Immerhin eine Sache an diesem Tag lief gut: Dave war schon im Lokal gewesen und wieder nach Hause gegangen. Georgia schien so gut aufgelegt wie schon lange nicht mehr, jedenfalls nicht, seit Dave angefangen hatte, uns unentwegt auf die Finger zu gucken. Auch Jerry wirkte vergnügt, er hatte das Radio in der Küche laut aufgedreht, und wenn keine Kunden da waren, sang er mit.
Ich selbst hatte eine bessere Stimmung dringend nötig. Ich lechzte nach guter Laune. Darum schloss ich mich an, sang von der Theke aus mit, alberte mit Georgia herum und bastelte sogar irgendwelche potthässlichen Püppchen aus Blumenkohl, die ich Granit-Arschs Familie nannte.
Georgia hatte gute Neuigkeiten. Lily war in ein Förderprogramm für behinderte Kinder aufgenommen worden, was offenbar das Beste war, was ihrer Tochter passieren konnte. Wir verputzten ein ganzes Blech Chocolate-Chip-Cookies, um das zu feiern.
Es war wie eine Riesenparty und ich war absolut in Feierlaune.
Darum erwischte es mich vollkommen unvorbereitet, als das Mädchen, dessen Bestellung ich gerade aufnahm, mich auf einmal am Handgelenk packte, meinen Arm zu sich zog und ihn mit ängstlichem Gesicht musterte.
Ich riss meine Hand weg und lief rot an. Sie kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht recht, von woher.
»Was …«, begann ich, doch bevor ich weitersprechen konnte, fragte sie: »Seid ihr immer noch zusammen?«
Ehrlich gesagt kapierte ich zuerst gar nicht, wovon sie redete. Dann begriff ich. Sie betrachtete die rot verfärbten Stellen an meinem Arm, wo Cole mich gestern gekniffen hatte. Die beiden unteren guckten heraus, wenn die halblangen Ärmel von meinem Shirt ein bisschen nach oben rutschten. Cole hatte mich derart fest gekniffen, dass man es jetzt noch sehen konnte. Er hatte gemeint, das wäre doch nur Spaß und ich sollte »mich locker machen«. Es wäre nun mal nicht alles im Leben ein Zuckerschlecken.
»Bist du immer noch mit Cole zusammen?«, fragte sie wieder und zeigte auf meinen Arm.
Und auf einmal war mir klar, wo ich sie schon mal gesehen hatte: im Kino.
Maria hat sie nicht alle, hatte Cole gesagt. Sie ist total neben der Spur.
»Du bist das Mädchen aus Pine Gate«, sagte ich und sie nickte. »Maria, richtig?« Der Mann hinter ihr trat ungeduldig von einem Bein aufs andere und stöhnte.
»Coles Exfreundin«, sagte sie und warf einen Blick über die Schulter, als hätte sie Angst, er könnte direkt hinter ihr stehen. »Du triffst dich noch mit ihm.«
Der Typ hinter Maria räusperte sich.
»Ich hab Kunden«, sagte ich. Doch schon in dem Moment war mir klar, dass Maria nicht einfach so verschwinden durfte. Ich hatte Fragen an sie. Ich brauchte Antworten. Damals im Kino war zwischen Cole und mir noch alles gut gewesen, darum hatte ich manches nicht begriffen, was jetzt auf einmal Sinn ergab. Maria hatte gewirkt, als wollte sie am liebsten abhauen. Sie hatte ausgesehen … als hätte sie Angst.
Ihre Eltern sind mit meinen befreundet, hatte Cole mir erklärt. Oder jedenfalls waren sie das. Und wieso sind sie’s nicht mehr, Cole? Warum die Vergangenheitsform? Ich glaubte die Antwort zu wissen.
Sie ging jetzt zur anderen Seite der Theke, wo Jerry schon das Tablett mit dem Essen brachte, das sie bestellt hatte.
»In einer Viertelstunde hab ich Pause«, sagte ich. Sie nickte und ging mit ihrem Tablett an einen Tisch hinten beim Ausgang zur Terrasse.
Als der Betrieb nachließ, rief ich Georgia zu, dass ich jetzt meine Pause nehmen würde, und lief in den Gastraum. Maria war fertig mit ihrem Essen, saß aber immer noch da, nippte an ihrem Getränk und las in einem Taschenbuch.
»Ich darf eigentlich nicht drüber reden«, sagte sie, ohne von ihrem Buch aufzuschauen. Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich ihr gegenüber. Sie legte einen Papierstreifen zwischen die Seiten und stopfte das Buch in ihre Jackentasche. »Wegen dem Gerichtsverfahren.«
»Davon weiß ich nichts«, sagte ich. »Er hat mir erzählt, deine Eltern wären mit seinen befreundet.«
Sie lachte bitter. »Kann man nicht behaupten, nein«, sagte sie. »Ist eher so, dass meine Eltern das Geld für die Krankenhausrechnung haben wollen, weil er mir den Arm gebrochen hat.«
Unwillkürlich fasste ich mir ans linke Handgelenk, das er im Lernlabor so furchtbar fest gepackt hatte.
»Anscheinend verdreht er weiter gern Leuten den Arm?«
Ich weiß nicht, warum, doch ich legte meinen schnell zurück in den Schoß, versteckte ihn unter dem Tisch.
»Ich bin nicht die Erste«, flüsterte ich.
»Nein«, sagte sie. »Und es gibt noch ein Mädchen an meiner Schule, Jillian, die er geschlagen hat, als er mit ihr zusammen war. Sie hat Schluss gemacht, aber er hat sie danach immer noch ewig lang schikaniert. Die mussten vor Gericht gehen und eine Kontaktsperre durchsetzen. Das wusste ich allerdings nicht, ich hab’s erst danach erfahren, du weißt schon.« Sie hob ihren Arm.
»Ist er deshalb umgezogen?«
Sie nickte. »In der Zeitung stand nichts, weil wir alle noch minderjährig sind. Aber du kannst dir ja vorstellen, wie das läuft, die Leute reden. Und ziemlich bald wussten alle Bescheid. Ein paar von den Jungs haben ihn angemacht. Ihn bedroht und so.«
Benommen saß ich da. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass ich vielleicht nicht das einzige Mädchen war, das von Cole gequält wurde. Immer hatte ich an mir selbst gezweifelt, ein Teil von mir hatte das Gefühl gehabt, dass er nur darum dauernd wütend wurde, weil es so schwer war, mit mir auszukommen. Dass er alles nur deshalb tat, weil ich ihn dazu brachte, zu viel von ihm verlangte, ihn nicht genug respektierte.
»Ich kann das nicht glauben«, sagte ich. Meine Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Hör mal, ich kenn dich ja nicht, und wenn du mit ihm zusammenbleiben willst, ist das deine Sache. Aber als ich die Flecken auf deinem Arm gesehen hab, dachte ich mir, ich erzähl dir besser, dass es immer nur noch schlimmer werden wird. Ich hab die ganze Zeit gedacht, dass er mich wirklich liebt, bis ich in der Notaufnahme war. Ich hab sogar noch geheult, als mich meine Eltern dazu gezwungen haben, dass ich mich trenne. Es tat ihm immer so leid hinterher. Und dann wurde er romantisch. Hat er dir auch Rosen ans Auto gesteckt?« Als ich keine Antwort gab, nickte sie. »Ja. Aber eines Tages bringt er noch jemanden um, und wenn ich verhindern kann, dass es dir passiert, dann war die schrecklichste Zeit in meinem Leben immerhin nicht umsonst. Vielleicht nützt ja auch die Gewaltberatung irgendwas, zu der ihn das Gericht verdonnert hat.«
Fassungslos saß ich da, mit offenem Mund. Ein Richter hatte bestimmt, dass er zu einem Gewaltberater ging. Cole machte das gar nicht wegen mir. Sondern nur weil er musste, als Ausgleich für das, was er Maria angetan hatte.
Sie stand auf, griff nach ihrer Tasche und zog die Autoschlüssel aus der Jacke. Ich nahm das Tablett.
»Viel Glück«, sagte sie. »Wenn du mit Cole zusammenbleiben willst, wirst du’s brauchen.«