Ohne anzuklopfen stürmte ich bei Bethany durch die Eingangstür. Wir waren schon so lange befreundet, dass ihre Eltern das ganz normal fanden. Als wir noch klein waren, hatte Bethany direkt gegenüber von Zack und mir gewohnt. Wir waren in die Häuser der anderen und wieder zurück gerannt, ohne es überhaupt zu merken. Als Bethany dann in der sechsten Klasse ans andere Ende der Stadt umgezogen war, machte ich aus Gewohnheit einfach weiter damit.
Bethanys Mutter saß auf dem Sofa, hielt den Kopf von Bethanys kleinem Bruder auf dem Schoß fest und fuchtelte mit einer Pinzette über seinem Ohr herum. Er schrie und zappelte so sehr, dass seine leuchtend roten Haare an ihrem Arm entlangstreiften.
»Hallo, Alex«, sagte sie, als ich durch die Tür kam. »Kannst du mir mal eben helfen?«
»Klar«, sagte ich. Dabei war ich sowieso viel zu spät dran. Wahrscheinlich hatte Zack schon die ganze Pizza vertilgt und die beiden waren gerade dabei, sich eine Strafe für mich auszudenken. Als Bethany letztes Mal zu spät zu unserem Colorado-Abend gekommen war, hatte Zack sie gezwungen, vor laufender Kamera I’m too sexy zu singen und die Aufnahme auf Facebook hochzuladen. Aber Bethanys Mutter war total nett und ihre vier verrückten Jungs trieben sie immer wieder an den Rand der Verzweiflung. Sie tat mir leid, ich konnte sie nicht hängen lassen.
»Er hat sich eine Rosine reingesteckt«, sagte sie, reichte mir die Pinzette und deutete auf sein Ohr. »Ich seh sie genau, aber er hält einfach nicht still, darum krieg ich sie nicht zu fassen.«
Ich zögerte. »Soll ich’s mal versuchen?«
Sie nickte. »Ich hab so was schon millionenmal hingekriegt. Mach dir keine Sorgen, solange du das Ding nicht noch weiter ins Ohr reindrückst, kann nichts passieren. Man sollte allerdings meinen, diese Gören lernen es irgendwann. – Hör auf, Ryan«, pflaumte sie Bethanys kleinen Bruder an und klemmte sich seine Beine unter den Arm.
»Ich weiß nicht, ob ich …«
Ryan heulte wieder los und trat jetzt noch wilder um sich. Beinahe hätte er es geschafft, den Kopf aus dem Griff seiner Mutter zu winden. »Ryan! Nein!«, rief sie und gab ihm eins auf den Hintern. Jetzt zappelte er nicht nur, sondern kreischte auch noch aus vollem Hals. »Du kriegst das schon hin. Mach einfach schnell.«
Ich beugte mich vor, hielt die Luft an und betete, dass sich Bethanys kleiner Bruder nicht auf einmal losriss und sich die Pinzette ins Trommelfell rammte. Mein Gesicht war ganz nah an dem von Bethanys Mutter. Sie wirkte erschöpft, hatte Falten und roch nach Käse-Makkaroni. Schnell und ohne nachzudenken schob ich die Pinzette in Ryans Ohr und schnappte mir die Rosine, die – Gott sei Dank! – gleich im Ganzen herauskam. Bethanys Mutter ließ Ryan los, der mit wildem Geheul und einer Hand überm Ohr zur Haustür raste, als hätte ich ihm doch das Trommelfell durchstochen.
Als ich ihr die Pinzette zurückgab, kullerte die Rosine in ihren Schoß. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr sich mit der Hand durch die wirren rotblonden Haare.
»Jungs«, sagte sie kopfschüttelnd und musste plötzlich kichern. »Danke für deine Hilfe, Liebes.«
»Schon in Ordnung«, sagte ich. Bevor ich etwas hinzufügen konnte, schepperte es in der Küche, Bethanys Hund Perry begann wie der Teufel zu bellen und ein anderer ihrer Brüder brüllte: »Mom!« Bethanys Mutter biss die Zähne zusammen, schlug sich mit den Handflächen auf die Oberschenkel und stürzte los.
Manchmal fragte ich mich, ob ich mein ach-so-schmerzlich-stilles Leben gegen das Tohuwabohu bei Bethany würde tauschen wollen, selbst wenn mir jemand eine Million Dollar dafür anbieten würde. Bei ihr zu Hause herrschte ständig Chaos und ihre Brüder machten alles kaputt. Ihr Vater arbeitete fast immer Nachtschicht und war darum nie zu denselben Zeiten wach und zu Hause wie der Rest der Familie. So musste Bethany, fügsam und fleißig, wie sie war, oft die Ersatzmutter spielen. Kein Wunder, dass sie die Welt retten wollte – das musste ihr wie ein Kinderspiel vorkommen im Vergleich zu der Aufgabe, in ihrer Familie für Ordnung zu sorgen.
Ich nahm meine Tasche und rannte hoch in Bethanys Zimmer, wo sie und Zack auf dem Bett saßen, den aufgeklappten Laptop vor sich. Die obligatorische Pizzaschachtel lag neben ihnen. Zack kaute und lachte gleichzeitig, die Augen auf den Bildschirm gerichtet.
»Tut mir leid, dass ich spät dran bin«, sagte ich, warf meine Tasche auf Bethanys Kommode, schnappte mir ein Stück Pizza und biss hinein. »Ich hab noch telefoniert.« Im gleichen Moment spürte ich, wie ich rot anlief, und auf einmal war ich mir unsicher, ob ich den Bissen runterkriegen würde, egal wie lange ich kaute.
Das war etwas Neues, aber in letzter Zeit war es mir schon ab und zu mal so ähnlich gegangen, wenn ich an Cole dachte, mit ihm redete oder ihn sah. Nachdem ich ihm am Montag mein Gedicht gezeigt hatte, schien ich ihm öfter über den Weg zu laufen als sonst. Jedes Mal warf er mir einen scheuen Gruß zu, winkte mir quer über den Parkplatz und solche Sachen. Und so langsam bekam ich das Gefühl, dass das etwas zu bedeuten hatte.
Heute Abend hatte er mich dann auf dem Handy angerufen, gerade als ich zu Hause aufbrechen wollte.
»Hey, Emily Dickinson«, hatte er gesagt und ich hatte mich auf einen Schlag gefühlt, als würde ich auf einem himmelhohen Berg stehen und in der dünnen Luft um Atem ringen.
»Halb so wild«, sagte Bethany, griff unters Bett und zog den grünen Ordner heraus, den wir inzwischen die »absurde Akte« getauft hatten. Er war vollgestopft mit allem Material über Colorado, das Bethany hatte auftreiben können. Reiserouten und Computerausdrucke waren darin abgelegt, es gab jede Menge Gutscheine und Broschüren, dazu ein paar steinalte, noch mit Buntstift geschriebene Listen von Stars, nach denen wir in Colorado Ausschau halten wollte. Ganz oben standen Ricky Martin und die Spice Girls. »Wir haben noch gar nicht angefangen.«
»Eine Strafe kriegst du trotzdem«, sagte Zack, als wäre er der Moderator einer Spielshow.
Bethany verdrehte die Augen. »Er hat sich einen Keks in die Socke geschoben«, erklärte sie mir.
»Igitt«, machte ich und ließ mich neben Zack aufs Bett fallen. »Falls du dir einbildest, dass ich den esse – nie im Leben.«
»Schön, dass du gleich alles ausplauderst«, maulte er Bethany an. »Hast du Cola oder sonst was zu trinken?«
»Unten im Kühlschrank«, antwortete Bethany abwesend, während sie einen Stapel Landkarten durchsah. »Bring mir eine mit.«
»Mir auch«, ergänzte ich.
»Na gut, euch zu dienen soll mein Leben sein«, sagte er und sprang vom Bett. »Hey, Mrs M!«, hörte ich ihn durchs Treppenhaus johlen, kaum dass er den Raum verlassen hatte.
Ich nutzte die Gelegenheit.
»Beth«, zischte ich.
»Hmm?« Sie kratzte sich am Kinn, ganz in eine der Landkarten vertieft. »He, ich glaub, da liegt so eine Art Dinosauriermuseum direkt am Weg.«
»Bethany!«, wiederholte ich, diesmal lauter. »Schnell, bevor Zack zurückkommt.« Ich machte ihr ein Zeichen, dass sie näher zu mir rücken sollte.
Sie blickte auf, klappte den Laptop zu und setzte sich neben mich. »Was denn?«, fragte sie und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Den Computer behielt sie weiter auf dem Schoß.
»Rat mal, wer mich angerufen hat.«
»Wer denn?«
Ihre Augen wurden groß. »Im Ernst? Dreamboy?«
Ich nickte und schaffte es nicht, ein breites Grinsen zu unterdrücken.
»Was wollte er denn?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ging bloß um seinen Englischkurs. Er hatte eine Frage zu dem Ray-Bradbury-Roman, den sie gerade durchnehmen. Aber dann haben wir auch über anderes Zeug geredet. Du weißt schon, über die Schulversammlung letzte Woche und so.«
Bethany guckte verwirrt. »Und was soll daran so großartig sein?«
Ich warf mich zurück auf ihr Kissen und stöhnte. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich hab nur … eigentlich ist es gar nicht großartig, oder?«
»Nur dann, wenn du ihn magst.«
Ich kicherte und zog ihr das Kissen über den Kopf. »Halt die Klappe, du weißt doch genau, dass ich ihn mag.«
Sie riss die Augen auf. »Du gibst es also endlich zu?«
Auch wenn ich nicht recht begriff, warum, wäre ich am liebsten in schallendes Gelächter ausgebrochen. Aber ich beherrschte mich und nickte bedächtig. »Ja«, sagte ich.
»Und du glaubst, dass er dich auch mag?«
Wieder nickte ich und fühlte mich wie ein großer, glücklicher Vollidiot, weil ich gar nicht aufhören konnte zu lächeln.
»Das ist der Wahnsinn«, sagte sie. »Der ist echt süß, Alex. Tu was, werd aktiv.«
»Auf keinen Fall«, sagte ich und traktierte sie noch mal mit dem Kissen. Haarsträhnen flogen auf und sie musste ihre Frisur wieder in Ordnung bringen. »Und erzähl Zack nichts. Du weißt, wie er ist. Er würde es überall rumtratschen.«
»Also ehrlich, Zack ist der Letzte, dem ich so was anvertrauen würde«, sagte sie. Aber da hörten wir ihn schon draußen im Gang mit einem von Bethanys Brüdern reden – seine Stimme kam rasch näher. Bethany klappte den Laptop genau in dem Moment wieder auf, als Zack die Tür öffnete, eine riesige Ladung Softdrinks im Arm.
Er beäugte uns von der Tür aus. »Anscheinend hab ich was verpasst«, sagte er.
Bethany und ich klebten mit den Augen am Bildschirm, als ginge es dort um unser Leben.
»Oho! Nur damit ihr Bescheid wisst«, sagte er, schubste die Tür mit dem Fuß zu und schnappte sich eine von den Getränkedosen, »ich gehe auf gar keinen Fall mit in eins von diesen Wellness-Dingern, wo sie einem Gurken auf die Augen legen und sich alle in ein Tuch wickeln. Das ist was für Mädchen. Falls ihr so was vorhabt, vergesst es lieber gleich.«
Bethany und ich warfen uns einen Blick zu und prusteten los.
»Aber da wird man auch massiert«, sagte ich.
»Ja«, bestätigte Bethany. »Mit jeder Menge Öl, und vielleicht läuft dir sogar eine scharfe Masseuse auf dem Rücken rum. Oben ohne.«
Zack warf die Dosen aufs Bett und ließ sich danebenfallen. »Alex«, sagte er und schlug sich gegen die Stirn, als hätte er gerade eine fantastische Idee gehabt, »mir ist eben eine echt gute Strafe für dich eingefallen.«
»Puh«, sagte ich und rückte ein Stück weg. »Meine nackten Füße auf deinem Körper? Das kannst du vergessen. Ich geh mit überhaupt nichts Nacktem in deine Nähe, ist das klar?«
»Ach, sei doch nicht so, Alex«, zog er mich auf. »Beste Freunde teilen alles. Das steht in den Spielregeln. Und dann wäre da noch Regel siebenundsiebzig: Beste Freunde haben keine Geheimnisse voreinander.«
Bethany und ich sahen uns über seinen Kopf hinweg an und kicherten. Spielregeln hin oder her, fürs Erste brauchte Zack nicht zu wissen, dass ich wahnsinnig verknallt war in Cole.