Wie sich herausstellte, verpasste ich am nächsten Samstag sowieso nichts. Bethanys Opa war gestürzt, als er aus der Badewanne steigen wollte, und die ganze Familie wartete im Krankenhaus darauf, dass die Platzwunde an seiner Stirn genäht und seine gebrochenen Rippen und das verstauchte Handgelenk verarztet würden.
Und Zack ging am Ende mit einem Mädchen namens Hannah zu einem Fußballspiel – sie war bei ihm in der Theater-AG.
Cole holte mich gerade ab, als Zack zu Hannah aufbrach. Die beiden beäugten sich über den Rasen hinweg wie zwei wilde Hunde, die sich gleich aufeinanderstürzen wollen.
»Komm schon«, raunte ich Cole zu und nahm ihn beim Ellbogen, um ihn abzulenken. Zack und ich hatten uns wieder versöhnt und er sollte nicht den Eindruck bekommen, ich wäre irgendwie schuld an Coles bösen Blicken.
Beim Einsteigen schüttelte Cole den Kopf und lachte in sich hinein. »Dieser Typ hat einfach was gegen mich«, sagte er. »Im Gewichtheben trainiere ich nie zu zweit mit ihm. Ich hab echt Angst, der lässt das Gewicht absichtlich auf mich fallen und zerquetscht mir die Kehle.«
»Der kriegt sich schon wieder ein«, sagte ich und beobachtete durchs Seitenfenster, wie Zack rückwärts aus der Einfahrt fuhr und die Straße entlangraste. »Er ist mit einem Mädchen verabredet«, fügte ich hinzu, in der Hoffnung, das würde Cole beruhigen. Allerdings erzählte ich ihm nicht, dass Zack Hannah zu laut fand und ihre näselnde Stimme nicht leiden konnte – er ging nur mit ihr aus, um seiner Mutter einen Gefallen zu tun, die mit Hannahs Mutter befreundet war.
Cole legte den Rückwärtsgang ein und setzte zurück. Aber nach ein paar Metern hielt er plötzlich wieder an. »Ich muss dich was fragen«, sagte er. »Was Wichtiges.«
Ich drückte das Kinn an die Brust und versuchte, mich zu wappnen. Ging es wieder darum, ob ich Zack gut fand und verknallt in ihn war? Oder wollte Cole wissen, warum bei uns zu Hause alles so heruntergekommen war? Würde er wissen wollen, wieso ich nie über meine Familie redete und wie es kam, dass er meine Mom oder meinen Dad noch nie gesehen hatte? Ich atmete tief durch. »Okay.«
»Magst du Butter auf deinem Popcorn?«
»Ich kann gar nicht genug davon kriegen«, antwortete ich, unendlich erleichtert.
Er schlug mit der Faust aufs Lenkrad und schrie: »Sie ist perfekt, echt!«
Lachend fuhren wir Richtung Kino und redeten über nichts anderes als über Popcornsorten und darüber, warum M&M’s beim Filmgucken eigentlich die perfekte Süßigkeit sind.
Am Cineplex war es knallvoll und wir fanden erst ganz weit hinten einen Parkplatz.
»Bleib, wo du bist«, befahl er, als ich die Tür aufmachen wollte. »Steig nicht aus.«
Ich ließ den Türgriff los und legte die Hand in den Schoß. Er schaltete den Motor aus, sprang aus dem Wagen und rannte auf meine Seite. Mit einer großen Geste öffnete er mir die Tür und verbeugte sich kurz, ein breites Grinsen im Gesicht.
»Mylady«, sagte er mit aufgesetztem britischem Akzent, über den ich gleich kichern musste. Dann beugte er sich vor und nahm meine Hand, zog mich sanft hoch und schloss mit der anderen Hand hinter mir die Wagentür.
Ich machte einen Knicks und gab nun selbst die englische Lady. »Seien Sie vielmals bedankt, werter Sir«, sagte ich. Doch als ich nach meinem Knicks wieder aufschaute, grinste er nicht mehr, sondern guckte ernst.
Er machte einen Schritt auf mich zu und legte mir beide Hände auf die Hüften, die von der Berührung sofort heiß wurden. »Du siehst wunderbar aus heute Abend«, sagte er und zog mich dicht an sich.
»Danke«, sagte ich. »Du siehst auch super aus.« Ich erwartete, dass er darauf irgendwas erwidern würde, aber stattdessen hob er die Hände, vergrub sie in meinen Haaren und küsste mich. Es war ein weicher, sanfter Kuss. Einer von diesen allerersten, vorsichtigen Küssen, die sich so gut anfühlen, dass man glaubt, jeden Moment zu schmelzen. Zugleich ist man furchtbar nervös, man könnte Mundgeruch haben, und vor lauter Aufregung ist der Kuss schon wieder vorbei, bevor man richtig kapiert hat, was los ist.
Aber als Cole mich losließ, hatte ich das Gefühl, nicht mal mehr laufen zu können – der Eingang zum Kino schien tausend Meilen entfernt. Mir zitterten die Knie und ich konnte kaum fassen, was eben passiert war.
»Wollen wir uns nun auf den Weg machen?«, fragte er schließlich, wieder ganz der britische Gentleman. Ich nickte und presste die Lippen zusammen, damit sich mein Lipgloss verteilte.
Er legte den Arm um meine Schultern und wir liefen zum Kinoeingang, wobei sich unsere Hüften immer wieder berührten. Ich überlegte, dass es in meinem Leben vielleicht noch mehr wirklich gute Tage geben würde, aber kein Tag könnte diesen hier übertreffen, da war ich sicher.
Wir waren früh dran für unseren Film, darum war der Kinosaal noch leer, als wir mit unseren Getränken und dem Popcorn hineingingen. Gegen jede Wahrscheinlichkeit hoffte ich, dass wir allein bleiben würden, obwohl der Blick auf den Parkplatz vorhin gereicht hatte, um zu wissen, dass wohl auch der letzte Kinositz besetzt sein würde, bevor die Werbung vorbei war.
Vielleicht würde er mich wieder küssen. Diese Vorstellung war so aufregend, dass mir das Popcorn ganz egal war. Ich sog an meinem Strohhalm.
»Sag du, wo wir sitzen sollen«, meinte er und fuchtelte mit seinem Becher.
Ich ging bis in die Mitte der mittleren Reihe und dort ließen wir uns in die Sitze sinken.
»Perfekt!«, sagte ich und verstaute meinen Becher in der Halterung.
Er sah mich von der Seite her an. »Jetzt bin ich überrascht. Ich hätte gewettet, dass du am liebsten ganz vorne sitzt.« Er zwinkerte mir zu, stellte sich den Popcornbecher auf den Schoß und nahm sich eine Handvoll.
»In der allerersten Reihe? Wieso?«
Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Du wirkst einfach wie eine Frau, die immer nah dran sein will, ganz vorne, wo die Action ist.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kriege Kopfweh, wenn ich in der ersten Reihe sitze. Und du? Sitzt du gern ganz vorne?«
Er schaufelte sich Popcorn in den Mund, kaute darauf herum und sagte schließlich: »Immer!«
»Wir können vorgehen«, sagte ich. »Wirklich. Manchmal macht mir das überhaupt nichts aus. Außerdem ist es bei diesem Film vorne bestimmt noch mal gruseliger.«
»Nein«, sagte er. »Mein Mädchen fühlt sich in der Mitte sicher und geborgen, also bleiben wir in der Mitte.«
»Meinst du wirklich?«, fragte ich ihn, aber bevor er antworten konnte, kam eine Gruppe von Mädchen kichernd in den Saal geschlendert. Wir sahen beide kurz in ihre Richtung.
Vielleicht war es nur Einbildung, doch ich hätte schwören können, dass er für einen Sekundenbruchteil aufhörte zu kauen, allerdings so unmerklich und kurz, dass ich schon daran zweifelte, während mir der Gedanke kam.
Eindeutig war dagegen die Reaktion von einem der Mädchen: Sie hörte schlagartig auf zu lachen, als sie uns erblickte. Nicht nur das, sie blieb stocksteif stehen und streckte fassungslos die Hände nach ihren Freundinnen aus.
Daraufhin sahen alle Mädchen zögernd zu Cole hinüber, bis eine von ihnen flüsterte: »Komm schon, Maria«, und die mit dem entsetzten Gesichtsausdruck an ihrem Oberteil zog. Da hörte sie endlich auf, Cole anzustarren, und folgte ihren Freundinnen die Stufen hinter uns hoch. Nach einer Weile kicherten sie wieder, aber als ich mich zu ihnen umdrehte, saß das eine Mädchen immer noch wie versteinert da und starrte auf Cole.
Ich versuchte, in Coles Miene zu lesen, doch mittlerweile hatte sich der Saal gefüllt, es war dunkel und gab zu viele Schatten, außerdem kaute er jetzt wieder Popcorn. Das Licht von der Leinwand flackerte auf seiner Stirn.
»Kennst du die?«, fragte ich und gab mir Mühe, es möglichst leicht und munter klingen zu lassen. Ich wollte nicht eifersüchtig wirken. Dabei war offensichtlich, dass irgendwas zwischen den beiden los war.
»Ja, schon«, sagte er und trank einen Schluck. »Die sind aus meiner alten Schule. Gehören allerdings nicht gerade zu meinen Freunden.«
Ich schaute mich noch mal nach dem Mädchen um, das jetzt von den anderen abgelenkt wurde. Ihre Freundinnen quatschten laut miteinander und reichten eine Tüte mit Süßigkeiten herum. »Das hab ich gemerkt«, flüsterte ich. »Die eine hat geguckt, als wollte sie abhauen, als sie dich gesehen hat.«
Er schnaubte verächtlich. »Das hat nichts weiter zu bedeuten. Ihre Eltern sind mit meinen befreundet, oder jedenfalls waren sie das. Seit dem Umzug sehen sie sich kaum mehr. Und das ist auch ganz gut so, denn Maria hat sie nicht alle. Muss dreimal die Woche in Therapie oder so ähnlich. Die ist total neben der Spur.«
Ich schaute wieder zurück. Es stimmte, das Mädchen wirkte seltsam entrückt, als wäre sie gar nicht richtig da, obwohl sie mit ihren Freundinnen zusammensaß und mit ihnen redete. Immer wieder wurden ihre Augen matt und ausdruckslos und sie schaute mit einem völlig abwesenden Gesichtsausdruck nach unten in ihren Schoß. Dann wurde sie irgendwann von einer der anderen angestupst und man konnte fast sehen, wie sie plötzlich wieder zu sich kam und mitlachte. Aber es war ein falsches Lachen. Es wirkte gezwungen. Cole hatte recht. Irgendwas stimmte nicht mit diesem Mädchen.
Ich drehte mich wieder nach vorne und nahm mir Popcorn. »Warum seid ihr eigentlich extra von Pine Gate hierhergezogen? Ist doch nur ein Katzensprung.«
Er zuckte mit den Schultern. »Meine Eltern haben das eben so beschlossen. Sie wollten ein größeres Haus und haben hier eins gefunden.«
»Aber ausgerechnet in deinem letzten Highschooljahr? Und hättest du nicht hin- und herfahren können, statt die Schule zu wechseln?«
Er schluckte sein Popcorn hinunter und drehte sich zu mir. »Sag mal, willst du mich loswerden?«, fragte er leise und grinste dabei durchtrieben. »Hast du etwa schon genug von mir?« Er schaute wieder zur Leinwand und schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. »Verdammter Mist! Schon durchgefallen beim schönsten Mädchen der Schule.«
Kichernd beugte ich mich vor, fasste ihn am Kinn und drehte seinen Kopf zu mir. »Ich bin froh, dass du umgezogen bist«, flüsterte ich.
»Gut«, flüsterte er zurück und dann küsste er mich.
Danach war es ganz leicht, die Pine-Gate-Mädels hinter uns zu ignorieren. Cole und ich hielten uns an den Händen und beantworteten um die Wette die Kino-Quizfragen, die über die Leinwand liefen, während nach und nach immer mehr Zuschauer in den Saal strömten.
Nach einer Weile setzte sich ein Pärchen direkt vor uns. Auf der Stelle beugte Cole sich vor. »Hey, Kumpel«, sagte er. »Meine Freundin kann nichts sehen, wenn du vor ihr sitzt. Kannst du nicht woanders hingehen?«
Meine Freundin! Das klang so wunderbar, dass es für mich überhaupt keine Rolle mehr spielte, ob ich von dem Film auch nur eine einzige Szene mitbekam. Ich, die noch nie im Leben richtig mit jemandem zusammen gewesen war, war jetzt offenbar Cole Cozens Freundin. Die Freundin dieses Jungen, der bis zu unserem zweiten Date nicht mal versucht hatte, mich zu küssen. Der großartig, klug und begabt war, und dazu auch noch ein toller Sportler. Der mir Gitarrespielen beibrachte und dafür sorgte, dass mir im Kino niemand die Sicht versperrte, obwohl ich mich gar nicht beschwert hatte. Für diesen Jungen schien kaum etwas anderes wichtig zu sein, als für mich zu sorgen und mir zu zeigen, dass er mich mochte und dass ich wichtig für ihn war.
Der Typ vor uns schüttelte den Kopf. »Gibt sonst keinen Platz hier, Mann.«
Cole beugte sich wieder zu ihm vor. »Hör mal, ich glaub, du solltest nach hinten umziehen oder so.«
Der Typ vor uns schüttelte noch mal den Kopf und wandte sich wieder nach vorne. Für ihn war der Fall erledigt. Seine Freundin drehte sich zu Cole um. »Warum tauschst du nicht einfach den Platz mit ihr?«, fragte sie. »Wenn das so ein großes Problem für dich ist.«
Ich legte eine Hand auf Coles Arm. »Hey, das ist halb so wild«, sagte ich. »Wenn ich mich ein bisschen zur Seite lehne, seh ich genug.« Ich lächelte ihn an. »Bin gleich wieder da.«
Ich schlängelte mich durch die Reihe und ging Richtung Toilette.
Schon von draußen hörte ich Gelächter, das mir bekannt vorkam. Zögernd machte ich die Tür auf und tatsächlich standen da die Mädchen aus Pine Gate vor dem Spiegel, machten sich die Haare zurecht und legten Lipgloss auf. Maria wusch sich gerade die Hände.
So unauffällig wie möglich drängte ich mich zwischen ihnen zu einer der Klokabinen durch. Aber sie hörten trotzdem sofort auf, laut zu lachen, stattdessen kicherten sie nur ab und zu unterdrückt und tuschelten dann wieder aufgeregt miteinander.
Als ich fertig war, ging ich zu einem Waschbecken an der Wand gegenüber. Die Pine-Gate-Mädchen waren inzwischen ganz verstummt und ich spürte, wie sie mich musterten, während ich mir die Hände wusch.
Schließlich brach eine von ihnen – ein sommersprossiges Mädchen mit wild gelockten Haaren – das Schweigen. »Gehst du mit Cole Cozen?« Ich warf ihr vom Handtuchspender aus einen Blick zu. Alle bis auf Maria starrten mich an. Sie guckte auf den Boden.
»Ja«, sagte ich so herausfordernd wie möglich. »Ich bin seine Freundin.« Es fühlte sich seltsam an, das zu sagen, denn ich hatte es ja selbst erst vor fünf Minuten gehört. Trotzdem konnte ich mir nicht verkneifen, dabei herablassend zu lächeln.
Sie tauschten ernste Blicke. »Wie lange kennst du ihn schon?«, fragte die Sommersprossige.
Ich zuckte mit den Schultern. »Eine Weile«, sagte ich unverbindlich. Wenn Maria nicht ganz richtig im Kopf war, wie Cole mir gesagt hatte – und ich fand das absolut glaubwürdig, so seltsam, wie sie sich benahm –, konnte es gut sein, dass ihre Freundinnen auch irgendwie eigenartig waren.
Im Augenwinkel sah ich eine Bewegung: Maria zog das Sommersprossen-Mädchen am Ärmel und wieder begannen alle, aufgeregt zu flüstern.
Ich warf die Papiertücher weg und steuerte auf die Tür zu, was bedeutete, dass ich mich zwischen ihnen hindurchschlängeln musste. Ich spürte förmlich, wie es ein paar Grad kälter wurde, als ich vorbeiging. Geballte Eifersucht, oder?
Im Kinosaal war es jetzt dunkel, und gerade als ich mich wieder auf meinen Platz setzte, begann der erste Filmtrailer.
»Sorry«, flüsterte ich. »Deine Pine-Gate-Freundinnen haben mich aufgehalten. Du hast total recht …« Ich beendete den Satz nicht, denn mir fiel auf, dass der lange Kerl in der Reihe vor mir verschwunden war. Ich deutete auf den leeren Platz. »Wo sind die denn hin?«
Cole grinste. »Ich hab sie überzeugt, dass es besser ist umzuziehen«, sagte er. »Jetzt hast du wieder einen freien Blick.«
Das ist es, dachte ich. Das ist das Beziehungs-Feeling, von dem ich immer geträumt habe. Ich wusste, dass es existiert. Die echte Romantik. Die Seelenverwandtschaft. Das, was ich auf den Fotos meiner Eltern gesehen habe – Glück, Liebe und Füreinander-Einstehen. Großes, Wahrhaftiges. Hier ist es. Ich hab es gefunden.
»Ich hab noch eine viel bessere Idee«, sagte ich, beugte mich vor und nahm seine Hand. »Komm mit.«
Wir schnappten uns unser Popcorn und unsere Getränke und dann führte ich ihn vor bis in die erste Reihe, die komplett leer war.
»Aber was ist mit deinem Kopfweh?«, flüsterte Cole, während er in den Sitz neben mir sank.
Ich lachte leise. »Scheiß drauf. Ganz vorne ist die Action.«