Kapitel 1

Es gab ein Wort, das wirklich passte auf meine beste Freundin Bethany: hartnäckig. In einem Gedicht hätte ich sie vielleicht beharrlich oder unerbittlich genannt, denn solche Wörter beeindruckten Mrs Moody. Sie sagte dann immer, ich wäre eine begabte Lyrikerin, was mir natürlich sehr gefiel.

Aber egal, welches Wort es am besten beschreibt – Bethany ließ niemals locker. Diese Eigenschaft mochte ich von Anfang an besonders an ihr. Bethany hatte schon immer eine klare Vorstellung, wohin ihr Leben steuerte. Besser gesagt steuerte sie es selbst in die richtige Richtung und landete am Ende immer genau dort, wo sie hinwollte. In diesem Punkt waren wir sehr verschieden, und genau darum war ich so gern mit ihr zusammen. Wahrscheinlich hoffte ich, ihre Beharrlichkeit würde auf mich abfärben – eines schönen Tages würde auch ich mich mit einem klaren Ziel vor Augen hinters Lenkrad meines Lebens setzen.

Manchmal allerdings war es ziemlich schwer, mit Bethanys Hartnäckigkeit klarzukommen. Es kümmerte sie nicht, dass der Mittagsstress gerade erst nachließ und ich mich abmühte, einen Berg Tabletts sauber zu machen, der größer war als ich selbst. Ihr war auch egal, dass Georgia, meine Chefin, direkt neben mir stand. In Chucks mit offenen Schnürsenkeln und mit ihrer Monstertasche, die ihr beim Gehen in die Seite stieß, marschierte sie ins Bread Bowl und setzte sich an den schmutzigsten Tisch im ganzen Lokal.

»Ssst!«, zischte sie, zerrte einen Stapel Papier aus der Tasche und wedelte damit herum. Ich ignorierte sie und heftete meinen Blick auf das Tablett in meinen Händen. Also machte sie noch mal »Ssst!« und räusperte sich dann lautstark.

»Schau mal, da drüben ist anscheinend ein Malheur passiert«, sagte Georgia, zog ein Bündel Zwanzigdollarnoten aus der Kassenlade und schob sie mit einem lässigen Hüftschwung wieder zu. »Oder jemand hat’s im Hals, so klingt es jedenfalls.« Bethanys Hartnäckigkeit war auch für Georgia keine unbekannte Größe. Sie mochte Bethany und behauptete oft im Spaß, Bethany würde als erste weibliche Präsidentin Amerikas in die Geschichte eingehen.

Ich stellte das Tablett, an dem ich gerade herumwischte, auf den Stapel und ließ den feuchten Lappen auf die Theke fallen. »Dann geh ich wohl besser mal rüber und kümmer mich drum«, sagte ich.

»Ja, tu das«, murmelte Georgia und machte sich auf den Weg ins Büro. »Wenn das Mädel dahinten weiter so rumkrächzt, vertreibt sie uns noch die Kundschaft.« Über die Schulter gewandt fügte sie hinzu: »Bring ihr was zu trinken. Vielleicht hilft das gegen ihren trockenen Hals.«

»Du bist die Güte in Person, George!«, antwortete ich und schnappte mir einen Becher. Die Tische abzuwischen war der Teil meines Jobs, den ich am wenigsten mochte. Manche Leute hinterließen eine echte Sauerei. Aber bei Gelegenheiten wie diesen, wenn Bethany ins Lokal kam, war es ziemlich gut, mit Aufräumen dran zu sein. So konnten wir nebenbei miteinander reden, während ich zerfetzte Papierservietten und angeknabberte Sandwichreste einsammelte und mich bemühte, dabei möglichst geschäftig zu wirken.

»Sieh dir das an«, sagte Bethany, kaum dass ich ihr ein zuckerfreies Dr Pepper hingestellt hatte und ihren Tisch abzuwischen begann. Sie stieß mit dem Knie sacht an mein Bein. »Sogar mit Whirlpool!«

Ich richtete mich auf, nahm ihr den zusammengehefteten Papierstapel aus der Hand und warf einen Blick auf das oberste Blatt, auf dem ein unscharfes Foto von einem Zwölf-Personen-Jacuzzi zu erkennen war.

»Wow«, sagte ich, während ich überflog, was es in dem Hotel sonst noch alles gab – neben dem Whirlpool ein Hallenbad und einen Fitnessraum mit Kardiogeräten. Es wirkte wie der Gipfel des Glücks. Eines vollkommen überteuerten Glücks. »Wahnsinn. Aber das können wir uns nie im Leben leisten. Oder meinst du im Ernst, wir kriegen das hin?«

Ich blätterte weiter und begann zu lesen, was man in der Umgebung des Hotels alles unternehmen konnte. Am anderen Ende des Lokals räusperte sich Georgia leise, während sie die Take-away-Speisekarten neben der Kasse stapelte. Vielsagend richtete sie ihren Blick auf Dave, den Besitzer vom Bread Bowl, dem ein paar von den Küchenhilfen den wenig liebevollen Namen »Granit-Arsch« verpasst hatten. Dave war in letzter Zeit dauernd hier, was allen auf die Stimmung drückte. Für Begeisterungsausbrüche über Wellnesshotels war seine Anwesenheit keine gute Voraussetzung.

Ich schob die Ausdrucke wieder zu Bethany rüber und fuhr damit fort, zerknäulte Sandwichverpackungen aufzusammeln und in einen Becher zu stopfen.

»Ach, und guck mal da!« Bethany ignorierte meine Frage genauso wie Georgias überdeutlichen Warnlaut. »In der Lobby haben die einen riesigen Kamin. Garantiert gibt’s da auch heiße Schokolade und man kann den ganzen Tag rumsitzen und nach Promis Ausschau halten. Stell dir das mal vor, vielleicht wälzen wir uns am Ende noch knutschend mit einem Star im Schnee.« Atemlos vor lauter Enthusiasmus schlug sie mir mit dem Papierbündel auf die Schulter. Ein Teil von dem Müll, den ich eben in den Becher gestopft hatte, fiel wieder heraus und landete auf der Tischplatte. »Pass auf, wir kommen noch in die Klatschspalten!« Sie reckte die Arme in die Luft und malte sich die entsprechenden Schlagzeilen aus. »Mysteriöse Pisten-Schönheiten brechen Boy-Group-Herzen!«

Ich kicherte. »Wohl eher so: Mysteriöse Pisten-Trampel fahren Boygroup-Stars um und brechen ihnen alle Knochen.«

»Ich brech mir gerne was, wenn ich dabei auf einem süßen Jungen lande.«

»He, ich bin aber als Erste dran beim Knochenbrechen!«

»Nein, bist du nicht, das war schließlich meine Idee.«

Georgia räusperte sich wieder. Inzwischen hörte sie sich genau wie Bethany an. Dave stand jetzt mitten im Gastraum, die Hände in den Hüften, und musterte alles mit kritischem Blick. Ich konnte es absolut nicht brauchen, bei ihm in Ungnade zu fallen. Am liebsten war mir, wenn Dave so tat, als würde ich gar nicht existieren, was allermeistens der Fall war. In dieser Hinsicht ähnelte er meinem Vater. Ich war daran gewöhnt, dass die Männer um mich herum keine Notiz von mir nahmen. »Hör mal, können wir nachher weiterreden? Ich muss hier aufräumen.«

Bethany seufzte. »Immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit.«

»Jep. Und wenn ich gefeuert werde, kann ich nicht mitfahren und du musst die heiße Schokolade im Luxushotel alleine trinken.«

Bethany beäugte Dave und seufzte frustriert. »Klar, in Ordnung. Aber ruf mich nachher an. Ich will deine Meinung zu den Restaurants hören, die Zack und ich rausgesucht haben.«

Zack. Unser dritter bester Freund. Wenn ich ihn mit einem Wort beschreiben müsste, wäre es … Tja, Zack mit einem Wort zu beschreiben ist unmöglich. Zack war für uns wie ein großer Bruder, dessen Fürsorge uns manchmal gegen den Strich ging, oder wie ein einigermaßen unanständiger Onkel und ein nerviger kleiner Cousin, alles in einem. Außerdem war er der geborene Komiker und ein Musikgenie. Und dazu eben ein echt guter Freund. Ehrlich gesagt lag es wohl nur an Zack, dass Bethany und ich in der Schule nicht als uncoole Langeweiler galten, mit denen sich keiner abgeben wollte. Die Umweltschützerin und die Dichterin – beide gleich unsichtbar. Aber Zack zu übersehen war absolut unmöglich. Alle fanden ihn großartig. Doch wir waren nun mal seine größten Fans und kannten ihn schon seit Ewigkeiten, also färbte sein Ruhm auch auf uns ab. Wenn ich ein Gedicht über Zack schreiben würde, käme auf jeden Fall das Wort lebenslustig darin vor.

Bethany stand auf und warf ihren leeren Becher in den Abfall, bevor sie ihre Sachen einpackte. Mir war klar, dass sie jetzt nach Hause gehen und sich mit ihrem Laptop auf dem Sofa herumlümmeln würde, um bis zu meinem Anruf jeden einzelnen Restauranteintrag für ganz Colorado durchzugehen.

»Oh!« Sie schnippte mit den Fingern. »Beinahe hätt ich’s vergessen. Rat mal, was für eine Idee Zack hatte.«

»Woher soll ich das wissen?«, fragte ich, drückte das letzte bisschen Müll, das noch auf dem Tisch lag, in den Becher und stellte Salz- und Pfefferstreuer wieder ordentlich hin. Bethany zupfte einen Faden vom Saum ihres T-Shirts.

»Tattoos«, sagte sie.

»Tattoos?«, wiederholte ich.

Sie nickte und biss sich lächelnd auf die Lippe. »Ja, er findet, wir sollen uns alle die gleichen Tattoos machen lassen, wenn wir dort sind. Einen Berg vielleicht … oder, keine Ahnung … irgendwas, das sexy ist.«

»Du weißt schon, was Zack unter ›sexy‹ versteht, oder?« Ich malte mir aus, wie wir aus Colorado zurückkommen würden – alle drei mit halb nackten Busenwundern in High Heels auf dem Oberarm, die uns bis in alle Ewigkeit erhalten bleiben würden.

Ich nahm den Becher und steuerte den entlegensten Abfalleimer an – den beim Eingang. Bethany packte ich dabei unauffällig am Ärmel und zog sie mit.

»Na ja, stimmt, aber …« Sie hielt inne, als ich mich vorbeugte, um den Müll wegzuwerfen. »Keine Ahnung. Könnte doch Spaß machen.«

»Und wehtun«, erinnerte ich sie. »Außerdem wär’s für immer.«

»Aber es könnte Spaß machen«, wiederholte sie.

Daves Stimme dröhnte durchs Lokal. Er motzte irgendwen in der Küche an, was mich daran erinnerte, dass ich dringend weiterarbeiten musste, bevor er über mich in Wut geriet.

»Ich ruf dich an«, sagte ich. »Wir reden nachher weiter.«

Bethany kramte nach ihren Autoschlüsseln. »Ich verlass mich drauf«, sagte sie und ging durch die Glastür.

Kurz berührte ich meine Halskette, dann huschte ich zurück hinter die Theke. Während ich mit den Tabletts weitermachte, träumte ich ein bisschen von Colorado.

Bethany, Zack und ich hatten beschlossen, dort hinzufahren, als wir gerade mal acht Jahre alt waren. Zacks Mutter nannte uns damals noch »das Katastrophen-Trio«. Anfangs war es meine Idee gewesen. Ich wollte an den Ort, zu dem meine Mutter vor ihrem Tod aufgebrochen war – wollte in Erfahrung bringen, was sie damals so wichtig gefunden hatte, dass sie bereit war, dafür ihre Familie zu verlassen, denn genau das hatte sie getan.

Aber ziemlich bald hatten Bethany und Zack mitfahren wollen. Zum Teil, weil sie meine besten Freunde waren und wussten, wie wichtig mir das Ganze war. Doch hauptsächlich eher deshalb, weil die Reise bestimmt Spaß machen würde. Nach Colorado zu fahren kam uns irgendwie cool vor, es klang wie etwas, das Leute in Filmen machten. Ein Roadmovie über drei Freunde, die quer durchs Land unterwegs sind, um einem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Das schrie doch nach einem Spielfilm, oder?

Wir hatten beschlossen, uns die Colorado-Reise selbst zum Highschool-Abschluss zu schenken, und schon bevor unser letztes Schuljahr angebrochen war, hatte Bethany wie wild zu planen begonnen. Sie redete über nichts anderes mehr und hatte sogar einen festen Urlaubsplanungs-Tag eingeführt: Wir trafen uns jeden Samstag (Bethanys Idee), um Einzelheiten durchzusprechen, immer abwechselnd bei ihr, bei mir oder bei Zack zu Hause (meine Idee). Dazu gehörten Pizza und Videospiele und jede Menge mieser Witze über die verschiedensten weiblichen Körperregionen (Zacks Idee). Wir hatten uns zwar den ganzen Sommer über regelmäßig getroffen, in der Zeit aber nicht sonderlich viel auf die Reihe gebracht. Unser Ergebnis bestand darin, ungefähr fünfzehn riesige Peperoni-Pizzen verdrückt zu haben und bei einem Zombie-Spiel, das Zack zum Geburtstag gekriegt hatte, bis aufs neunte Level gekommen zu sein.

Und wenn ich ehrlich sein soll, interessierten mich Whirlpools, Skiklamotten und Restaurants überhaupt nicht. Mir ging es um Mom und was mit ihr passiert war. Dad schien das alles egal zu sein. Als ich ihm nach unserem ersten Samstagstreffen erzählt hatte, dass ich nach Colorado wollte, wenn ich mit der Schule fertig war, hatte er nur irgendwas vor sich hin gemurmelt und nicht mal von der Zeitung aufgeschaut, die er beim Frühstück immer las.

»Ich will wegen Mom dorthin«, hatte ich von der Küchentür aus ergänzt, wie meistens mit dem Blick auf seinen Rücken.

»Was hat denn deine Mutter damit zu tun?«, hatte er gefragt.

»Weiß ich nicht«, sagte ich. »Darum will ich ja hin.« Ich machte ein paar Schritte in seine Richtung, blieb stehen und verschränkte die Arme. Irgendwie wirkte es hier im Haus immer einsam, wenn Dad da war. Einsam und kalt. »Ich wüsste gern, warum sie wegwollte. Was fand sie denn so toll an Colorado?«

Abrupt stand er auf, faltete mit einer Hand die Zeitung zusammen und nahm den Kaffeebecher in die andere. »Wenn du fahren willst, dann fahr. Aber wir haben kein Geld übrig dafür. Die Studiengebühren für deine Schwester, ohne ein zweites Gehalt …«, begann er und stellte den Becher in die Spüle. Er ließ den Satz unbeendet in der Luft hängen, und bevor ich ihn noch irgendwas fragen konnte, war er schon zur Tür hinaus.

Seit dem Tod meiner Mutter sprach Dad nur noch in unfertigen Sätzen – besonders, wenn es um sie ging. »Du musst doch wissen, was Mom davon …« oder »Deine Mutter hätte so ein Benehmen …« oder »Wenn deine Mutter doch nur …« Er sah traurig und verzagt aus, wenn er so was sagte.

Es war das große Geheimnis meines Lebens: Meine Mutter. Mein Vater. Was zwischen ihnen passiert war und warum wir nie darüber redeten. Manchmal kam es mir vor, als wäre ich die Einzige in der Familie, der das überhaupt wichtig war.

Nur ein Mal hatte ich Dad wirklich über unsere Mutter sprechen hören. Damals war ich acht. Bei einem Straßenfest hatte er ein ganzes Sechserpack Bier getrunken und sich später zu Hause mit einer Schuhschachtel voller alter Fotos an den Küchentisch gesetzt. An diesem Abend hatte er gesagt, Mom wäre »verrückter als Gänsemist« gewesen, was auch immer das bedeuten sollte.

Meine kleine Schwester Celia und ich hatten nervös gekichert, als er das sagte. Wir wussten nicht, ob das eine Art Witz sein sollte, und stellten uns unsere Mutter als einen weißen, schmierigen Klecks vor, der auf der Windschutzscheibe eines Autos oder auf einem Zaunpfosten klebte, einen Klecks mit Augen, die herumrollen vor lauter Irrsinn. Wir beide erinnerten uns nicht an unsere Mutter. Wir waren noch zu klein gewesen, als sie fortging.

Aber Shannin, unsere ältere Schwester, war da gewesen, als Mom verschwand, und sie lachte nicht.

Dad war aufgestanden, hatte die Schuhschachtel genommen und sie in den Müll geworfen, dabei hatte er unentwegt vor sich hin gebrabbelt und sich einen alten Trottel genannt. Doch als er verschwunden war, holte ich die Schuhschachtel wieder raus, trug sie hoch in mein Zimmer und versteckte sie unter meinem Bett. Keine Ahnung, warum ich das machte, aber diese Schachtel vor dem Wegwerfen zu bewahren war mir vorgekommen wie etwas, das ich unbedingt tun musste.

Später an diesem Abend, als wir allein waren, hatte uns Shannin die echte und wahre Geschichte erzählt. Wie sie eines Nachts von lautem Telefonklingeln wach geworden war. Wie sie aus ihrem Zimmer in den Flur getappt war, damit sie um die Ecke gucken konnte, und wie sie sich auf den Boden gesetzt und ihr Nachthemd über die Knie gezogen hatte. Wie das Telefon dann noch mal geklingelt hatte und wie Dad mit aufgewühlter Stimme drangegangen war.

»Diesmal ist sie komplett durchgedreht, Jules«, hatte Dad gesagt. »Ich weiß nicht. Ich hab nicht die geringste Ahnung, wo sie hin ist.«

Shannin erzählte uns, dass genau in dem Moment, in dem Dad aufgelegt hatte, die Haustür aufgeflogen und Mom hereingestürmt sei. Sie hatte gesagt, sie wolle nach Colorado – in die Berge. Dad hatte sie am Ellbogen gepackt und gemeint, sie sei doch betrunken. Er hatte sie angebettelt zu bleiben, er würde schon jemanden finden, der ihr helfen könnte. Doch Mom hatte nur erwidert, sie hätte schon jemanden, der ihr helfe, aber nicht in der Art, wie Dad sich das vorstelle.

Und später, als Mom weg war und Dad in der Küche saß und der Geruch nach Kaffee durchs Haus zog, hatte sich Shannin wieder ins Bett gelegt. Erst am nächsten Morgen hatte sie erfahren, dass, während sie schlief, die Polizei mit der Nachricht von Moms Tod gekommen war. Mom war mit dem Auto gegen einen Laternenmast geprallt und gestorben. Einfach so.

»Ihr Gehirn ist auf die Straße gespritzt«, hatte Shannin geflüstert. Celia und ich hockten im Schneidersitz auf ihrem Bett und hielten uns zitternd an den Händen. »Das hat Dad Tante Jules bei der Beerdigung erzählt. Moms Gehirn war überall auf dem Asphalt verteilt. Die Straße war gesperrt, bis jemand mit einem Wasserschlauch gekommen ist und alles weggemacht hat. Tante Jules hat Dad die Schulter getätschelt und gesagt, Dad hätte Mom doch so geliebt und es wäre nicht richtig, dass er sich so was anhören muss. Da hat Dad angefangen zu weinen und gesagt: ›Stimmt, aber jetzt krieg ich’s einfach nicht mehr aus dem Kopf.‹«

Nachdem Shannin uns das alles erzählt hatte, lief ich zurück in mein Zimmer und schloss die Tür ab. Ich zog die Schachtel mit den Fotos von meinen Eltern heraus, kippte sie auf mein Bett und blätterte sie durch, mit Bedacht und so geheimnistuerisch, als wäre es verboten, sie anzuschauen.

Stundenlang starrte ich diese Bilder an. Ich betrachtete Mom, die so froh und schlank und strahlend aussah, und versuchte, sie mir betrunken und verrückt vorzustellen, wie ich es von Shannin gehört hatte. Für mich passte das nicht zusammen.

Es gab Dutzende von Fotos. Eins von Moms Schulabschluss. Zwei von einem Geburtstagsfest. Eins von ihrem Hochzeitstag.

Es gab Bilder, die ich mir besonders gerne ansah. Ein Foto von den beiden auf einer Party. Dad saß auf einem Klappstuhl und hatte Mom auf dem Schoß. Ihre Haare waren kurz geschnitten und sie trug eine Weste über einem Button-down-Hemd. Seine Hände lagen auf ihrem Bauch, mit verschränkten Fingern. Ihre Hände lagen auf seinen und sie strahlte vor Glück.

Auf einem andern Bild saßen die beiden im Schatten zwischen zwei Bäumen auf moosigem Grund. Sie waren barfuß und hockten sich im Schneidersitz gegenüber. Ihre Knie berührten sich, die Gesichter lagen im Schatten. Es kam mir so vor, als würden sie sich gerade Geheimnisse erzählen.

Und dann war da noch das Foto, auf dem Dad und Mom in der Küche von Oma Belle standen und sich wild küssten. Sie lehnte sich weit zurück und ließ die Arme an ihrer Seite runterbaumeln. Hinten auf dem Foto stand: Tag der Rückkehr. Endlich wieder zusammen!

Jedes Bild erzählte eine Geschichte. Aber es war eine Geschichte ohne richtiges Ende, denn Mom war weggegangen und Dad hatte uns nie gesagt, warum. Das Ende, das wir kannten, passte einfach nicht zu den Fotos.

Die Mom auf den Bildern sah so sanft und zärtlich aus. Die Mom, die uns verlassen hatte, musste ein vollkommen anderer Mensch gewesen sein.

Als ich noch klein war, hatte ich Dad nach all diesen Dingen gefragt. Warum wollte Mom nach Colorado? Wir kannten dort doch keinen und waren nie da gewesen. Aber Dad hatte als Antwort bloß irgendwas vor sich hin gebrummelt. Mom sei nicht ganz bei Trost gewesen, sie hätte keine Ahnung gehabt, was sie tut. Einmal hatte er gesagt, Moms »gottverdammte Gutgläubigkeit« hätte ihr schon immer geschadet. Allerdings merkte ich gleich, dass er mir nicht die ganze Geschichte erzählte. Für Mom war es um etwas gegangen in Colorado. Irgendwas dort war ihr wichtig gewesen. Am liebsten hätte ich ihn angeschrien: Du hast das doch gehört mit ihrem Gehirn auf der Straße, Dad, und du hast gesagt, du kriegst es nicht mehr aus dem Kopf. Trotzdem hast du’s jetzt vergessen!

Schließlich sagte Shannin, ich müsste aufhören, Dad dauernd solche Fragen zu stellen, weil es zu schwer für ihn war, an Mom zu denken. Also ließ ich es bleiben. Aber ich konnte die Geschichte einfach nicht vergessen. Sie verfolgte mich. Bis in den Schlaf.

In diesem Jahr bekam ich Albträume. Ich träumte immer das Gleiche. Dad, der seine Schreie mit einem Kissen erstickte, Mom, die oben auf einem Berg stand und schrill lachte, mit einem weichen, sanften Gesicht und wehenden Haaren. In dem Traum ließ sie mich über die felsige Bergkante baumeln.

»Dieser Berg gehört mir«, sagte sie, Rauchwolken stiegen ihr dabei aus dem Mund. »Ich will dich nicht hierhaben. Ich will dich überhaupt nicht, Alexandra.«

Sie lachte nur, während ich strampelte und um mich trat und sie anbettelte, mich in Ruhe zu lassen.

»Herrje, Alexandra«, frotzelte sie. »Mach nicht so ein Theater. Überleg mal, die müssen die Straße sperren, bis jemand mit einem Wasserschlauch kommt und dein Gehirn vom Asphalt spritzt. Ist das nicht aufregend?«

Und wenn sie dann ihren Griff löste und mich fallen ließ, wachte ich jedes Mal auf.

Es war so schlimm, dass ich mich am Ende weigerte, abends ins Bett zu gehen. Daraufhin schleppte mich Dad zu einem Therapeuten, der irgendwelches Zeug redete, das ich nicht verstand, über »Trauerarbeit« und »Bewältigung«. Er schlug Dad vor, mir etwas zu geben, das meiner Mutter gehört hatte, damit ich mich ihr näher fühlen würde.

An diesem Abend kam Dad in mein Zimmer, mit einem gefalteten gelben Briefumschlag, den er fest umklammert hielt. Er räusperte sich und sagte: »Alex, Liebling, ich weiß, wie schwer du es hast ohne deine, mhm …« Tränen stiegen ihm in die Augen, er musste schlucken und konnte nicht weitersprechen. Dann drückte er mir den Umschlag in die Hände. »Das hier hat deiner Mutter gehört. Ich hab es ihr geschenkt, in den Flitterwochen. Sie hatte es in ihrer Handtasche an dem Tag, als sie …«

Ich drückte den Umschlag an mich und sah, wie Dad immer wieder schluckte. Einen Satz zu Ende zu bringen, in dem es um meine Mutter ging, war anscheinend unmöglich für ihn. Er nickte mir zu und ich machte den Umschlag auf. Es war eine Halskette darin – ein dünner Lederriemen mit einem kleinen Silberreif, in den mit einem seidig glänzenden, beinahe durchsichtigen Faden eine Art Netz gewebt war. Winzige Perlen, die wie Tupfen wirkten, schmückten das zarte Gespinst, und untendran hingen zwei weiße Federn, so klein, dass sie aussahen wie vom Schwanz eines Kolibris. Vorsichtig stupste ich die Perlen mit dem Finger an.

»Das nennt man Traumfänger«, sagte er. »Soll vor schlechten Träumen schützen.«

Er nahm die Kette und ließ den Anhänger hin und her baumeln, damit die Lederschnur sich aushängte, dann legte er sie mir behutsam um den Hals. Sie roch seltsam vertraut – wie nach einem Parfüm und irgendwie auch nach Erinnerungen. Instinktiv griffen meine Finger danach.

Und genau in diesem Moment, im Alter von acht Jahren, begriff ich es. So sicher, wie ich wusste, dass ich die Traumfängerkette nie mehr im Leben ablegen würde, wusste ich auch, dass ich eines Tages nach Colorado fahren würde – dorthin, wo Mom hingewollt hatte.

Trotzdem hatte der Therapeut unrecht gehabt. Die Halskette brachte mich nicht dazu, meine Trauer zu bewältigen und mit ihr abzuschließen. Weil ich so wenig über meine Mutter wusste, fühlte ich mich, als würde ein Stück von mir fehlen. Ich musste es schaffen, dieses Loch zu füllen, sonst würde ich genau wie Dad eines Tages einfach kaputtgehen. An dem Ort in meinem Innern, wo meine Mutter hätte sein sollen, war eine große Leere, und wenn ich nichts gegen diese Leere unternahm, würde ich irgendwann genauso hohl und dumpf werden wie er. Ich hatte Angst, dass am Ende auch ich ihr Gehirn auf dem Asphalt vergessen würde, so wie er es vergessen hatte.

Am Tag darauf, als wir auf dem Holzhaufen hinter Bethanys Haus spielten, zeigte ich Zack und Bethany die Halskette und erzählte ihnen alles. Meine Mutter war nicht einfach nur weg und mein Vater war nicht einfach nur still. Ich erzählte ihnen von den Fotos und wie Mom verrückt geworden war, wie sie gestorben war auf dem Weg in die Berge und wie ich mir vorgenommen hatte, dorthin zu fahren, wo sie hingewollt hatte. Und das war der Anfang unserer Colorado-Pläne.

Ich musste ein Gefühl dafür bekommen, dass Mom irgendwo hingegangen war, dass sie ein Ziel vor Augen gehabt hatte und nicht einfach nur von uns wegwollte. Von mir wegwollte. Meine Mom hatte mich geliebt. Ich wollte sicher sein, dass sie mich geliebt hatte.

Wenn Tante Jules oder die Mutter von Bethany oder irgendwer sonst mir einzureden versuchte, meine Mutter sei jetzt ein Engel und gebe vom Himmel aus auf mich acht, konnte ich mir das nie vorstellen.

Für mich war meine Mom in den Bergen und wartete dort auf mich.