Als kleines Mädchen hatte ich mir andauernd die Fotos von Mom und Dad angeschaut. Nachdem ich sie aus dem Müll gerettet hatte, versteckte ich sie in einer Schuhschachtel unter meinem Bett, und immer, wenn ich traurig war oder mich einsam fühlte, hatte ich die Fotos herausgeholt und sie so lange angestarrt, bis ich jedes noch so kleine Detail verinnerlicht hatte.
Ich erzählte mir Geschichten über sie. Sprach in ihnen mit Mom. Sagte ihr, dass sie schön war. Malte mir aus, wie das nächste Bild ausgesehen hätte, wenn der Fotograf noch eine Aufnahme gemacht hätte und dann gleich noch eine. Auf diese Art wurden die Bilder lebendig für mich, fast wie im Film.
Ich hatte meine Lieblingsbilder – das, auf dem die beiden mit überkreuzten Beinen und sich berührenden Knien vor einem Baum saßen und nur als Silhouette zu sehen waren; das, auf dem Moms Freundinnen ihre Arme in entgegengesetzte Richtungen zogen und sie so strahlend lächelte; und all die Fotos, auf denen Dad seine Liebe zu ihr ins Gesicht geschrieben stand. Eine Liebe, die ihn verzehrte.
Manchmal kniete ich neben meinem Bett und legte die Fotos alle so aneinander, dass die Reihenfolge stimmte, zumindest in meiner Vorstellung. Erst das mit den beiden auf den Betonstufen, auf dem Dad dieses kitschige Hawaiihemd trug. Bis hin zu dem, auf dem sie Achterbahn fahren und Mom so leidend guckt, als müsste sie sich gleich übergeben.
Ich wollte eine perfekte Ordnung herstellen. Hielt das Hochzeitsbild in der Hand – warum gab es eigentlich nur ein einziges? – und suchte den Platz, auf den es gehörte. Es kam mir vor, als könnte ich noch mehr Fotos herbeizaubern, wenn ich nur die passende Reihenfolge fand: Fotos von Dingen, die sich nie hatten ereignen können, weil Mom nicht mehr da war. Weihnachtsfeste und Geburtstage und Hochzeiten und Geburten. Oder vielleicht, ach, keine Ahnung … einfach irgendwas. Irgendwas, das zeigte, wie wichtig ihr dieses gemeinsame Leben gewesen war. Nicht nur das, was in Colorado auf Mom gewartet haben mochte, sondern ihr Leben hier.
Mit mir.
Mein Leben.
Was hätte ich gegeben für ein einziges Foto, auf dem Mom mich in den Armen hielt oder neben mir stand oder mit mir spielte und dabei glücklich aussah.
Nach dem Streit mit Bethany und Zack schloss ich meine Zimmertür und kniete mich neben das Bett. Ich wühlte hinter Büchern und alten Farbkästen aus der Grundschule herum, bis meine Hände die vertraute Schachtel ertasteten. Ich zog sie heraus und setzte mich aufs Bett, mit der Schachtel auf dem Schoß.
Es war so lange her. Würden ihre Gesichter für mich immer noch genauso aussehen wie damals? Oder würde ich, wenn ich den Karton aufmachte, nur feststellen, dass Mom niemals glücklich gewirkt hatte? Sondern immer nur so, als säße sie gegen ihren Willen in einer Achterbahn und wünschte sich nichts sehnlicher, als auszusteigen.
Zögernd nahm ich den Deckel ab. Mein Atem stockte. Da waren sie. Genau wie in meiner Erinnerung. Schau. Mom lächelt. Schau. Sie haben Händchen gehalten. Schau. Sie waren glücklich gewesen, und erst als nach und nach Shannin, Celia und ich auftauchten, bekam Mom diesen abwesenden Blick. Erst als wir auf die Welt kamen, begann sie von Colorado zu träumen.
Mit zitternden Händen zog ich ein Foto hervor. Ich erinnerte mich daran, natürlich erinnerte ich mich. Mom stand am Straßenrand, eine Bauchtasche um die Hüften. Sie grinste albern und hielt sich eine Blume so über den Kopf, dass es aussah, als würde sie dort herauswachsen. Ich wusste noch alle möglichen Details über dieses Foto. Aber was mir früher nie aufgefallen war, das war der Hintergrund. Blauschwarz, von Dunst verhüllt, gigantisch. Ein Berg.
Ich beugte mich mit angestrengtem Blick dicht über das Bild, um irgendeinen Hinweis zu finden. Wo war es aufgenommen worden? Wo, Mom? Wohin warst du unterwegs? Du und dein Freund, der spirituelle Heiler?
Ich würde es niemals erfahren. Jetzt nicht mehr, wegen Bethany und Zack. Vielleicht auch wegen Cole oder, verdammt noch mal, wahrscheinlich einfach wegen mir selbst. Ich würde es nie herausfinden.
Ich kramte in der Schachtel herum, zog wahllos einzelne Fotos heraus, starrte sie an und ließ sie wieder hineinfallen, nur um gleich darauf weiterzuwühlen.
Ich merkte gar nicht, dass ich weinte, bis Celia hereingestürmt kam.
Ich zuckte zusammen und versteckte schnell die Schachtel vor ihr. Obwohl jetzt schon so viel Zeit vergangen war, wollte ich immer noch, dass das Leben in der Fotoschachtel ganz allein mir gehörte. Celia und Shannin hatten es nicht verdient. Ich schob den Karton erst neben meine Hüfte, dann ließ ich ihn zwischen Bett und Wand nach unten gleiten.
»Was willst du?«, fragte ich und fuhr mir mit dem T-Shirt übers Gesicht.
»Zack hat mir erzählt, was bei ihm zu Hause passiert ist«, sagte sie.
»Schön für dich. Und jetzt raus hier«, sagte ich und dachte: Er hat echt keine Zeit verloren. Am besten lässt er ein Werbeplakat drucken, dann wissen es alle noch schneller.
»Also fährst du jetzt nicht nach Colorado«, stellte sie fest. »Zumindest nicht mit den beiden.«
»Nein«, sagte ich, nahm eine Zeitschrift von meinem Nachttisch und blätterte darin, um möglichst gleichgültig zu wirken. Ein zusammengefalteter Zettel fiel auf den Boden. Ich hob ihn auf und verbarg ihn in meiner Hand. »Du kannst jetzt gehen.«
»Mhm, hast du nicht was vergessen?«, sagte sie. Mit den Händen in den Hüften baute sie sich auf dem kleinen Teppich mitten in meinem Zimmer auf.
»Nein«, sagte ich wieder. »Tschüss.«
»Doch«, entgegnete sie und nickte wild. »Den Kuchen. Du hast Dads Geburtstagskuchen vergessen.«
Ich schlug mir gegen die Stirn. Der Kuchen! Na klar. Morgen war die Party und ich hatte den Kuchen vollkommen vergessen.
»Die Omas wollten ihn abholen«, fuhr sie fort und ihre Stimme triefte vor Gemeinheit. »Aber sie haben festgestellt, dass du dir nicht mal die Mühe gemacht hast, ihn zu ordern.«
»O Mann«, seufzte ich. »Ich hab’s vergessen. Es tut mir so leid.« Ich fühlte mich schuldig. Wenn Dads Geburtstagsparty jetzt ruiniert war, lag auch das nur an mir. Anscheinend konnte ich überhaupt nichts richtig machen. Ich hatte meine Schwestern im Stich gelassen, meine Freunde enttäuscht, meinen Dad, alle.
Aber Celia hatte eine unüberbietbare Gelegenheit gefunden, mich fertigzumachen, und die würde sie nicht ungenutzt vorübergehen lassen. »Wie kann das sein? Wie schafft man es überhaupt, so was zu vergessen? Du hast monatelang Zeit gehabt und ich hab dich erinnert, millionenmal. Herrgott, Alex, ich fass es einfach nicht.«
»Ich hab doch gesagt, dass es mir leidtut«, sagte ich. »Ich bestell ihn heute. Ich bezahl auch den Eilaufschlag oder so. Davon geht die Welt nicht unter, Celia.«
»Die Omas haben sich schon drum gekümmert. Shannin ist total angepisst, nur dass du’s weißt.«
Ich verdrehte die Augen und schlug mit einem lauten Klatschen die Zeitschrift zu. »Klar ist sie das. Weil im Moment nämlich jeder auf der Welt sauer auf mich ist. Das ist mir egal, hörst du? Ich hab meine eigenen Probleme. Warum trommelst du nicht Shannin und Zack und Bethany und alle andern zusammen zu einer Wir-hassen-Alex-Party? Und jetzt … hau ab!«
Ich sprang vom Bett auf und schnappte mir meine Hose für die Arbeit, die auf dem Boden lag. Dann hastete ich zur Kommode und riss ein Hemd heraus, schäumend vor Wut.
Celia sagte nichts, während ich in der Kommode nach frischer Unterwäsche kramte. Erst als ich ins Bad ging, um mich für die Arbeit bereit zu machen, kam sie mir hinterher und fragte: »Willst du ihn wirklich heiraten, Alex?«
Ich wandte mich zu ihr. »Hat Zack das gesagt?«
Sie nickte. Sie stand immer noch in der gleichen Ich-bin-superwütend-Pose da wie eben, aber ihre Augen waren groß und feucht geworden. Obwohl sie auf die Highschool ging, wirkte sie auf einmal wie ein kleines Kind. »Er hat mir auch ein paar andere Sachen über Cole erzählt. Ist das wahr? Er tut dir weh?«
Eine Million Bilder und Gedanken und Erinnerungen jagten mir auf einmal durch den Kopf und fegten mich beinahe von den Füßen.
Am Ende zuckte ich mit den Achseln. »Ich weiß nicht, was ich tun werde«, antwortete ich. Wahrscheinlich war dieser Satz das Ehrlichste, was ich seit langer Zeit gesagt hatte.
»Na ja, irgendwas musst du jedenfalls tun«, sagte sie leise, dann drehte sie sich um, ging aus dem Zimmer und schloss still die Tür hinter sich.
Ich ließ meine Kleider auf den Badezimmerboden fallen und faltete den Zettel auf, der vom Nachttisch gefallen war, als ich mir die Zeitschrift geschnappt hatte.
Ich kann deine eckigen Augen nicht schlucken
Ohne Blick für mein schrumpfendes Herz
Meine eingesunkene Brust
Schultern zum spiegelblanken Boden
Mein Gedicht. Wie war es auf den Nachttisch gekommen? Ich konnte mich nicht erinnern, es dorthin gelegt zu haben. Ich las es, obwohl ich es mittlerweile auswendig konnte. Mit schwerer, dumpfer Brust erinnerte ich mich an den Tag, an dem Cole es mir zum ersten Mal vorgesungen hatte, draußen auf dem Bordstein vor den Bread-Bowl-Fenstern. Ich schluchzte auf. Ich sehnte mich so furchtbar danach, zu diesem Moment zurückkehren zu können.
Ich schniefte und meine Augen wanderten zum Beginn des Gedichts. Es hatte immer noch keinen Titel.
Ich drehte mich um und durchwühlte eine Schublade, bis ich einen alten Eyeliner-Stift fand. Über den Waschtisch gebeugt kritzelte ich Bittere Liebe über das Gedicht. Cole hatte recht – dieser Titel passte perfekt.
Dann zerknüllte ich das Gedicht und warf es in den Abfall.
Beim Aufrichten fiel mein Blick auf mein Spiegelbild. Ich schaute mir lange fest in die Augen – suchte nach diesem verlorenen, leeren Ausdruck, den ich auf den Fotos in Moms Blick entdeckt hatte. Lag er auch in meinen Augen, schon jetzt?