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Am nächsten Nachmittag war Savannah schon etwas früher im Institut für Kunstgeschichte. Sie hatte kaum erwarten können, ihr letztes Seminar des Tages hinter sich zu haben, und nahm den kürzesten Weg über den Campus, sobald die Einführung in die englische Literatur zu Ende war. Sie rannte die drei Stockwerke zum Archivraum vor dem Büro von Professor Keaton hinauf und sah aufgeregt, dass sie heute die Erste war. Sie warf ihre Büchertasche neben ihren Arbeitstisch und schlüpfte in den Lagerraum, in dem die Gegenstände aufbewahrt wurden, deren Inventarisierung für die Universitätsbestände noch bevorstand.

Das Schwert war noch genau dort, wo sie es am Vortag gelassen hatte, sie hatte es gestern sorgfältig in seine hölzerne Kiste in der Ecke des Raumes zurückgelegt.

Savannahs Puls beschleunigte sich, als sie eintrat und leise die Türe hinter sich schloss. Die wunderbare alte Waffe – und der mysteriöse goldhaarige Krieger, der sie einst mit tödlicher Effizienz geführt hatte – hatte seither all ihre Gedanken beherrscht. Sie wollte mehr wissen. Musste mehr wissen, mit einem Drang, der zu stark war, um gegen ihn anzukämpfen.

Sie versuchte, einen leisen Anflug von schlechtem Gewissen zu ignorieren, als sie an dem Behälter mit sauberen Schutzhandschuhen vorbeiging und sich mit bloßen Händen vor die Kiste mit dem Schwert kniete.

Vorsichtig nahm sie den länglichen Deckel ab. Der polierte Stahl glänzte. Gestern hatte Savannah keine Gelegenheit gehabt, sich seine handwerkliche Gestaltung anzusehen, nachdem es ihr so unerwartet in die Hände gefallen war.

Gestern war ihr nicht aufgefallen, dass auf dem geschmiedeten Stahlgriff das Bild eines Raubvogels eingraviert war, der zu einem brutalen Angriff herabstieß, sein grausamer Schnabel zu einem Schrei aufgerissen. Genauso wenig hatte sie den Schwertknauf beachtet, den ein blutroter Rubin bildete, eingefasst von grotesken Metallklauen. Als sie die Waffe jetzt betrachtete, lief ihr ein kaltes Frösteln die Arme hinauf.

Das war nicht das Schwert eines Helden.

Und doch konnte sie dem Drang nicht widerstehen, mehr über den Mann zu erfahren, der in ihrer kurzen Vision diese Waffe geschwungen hatte.

Savannah streckte die Finger aus und legte sie sanft auf das Schwert.

Die Vision kam sogar noch schneller als beim ersten Mal.

Nur war es dieses Mal ein anderer Augenblick aus der Vergangenheit der Waffe. Etwas Unerwartetes, aber auf andere Weise genauso faszinierend.

Zwei kleine Jungen – flachshaarige, eineiige Zwillinge – spielten im Licht einer Fackel in einem Stall mit dem Schwert. Sie waren höchstens zehn, gekleidet wie kleine Lords des siebzehnten Jahrhunderts, in weißen Leinenhemden, Reitstiefeln und dunkelblauen Kniehosen. Lachend hieben sie abwechselnd auf einen Strohballen ein, im Kampf gegen imaginäre Ungeheuer.

Bis etwas draußen vor dem Stall sie aufschreckte.

Angst erfüllte ihre jungen Gesichter. Sie sahen einander voll von panischem Entsetzen an. Der eine öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei – gerade als die Fackel an der Stallwand ausging.

Savannah zuckte von dem Schwert zurück. Sie ließ es los, erfüllt von einer abgrundtiefen Angst um diese beiden Kinder. Was war mit ihnen passiert?

Sie konnte nicht aufhören. Nicht jetzt.

Sie musste es wissen.

Ihre Finger zitterten, als sie sie wieder auf den kalten Stahl legte. Und sie brauchte nicht lange zu warten.

Das Fenster zur Vergangenheit öffnete sich ihr wie der Schlund eines Drachen, dunkel und zerklüftet, ein flammendurchtoster Abgrund.

Der Stall brannte. Flammen loderten die Boxen und Dachsparren hinauf und fraßen alles auf ihrem Weg. Die rauen Holzpfosten und der gelbe Strohballen waren rot von Blut. So viel Blut. Es war überall.

Und die Kinder …

Sie lagen reglos auf dem Stallboden, ihre Körper geschunden und brutal verstümmelt. Kaum noch erkennbar als die hübschen Jungen, die eben noch so fröhlich und sorglos gespielt hatten.

So lebendig gewesen waren.

Savannahs Herz zog sich eisig zusammen, als sich die schreckliche Vision vor ihr abspielte. Sie wollte wegschauen. Wollte die grauenvoll entstellten Überreste der beiden hübschen, unschuldigen Zwillinge nicht sehen.

Oh Gott. Der schreckliche Anblick drückte ihr die Luft ab.

Jemand hatte diese beiden süßen Kinder getötet, sie einfach abgeschlachtet.

Nein, kein Jemand, erkannte sie im nächsten Augenblick.

Etwas.

Die in einen Umhang gehüllte Gestalt, die das Schwert jetzt hielt, war gebaut wie ein Mensch – ein riesiger, breitschultriger Berg von einem Mann. Aber unter der schweren Wollkapuze seines Umhangs glühten bernsteinfarbene Augen aus einem monströsen Gesicht, das nichts Menschliches an sich hatte. Und er war nicht allein. Zwei weitere wie er, ebenfalls in schwere Kapuzenumhänge gekleidet, standen bei ihm, Mitschuldige dieses Gemetzels. Sie konnte ihre Gesichter nicht erkennen in den Schatten und dem Flackern der Flammen, die sich die Wände hinaufwanden und zu den Dachbalken des Stalls hinaufloderten.

Keine Menschen, beharrte ihr Verstand. Aber wenn sie keine Menschen waren, was waren sie dann?

Savannah versuchte, genauer hinzusehen, doch da begann das Bild der Kindermörder zu flackern und sich aufzulösen.

Nein. Schaut mich an, verdammt.

Lasst mich euch sehen.

Aber die Vision begann zu zersplittern, die Splitter zerbrachen in immer kleinere Scherben, die zerstoben, ihr aus den Händen glitten. Verzerrten, was sie sah.

Ihre Gabe, die sie nie ganz im Griff hatte, musste ihr einen Streich spielen.

Denn was sie in dieser Vision der Vergangenheit sah, konnte einfach nicht real sein.

Unter der Kapuze dessen, der das Schwert jetzt hielt, glühten bernsteingelbe Augen auf. Und in dem Augenblick, bevor das Bild völlig verschwand, hätte Savannah schwören können, dass sie das Aufblitzen rasiermesserscharfer weißer Zähne gesehen hatte.

Fänge.

Was zum …?

Eine Hand senkte sich auf ihre Schulter. Savannah erschrak fast zu Tode und schrie auf.

»Nur die Ruhe!«, lachte Rachel, als Savannah sich panisch umsah. »Krieg mir keinen Herzinfarkt, ich bin’s doch nur. Himmel, du siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

Savannahs Puls hämmerte, sie bekam kaum noch Luft. Sie hatte keine Stimme, um ihrer Mitbewohnerin zu antworten, konnte nur stumm zu ihr aufstarren. Rachels Blick fiel auf das Schwert. »Was machst du hier allein? Wo hast du das denn her?«

Savannah räusperte sich, jetzt, wo sie endlich wieder Luft bekam. Sie zog die Hände vom Schwert und versteckte sie, sodass Rachel nicht sehen konnte, wie sie zitterten. »Ich … das hab ich gestern gefunden.«

»Hat das Ding da etwa einen Rubin im Griff?«

Savannah zuckte mit den Schultern. »Schätze ja.«

»Echt? Ist ja Wahnsinn!« Sie beugte sich vor. »Lass mal sehen.«

Savannah hätte ihre Freundin fast gewarnt, vorsichtig zu sein, damit sie nicht sah, was sie eben mit angesehen hatte. Aber diese Gabe – heute ein Fluch – gehörte nur ihr allein.

Savannah sah zu, wie Rachel das Schwert in die Hand nahm und bewunderte. Nichts geschah. Sie hatte keine Ahnung von der schrecklichen Vergangenheit, die in der jahrhundertealten Waffe verborgen war.

»Rach … glaubst du an Monster?«

»Was?« Sie lachte laut heraus. »Wovon zur Hölle redest du?«

»Ach, nichts.« Savannah schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Ich hab nur Spaß gemacht.«

Rachel packte das Schwert mit beiden Händen, wirbelte auf dem Absatz herum und nahm eine dramatische Kampfpose ein. Ihre vielen dünnen Armreifen klirrten melodisch, als sie mit dem Schwert spielerische Stöße ausführte und parierte. »Wir sollten das Ding eigentlich nicht ohne Handschuhe anfassen. Gott, ist das schwer. Und alt.«

Savannah stand auf und rammte die Hände in die Taschen ihrer Jeans. »Mindestens zweihundert Jahre alt. Spätes 17. Jahrhundert, würde ich schätzen.« Sie schätzte nicht, sie wusste es mit Sicherheit.

»Ist das schön. Muss ein Vermögen wert sein.«

Savannah zuckte mit den Achseln und nickte leicht. »Ist es wohl.«

»Ich kann mich nicht erinnern, es auf der Inventarliste der Sammlung gesehen zu haben.« Rachel runzelte die Stirn. »Ich gehe es mal Bill zeigen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie er das übersehen konnte.«

»Bill?«

Rachel verdrehte die Augen. »Professor Keaton. Aber so kann ich ihn ja wohl nicht nennen, heute Abend bei unserem Date.«

Savannah wusste, dass ihr vor Überraschung der Mund aufstand, aber es war ihr egal. Außerdem war es nett, mal einen Augenblick an etwas anderes denken zu können. »Du gehst mit Professor Keaton aus?«

»Abendessen und dann ins Kino«, trällerte Rachel. »Er geht mit mir in diesen gruseligen neuen Film, der eben angelaufen ist. Das Kettensägen-Massaker.«

Savannah schnaubte. »Klingt ja schwer romantisch.«

Rachel lächelte kokett. »Oh, das wird es. Also warte heute Abend nicht auf mich. Wenn’s nach mir geht, komme ich heute spät nach Hause. Wenn überhaupt. Und jetzt gib mir doch die Kiste für dieses Ding, ja?«

Savannah gehorchte mit einem langsamen Kopfschütteln, als Rachel sich ein Paar Handschuhe überzog und die schreckliche Waffe sanft in ihre schmale Holzkiste zurücklegte. Das Mädchen warf Savannah noch ein verschmitztes Grinsen zu, drehte sich um und ging.

Als sie fort war, stieß Savannah einen unterdrückten Seufzer aus, erst jetzt erkannte sie, wie erschüttert sie war. Sie griff nach ihren eigenen Handschuhen und dem Notizbuch, das sie gestern im Regal gelassen hatte. Ihre Hände zitterten immer noch, und auch ihr Herz schlug noch immer heftig, flatterte in ihrer Brust wie ein Vogel im Käfig.

Sie hatte mit ihrer Gabe schon eine Menge unglaublicher Dinge gesehen, aber noch nie so etwas.

Nie etwas so Brutales und Schreckliches wie der bestialische Mord an diesen beiden Kindern.

Und nie etwas, das so völlig unwirklich schien wie die Bilder, die das Schwert ihr gezeigt hatte, von der Gruppe der Kreaturen, die einfach nicht existieren konnten. Weder damals noch jetzt.

Sie konnte den Mut nicht aufbringen, dem Gesehenen einen Namen zu geben, aber das kalte, düstere Wort dröhnte mit jedem panischen Schlag ihres Herzens durch ihre Adern.

Vampire.