohne Fragen oder Fehler auszuführen. Keaton hasste es, ihn zu enttäuschen, und er wusste, die Neuigkeiten, die er heute Nacht überbringen musste, würden nicht gut aufgenommen werden.

Er stand von seinem Fernsehsessel auf und ließ sein halb gares Tiefkühlmenü unberührt auf dem Tablett stehen, um seinen Besucher zu begrüßen. Im Fernseher hinter ihm im Wohnzimmer schrillten Sirenen und knallten Schüsse, eine dieser Krimiserien, die er sich jede Woche ansah, aber jetzt konnte er sich nicht mehr erinnern, warum. So wie bei dem Hacksteak mit Kartoffelbrei, das er sich vor über einer Stunde zum Abendessen warm gemacht hatte, fand er kein Vergnügen mehr an all den Dingen, die er früher gemocht hatte.

Seit dem Vorfall in der Universität vor ein paar Nächten hatte er sich verändert.

Er war ein anderer Mann geworden.

Und der Grund für diese Veränderung stand jetzt in erwartungsvollem Schweigen vor ihm, in seinem Haus. Keatons grüßendes Nicken war so respektvoll wie eine Verbeugung.

»Ist der Mann, der sich um das Mädchen kümmern sollte, heute Abend planmäßig aufgetaucht?«

»Ja«, antwortete Keaton mit servil gesenktem Blick. »Alles war bereit, genau wie abgesprochen.«

»Also ist das Mädchen tot?«

»Nein«, antwortete Keaton, nervös geworden. Er riskierte einen Blick nach oben und begegnete dem scharfen Blick seines Meisters. »Sie lebt noch. Ich habe sie den Bahnhof verlassen sehen – mit einem Mann.«

Sein Meister machte wütend die Augen schmal, und tödliche Funken blitzten in ihnen auf. »Was für einem Mann?«

»Groß«, sagte Keaton. »Ein blonder Schlägertyp in einem schwarzen Ledertrenchcoat. Bewaffnet, aber kein Polizist oder sonstiger Beamter. Und er war nicht normalsterblich.«

Das wusste Keaton mit absoluter Gewissheit, nur einer seiner neuen Sinne, die er vor einigen Nächten bekommen hatte, als seine Augen sich für eine dunkle, verborgene neue Welt öffneten. Die Welt, die dieser Mann ihm zeigte, als er Keaton neu erschuf.

»Haben sie dich gesehen – das Mädchen und ihr Begleiter?«

Keaton schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Ich habe erkannt, was er war, und darauf geachtet, nicht von ihm bemerkt zu werden. Er ist einer Ihrer Spezies, Meister.«

Er bestätigte es mit einem Knurren, und das Feuer in seinen Raubtieraugen knisterte noch kälter. »Natürlich ist er einer meiner Spezies. Und noch schlimmer, er ist ein Ordenskrieger.« Dann sagte er, mehr zu sich selbst: »Ob er von mir weiß? Ist ihm klar, dass ich das Schwert habe, nach all dieser Zeit?«

Der scharfe Blick richtete sich jetzt wieder auf Keaton. »Du hast gesehen, wie sie zusammen den Bahnhof verließen. Wohin sind sie gegangen?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Keaton. Er dachte sich, dass er eigentlich Angst haben sollte, es zuzugeben, aber er stand unter dem Zwang, dem Mann, dem er jetzt gehörte, die Wahrheit zu sagen. »Ich habe das Mädchen mit ihrem Begleiter den Bahnhof verlassen sehen, aber dann sind sie verschwunden. Ich weiß nicht, wohin. Ich ging zu ihrer Wohnung in Allston und habe auf sie gewartet, aber sie sind nicht dort angekommen.«

Sein Meister knurrte wütend zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Ich muss dieses Mädchen finden, bevor sie dem Orden sagt, was sie weiß. Verdammt, es kann sogar schon zu spät sein.«

»Soll ich den Mann finden, den wir heute Abend zum Bahnhof geschickt haben, und ihn beauftragen, bei ihrer Wohnung auf sie zu warten?«, schlug Keaton vor, begierig, eine Lösung anzubieten.

Doch sein Meister winkte ab. »Diese Waffe ist jetzt nicht mehr von Nutzen. Gideon wird den Rogue mit Sicherheit getötet haben. Aber andererseits, vielleicht wirkt sich dieser Rückschlag doch zu meinem Vorteil aus.« Auf seinem alterslosen, faltenfreien Gesicht breitete sich ein böses Lächeln aus. »Zu denken, dass ich fast meine Stammesgefährtin getötet hätte, als sie so dumm war, etliche meiner persönlichen Sachen der Universität zu spenden. Sie wusste es natürlich nicht. Sie konnte es nicht wissen. Ich habe ihr nie von diesem Schwert erzählt oder davon, wie es in meinen Besitz gelangt ist.«

»Und jetzt haben Sie es wieder«, sagte Keaton. »Es freut mich, dass ich Ihnen dabei dienlich sein konnte, Ihren Besitz zurückzubekommen.«

Das Lachen, das ihm antwortete, war scharf und freudlos. »Wenn ich mich recht erinnere«, murmelte er, »habe ich dir auch gar keine Wahl gelassen, Keaton. Sobald du mit angesehen hast, was ich mit dieser Schlampe getan habe, die du in deinem Büro gefickt hast, bist du ziemlich schnell eingeknickt.«

Keaton spürte keine Reaktion auf die Erinnerung an seine Feigheit. Der ganze Vorfall betraf ihn nicht mehr, er war jetzt von allen Schwächen seines früheren Selbst befreit. Alles, was ihm jetzt noch etwas bedeutete, war, zu tun, was getan werden musste, was sein Meister ihm befahl.

»Ich werde dafür sorgen, dass die Aufgabe nach Ihren Wünschen ausgeführt wird, Sir. Savannah Dupree wird sterben.«

»Nein. Ich denke nicht.« Der Vampir, dem jetzt Keatons Leben, Verstand und seine ganze Seele gehörte, dachte einen Augenblick nach. »Ich habe einen besseren Plan. Such sie. Bring sie mir. Da sie dem Krieger Gideon offenbar so wichtig ist, kann sie mir helfen, eine Rechnung zu begleichen, die er vor Jahrhunderten begonnen hat.«

Nimm dir alles, was du willst.

Savannahs Liebesangebot dröhnte in Gideons Schläfen und in seinem Blut, noch Stunden, nachdem sie sich geliebt hatten. Er hatte sie vor einer kurzen Weile in gesättigtem Schlummer im Schlafzimmer zurückgelassen, während er in das Wohnzimmer des leeren alten Hauses hinausschlüpfte, um seine rastlose Energie mit etwas Training loszuwerden.

Mit nacktem Oberkörper, nur in seinen schwarzen Drillichhosen, führte er eine Serie schneller Kampfbewegungen mit dem langen Dolch aus seinem Waffengürtel aus. Er hielt seine Hände und seinen Körper in dringend benötigter Bewegung. Sein Kopf war immer noch voll von Erinnerungen an die Lust, die er mit Savannah erlebt hatte, welterschütternde Leidenschaft, die immer noch elektrisch durch seine Adern brannte. Auch andere Teile seiner Anatomie waren immer noch in Aufruhr.

Aber nach der unglaublichen Lust mit Savannah wuchsen jetzt seine Schuldgefühle darüber, ihr sein wahres Selbst verschwiegen zu haben, während sie sich ihm ganz geöffnet hatte.

Nimm dir alles, was du willst, Gideon.

»Scheiße«, murmelte er leise. Wenn sie nur wüsste, wie viel er von ihr wollte.

Er wirbelte auf einer nackten Ferse herum, um einem unsichtbaren Gegner einen gnadenlosen Streich zu versetzen. Sich selbst oder dem Rogue, der Savannah heute Abend angefallen hatte? Er war nicht sicher, wer heute Nacht der größere Schurke war.

Er musste ihr sagen, was er war. Es würde Savannahs Entscheidung sein, wie sie dann von ihm dachte, nachdem er ihr die Wahrheit gesagt hatte, die sie schon vor Stunden hätte hören müssen.

Von dem Moment an, als er erkannt hatte, dass die hübsche, unschuldige junge Studentin eine Stammesgefährtin war, keine Homo-sapiens-Normalsterbliche. Savannah verdiente so verdammt viel mehr, als er ihr bislang gegeben hatte.

Und wenn er ehrlich mit sich selbst war, verdiente sie mehr, als er jemals hoffen konnte, ihr geben zu können, als Gefährtin eines Stammesvampirs, der immer bis zum Hals in Blutvergießen und Versagen steckte. Ein Krieger, dessen ganze Zukunft dem Orden gewidmet war.

Er musste Savannah das alles und noch mehr erklären. Verdammt, er hatte es tun wollen, bevor die Dinge heute Nacht außer Kontrolle geraten waren. Er hatte sich zu sehr verstricken lassen, und jetzt saß er in einer Falle fest, die er selbst geschaffen hatte.

Jetzt würde es Zeit und Geduld brauchen, um das wieder in Ordnung zu bringen. Und Zeit allein mit Savannah war ein Luxus, den er nicht mehr lange haben würde.

Nach dem, was am Bahnhof passiert war, war es jetzt das Wichtigste, dass Savannah den ganzen umfassenden Schutz bekam, den das Vampirvolk ihr anzubieten hatte. Bevor die Gefahr, die ihr auf den Fersen war, ihr noch näher kam als heute Nacht.

So sehr Gideon es auch leugnen wollte, der Rogue am Bahnhof war kein Zufall. Er hatte ihr dort aufgelauert. Und das nicht aus Blutdurst oder aufgrund purer Gelegenheit. Gideon würde seinen Schwertarm verwetten, dass jemand den Blutsauger auf sie angesetzt hatte.

Höchstwahrscheinlich derselbe Jemand, der ihre Mitbewohnerin ermordet und ihren Professor schwer verletzt hatte. Derselbe Jemand, der jetzt offenbar das Schwert in seinem Besitz hatte, mit dem seine Brüder abgeschlachtet worden waren.

Er musste den Bastard finden und zur Strecke bringen.

Bevor Savannah noch weiter in die Schusslinie geriet.

Sie konnten nicht ewig hierbleiben. Wo immer sie hier auch waren. Tegan hatte dieses Haus noch nie zuvor erwähnt. Obwohl es der Krieger Gideon angeboten hatte, war ihm klar, dass es nur als Übergangslösung gemeint war. Ehrlich gesagt musste Gideon Savannah beipflichten, dass das Haus sich eher wie eine vernachlässigte Gruft anfühlte als wie ein Zuhause.

So sehr Gideon es auch zuzugeben hasste, musste sie zu einer passenderen, dauerhaften Zuflucht gebracht werden. Und wenn er nicht völlig den Verstand verloren hatte und sich Lucan Thornes Befehlen zum zweiten Mal in zwei Tagen widersetzen wollte, konnte er Savannah ja wohl nicht ins Hauptquartier bringen. Gideon konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie der unbeugsame Gen-Eins-Anführer des Ordens reagieren würde, wenn er ihm gegen alle Vorschriften des Ordens eine Zivilistin anschleppte.

Aber wenn sie als Gideons Stammesgefährtin dorthin ging?

Der Gedanke schlug in ihm ein wie eine Bombe. Nicht, weil es eine verrückte, schlechte Idee war. Sondern weil sie sich so gut und richtig für ihn anfühlte.

Savannah an seiner Seite, mit ihm verbunden für so gut wie die Ewigkeit.

Nimm dir alles, was du willst, Gideon.

Savannah, seine Stammesgefährtin.

Verdammt …

Der Gedanke öffnete eine heiße und tiefe Kluft in seiner Brust. Eine Sehnsucht. Eine so totale Sehnsucht, dass es ihm den Atem nahm.

Ach, Herrgott noch mal.

Das Allerletzte, was er jetzt brauchte, war, sich in Savannah zu verlieben.

Er fluchte heftig und führte in der Luft eine wilde Stichbewegung mit dem langen Dolch aus, mit dem er den Rogue getötet hatte, der Savannah angefallen hatte. Er wirbelte auf der nackten Ferse herum und machte einen weiteren Angriffsstoß, diesen an die Adresse des unbekannten Feindes, den er um jeden Preis enttarnen wollte – und dann würde dieser Stammesvampir dieselbe Stahlklinge schlucken, die schon seinen Rogue-Laufburschen getötet hatte.

In diesem Augenblick hörte Gideon eine leise Bewegung im angrenzenden Raum.

Savannah war aus dem Bett aufgestanden und kam langsam zur offenen Tür herüber. Sie starrte ihn an, wie er dastand, den langen Dolch in der Hand gepackt, mitten in der Bewegung eines Mannes erstarrt, der gleich einen Todesstoß ausführen würde.

»Savannah.«

Sie starrte ihn an, ihre großen braunen Augen immer noch verschlafen, ihr wunderschöner, schlanker Körper splitternackt. So wunderschön.

Gierig nahm Gideon ihren Anblick in sich auf, sein Puls beschleunigte sich in wilder Erregung.

Aber sie sah ihn nicht auf dieselbe Art an.

Sie schien irgendwie erschrocken. In stummem Schock erstarrt.

»Oh mein Gott«, murmelte sie nach einem Augenblick. Ihre Stimme war leise und atemlos, aber nicht von Schlaf oder Verlangen. Sie starrte ihn an mit einer Mischung aus Schock und Verletztheit, ihr hübsches Gesicht verwirrt. »Oh mein Gott … wusste ich’s doch, dass ich dich schon einmal irgendwo gesehen habe …«

»Savannah, was ist los?« Er legte die Klinge auf dem Kaminsims ab und ging auf sie zu.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und streckte die Hand aus, als wollte sie ihn daran hindern, ihr noch näher zu kommen. »Ich habe dich schon mal gesehen, Gideon. Als ich das alte Schwert berührt habe, musste ich mit ansehen, wie die beiden kleinen Jungen vor all den Jahren ermordet wurden … aber ich habe auch dich gesehen.«

Der Ausdruck der Angst in ihrem Gesicht ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. »Savannah …«

»Ich habe dich gesehen, genau so – mit einem Schwert in der Hand, genau so, wie du gerade dagestanden hast«, sagte sie und sprach über ihn hinweg. »Nur dass es nicht du warst. Das kannst nicht du gewesen sein.«

Er sagte nichts, konnte nicht entkräften, was sie sagte. Was sie mit ihrer Stammesgefährtinnengabe gesehen hatte.

»Ich meine, das kannst du doch nicht gewesen sein, nicht?«, drängte sie, jetzt mit einer Spur Verzweiflung in der Stimme. »Der Mann, den ich gesehen habe, muss inzwischen seit Jahrhunderten tot sein.«

»Ich kann das erklären«, sagte er lahm.

Er trat näher auf sie zu, aber sie zuckte vor ihm zurück. Sie verschränkte ihre Arme vor sich, als stünde sie jetzt nackt vor einem Fremden. »Du bist kein Mensch«, murmelte sie. »Du kannst keiner sein.«

Er fluchte leise. »Ich will nicht, dass du Angst vor mir hast, Savannah. Wenn du mich jetzt einfach nur anhören würdest –«

»Oh Gott.« Sie stieß ein scharfes Lachen aus. »Du streitest es nicht einmal ab?«

Er spürte, wie in seinem Kiefer eine Sehne zuckte. »Ich wollte dir alles erklären, aber nicht, solange du so durcheinander warst. Du hast heute Abend selbst gesagt, du willst nicht mehr hören.«

Sie stolperte einen Schritt zurück, schüttelte stumm den Kopf. Ihr starrer Blick war distanziert geworden, nach innen gerichtet. Er verlor sie. Sie zog sich vor ihm zurück wie vor jemandem, dem sie misstrauen und den sie fürchten musste. Vielleicht sogar beschimpfen. »Ich muss hier raus«, murmelte sie. »Ich muss nach Hause. Ich muss meine Schwester anrufen. Sie denkt, ich sitze im Nachtbus zu ihr, und ich …«

Dann drehte sie sich abrupt um und lief ins Schlafzimmer zurück. Sie machte eine hektische Runde durchs Zimmer und begann, ihre Kleider einzusammeln.

Gideon folgte ihr. »Savannah, davor kannst du nicht davonlaufen. Du steckst schon mittendrin. Wir beide.«

Stumm hob sie ihr Höschen vom Boden auf und zog es hastig an. Dabei erhaschte Gideon einen Blick auf das dunkle seidige Nest zwischen ihren Beinen, sah ihre langen, samtigen Schenkel und ihre zarte mokkabraune Haut.

Haut, die er jetzt am liebsten überall geküsst hätte, und zwar sofort.

Ohne etwas zu sagen oder ihn auch nur anzusehen, suchte sie sich weiter ihre Wäsche zusammen. Ihre straffen kleinen Brüste wippten, als sie sich den kleinen Spitzen-BH anzog.

Wieder meldete sich Gideons Erregung, zu mächtig, um sie zurückzuhalten. Er konnte seine rasche physische Reaktion auf ihren Anblick nicht zügeln, so hübsch und zerzaust wie sie war vom Sex mit ihm vor ein paar Stunden. Seine Glyphen begannen, sich mit Farbe zu füllen, sein Zahnfleisch prickelte, als seine Fänge sich ausfuhren.

Hastig packte sie ihren Pulli und ihre Jeans, drückte sie an sich und eilte mit gesenktem Kopf an ihm vorbei aus dem Schlafzimmer.

Er folgte ihr rasch, stapfte ihr nach.

»Savannah, du kannst jetzt nicht gehen. Ich kann dich jetzt nicht nach Hause lassen. Es ist zu spät.« Seine Stimme war rau, heiser von seinem Verlangen und dem wilden Drang, ihr jetzt die ganze Wahrheit zu sagen.

Er raste zu ihr hinüber, schneller, als sie wahrnehmen konnte, und legte ihr die Hand auf die Schulter, auf das kleine Stammesgefährtinnenmal auf ihrer makellosen Haut. »Verdammt, ignoriere mich nicht so. Hör mir zu.«

Sie wirbelte herum, die Augen weit aufgerissen. Seine eigenen Augen fühlten sich heiß in seinem Schädel an, sie mussten gerade wieder aussehen wie glühende Kohlen. Durch irgendein Wunder der Täuschung und durch verzweifelte Willenskraft hatte er bisher geschafft, seine Transformation vor ihr zu verbergen, aber jetzt schaffte er es nicht mehr. Er versuchte es noch nicht einmal.

»Oh mein Gott«, stöhnte sie, Angst in der Stimme. Sie wehrte sich gegen seinen Griff, drehte mit einem erstickten Entsetzensschrei den Kopf weg.

Gideon nahm ihr Kinn und zwang sie sanft, ihn wieder anzusehen. »Savannah, schau mich an. Sieh mich. Vertrau mir. Du hast gesagt, dass du mir vertraust.«

Ihre Augen wanderten langsam zu seinem offenen Mund und den Spitzen seiner Fänge, die sich jede Sekunde weiter ausfuhren. Nach einem langen Augenblick blickte sie wieder auf in seine glühenden Augen. »Du bist einer von ihnen. Du bist ein Monster, genau wie sie. Ein Rogue …«

»Nein«, sagte er fest. »Kein Rogue, Savannah. Aber ich bin ein Stammesvampir, wie sie. Wie sie es waren, bevor sie der Blutgier verfallen sind.«

»Ein Vampir«, stellte sie klar, vielleicht musste sie das Wort jetzt laut aussprechen. Dann senkte sie die Stimme zu einem Flüstern. »Bist du untot?«

»Nein.« Fast hätte er laut herausgelacht über diesen weit verbreiteten Irrtum, tat es aber nicht, weil der Gedanke ihr solche Angst einjagte. »Ich bin nicht untot, Savannah. Das ist der Punkt, wo sich bei meiner Spezies Mythos und Realität am meisten unterscheiden. Der Stamm hat außerirdische Ursprünge. Großer Unterschied.«

Jetzt starrte sie ihn mit offenem Mund an. Er ließ sich ausgiebig von ihr mustern, denn je länger er ruhig vor ihr stand, umso ruhiger schien auch sie zu werden. »Du hast von mir nichts zu befürchten«, sagte er zu ihr. Es war ein Versprechen, ein feierlicher Schwur. »Du brauchst nie Angst vor mir zu haben, Savannah …«

Sie schluckte schwer, ihr Blick flackerte nervös über jeden Zentimeter seines Gesichtes, seinen Mund, seine dermaglyphenbedeckte Brust und Schultern.

Als sie zögernd ihre Hand hob und sie wieder fallen ließ, nahm Gideon ihre Finger in einem losen Griff und hob sie sanft an seinen Mund. Er küsste ihre warme Handfläche, ohne sie seine scharfen Fänge spüren zu lassen, nur die weiche, warme Hitze seiner Lippen. Dann legte er ihre Hand auf seine Brust, auf den schweren Schlag seines Herzens. »Spürst du es, Savannah? Ich bin Fleisch, Blut und Knochen, genau wie du. Und ich werde dir nie etwas tun.«

Sie ließ ihre Hand dort liegen, auch noch, nachdem er seine weggezogen hatte. »Sag mir, wie das alles möglich ist«, murmelte sie. »Wie kann das alles real sein?«

Gideon strich ihr mit den Fingern über die Wange, dann hinunter über den Puls ihrer Halsschlagader, der wie ein Vogel im Käfig gegen seinen Daumenballen flatterte. »Zieh dich erst an«, sagte er sanft, mehr um seinetwillen. »Dann setz dich, und wir reden.«

Sie sah hinüber zu dem einzelnen Holzstuhl im Wohnzimmer von Tegans unwirtlichem Haus. Zu Gideons Erleichterung sah sie ihn jetzt nicht mit Angst oder Abscheu an, sondern mit der tiefen Weisheit und dem scharfen Verstand einer doppelt so alten Frau. »Muss ich jetzt etwa meinen eigenen Gefährlichen Stuhl riskieren?«

»Ich kenne keine, die würdiger wäre als du«, antwortete er.

Und wenn er nicht sowieso schon halb verliebt in sie wäre, dachte Gideon, dann wäre er es spätestens jetzt.