Kapitel 7

Celia lief hinter mir her, als ich durchs Wohnzimmer düste und abgelegte Socken und feuchte Handtücher in den Wäschekorb warf. Ich klopfte die Kissen auf dem Sofa zurecht, faltete eine Decke, die wochenlang in einem unordentlichen Haufen in der Ecke gelegen hatte, und drapierte sie über unserem hässlichen Sofa.

Es war nicht zu übersehen, dass dieser Raum von einer Familie bewohnt wurde, die innerlich aufgegeben hatte. Normalerweise machte mir das nichts aus. Es war deprimierend, aber ich war daran gewöhnt. Doch jetzt, wo Cole kommen würde, war mir auf einmal alles an meinem Leben peinlich.

In den Vorhängen hockte der Staub, die Sofabezüge waren zerschlissen, der Teppich wirkte abgenutzt und schmuddelig. Überall standen gebrauchte Gläser und Teller herum und in den Ecken lag Wäsche. Auf dem Couchtisch war ein Nagellackfläschchen festgetrocknet, das andere Tischende klebte von irgendwas Undefinierbarem. Ich konnte mich nicht erinnern, wann hier das letzte Mal gesaugt worden war. Unglaublich, dass man sich an so viel Unordnung gewöhnen konnte. Und noch unglaublicher, dass man sich offenbar auch an dieses Leben gewöhnen konnte.

»Wann hast du Zeit?«, fragte Celia zum tausendsten Mal. »Wir müssen endlich mal anfangen zu planen. Shannin kommt schließlich nicht gerade oft nach Hause.«

Damit allerdings hatte sie recht. Shannin besuchte uns so gut wie nie. An Dads fünfzigstem Geburtstag sollte sie aber wie aus dem Nichts auftauchen, zu einer Überraschungsparty, die wir drei für ihn organisieren wollten, obwohl er sonst nie irgendwas feierte. Und damit bei so vielen Überraschungen auf einmal wirklich alles klappen würde, musste man schon Monate vorher Pläne machen – dieser Meinung war zumindest Celia. Dad hatte erst im April Geburtstag und jetzt war gerade mal Oktober. Ich fand, ein halbes Jahr war mehr als genug Zeit, um alles auf die Reihe zu kriegen. Celia dagegen schien es viel zu kurz. Shannin wollte vor allem Celia zufriedenstellen, was für sie nicht weiter schwer war, denn sie wohnte Hunderte von Meilen weit weg und musste sich nicht jeden Tag Celias Nörgeleien anhören.

»Außerdem«, redete Celia weiter, »hast du Shannin versprochen, dass du dich darum kümmerst, Alex.«

»Mach ich ja auch. Nur nicht heute, okay?«, antwortete ich. »Wir haben noch genug Zeit.« Seufzend warf sich Celia aufs Sofa, sodass die Decke verrutschte. »Pass doch auf«, sagte ich, beugte mich vor und zog sie wieder über das fleckige Polster.

»Was ist bloß so besonders an diesem Typen?«, fragte Celia. »Du tust, als käme die Queen zu Besuch. Ich hab ihn neulich in der Bibliothek gesehen. So umwerfend ist er nun auch nicht.«

»Klar«, sagte ich. »Bevor dir ein Junge gefällt, den ich gut finde, dreht sich die Welt in die umgekehrte Richtung. Ich mag ihn eben, okay? Und ich will, dass er mich auch mag. Darum hab ich keine Lust, dass hier alles aussieht wie …«

»Wie bei dir zu Hause? Soll ich Zacks Mom holen, damit sie einspringt und deine Mutter spielt? Dann brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen, dass unsere Familie nicht gut genug ist.«

Grimmig blickte ich meine Schwester an. Was mit unserer Mutter passiert war, kümmerte Celia überhaupt nicht. Sie sah es genau wie Shannin: Mom lebte nicht mehr und Dad war eben so, wie er war, aber mit ihr selbst hatte das alles nichts weiter zu tun. Celia und Shannin hatte es nie etwas ausgemacht, wenn ein Kind wissen wollte, warum unser Vater nicht mit uns redete, oder wenn ein Erwachsener nach unserer Mutter fragte. Auch dass sie all die Fragen über unsere Mom nicht beantworten konnten, weil wir selbst nie Antworten gekriegt hatten, schien ihnen nichts auszumachen.

»Darum geht’s nicht«, schnauzte ich. »Ich will nur, dass es hier aufgeräumt ist. Du bist bloß eifersüchtig.« Eigentlich war Celia diejenige, wegen der ständig Jungs zu uns nach Hause kamen. Es war ein gutes Gefühl, dass dieses Mal jemand wegen mir kam. Jemand Besseres als diese geleckten Kerle, auf die Celia stand.

Es klingelte an der Haustür. Celia tat überrascht und rappelte sich vom Sofa hoch, während ich noch schnell einen Stapel schmutziges Geschirr in die Küche trug. »Na klar«, sagte sie. »Ich bin echt wahnsinnig eifersüchtig, dass du mit einem Typen ausgehst, der immer noch die Mannschaftsjacke von seiner alten Schule trägt, damit alle sehen, wie toll er ist.« Mit diesem Satz ging sie Richtung Haustür, während ich in die Küche rannte und das Geschirr ins Spülbecken beförderte.

An der Küchentheke blieb ich kurz stehen und atmete tief durch, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Meine Finger tasteten nach der Traumfängerkette unter meinem Shirt.

Ich schämte mich nicht für meine Familie; ich wollte nur einen guten Eindruck auf Cole machen. Es war fast ein bisschen wie an dem Tag, als ich ihm mein Gedicht zu lesen gegeben hatte – ich war angespannt und fürchtete mich davor, ihm mein wahres Ich zu zeigen. Denn was war, wenn er es nicht mochte?

Die Haustür ging auf und ich hörte Celia reden. Schnell fuhr ich mir mit den Fingern durch die Haare und lief zurück ins Wohnzimmer.

Doch statt Cole lümmelte dort Zack auf dem Sofa, mit einem Fuß auf dem Tisch, in der Hand hielt er die Fernbedienung. Celia hockte neben ihm und plapperte irgendwas. Zack sah nicht mal auf, als ich hereinkam. Ich ging hin und schlug ihm aufs Schienbein.

»Ich hab da gerade sauber gemacht«, sagte ich. »Beweg dich.«

Er zappelte mit dem Fuß auf dem Tisch herum und ließ die Augen nicht vom Fernseher. »Mach ich doch«, sagte er.

»Hahaha«, sagte ich. »Echt witzig.« Ich schubste den Fuß vom Tisch auf den Boden.

Endlich warf er mir einen Blick zu. »Was ist denn los mit dir? Seit wann kümmert dich, wo mein Fuß liegt?«

»Seit der Prinz von Pine Gate sein Erscheinen angekündigt hat. Er kommt sie gleich abholen«, sagte Celia.

Zack hatte sich jetzt endlich einen Sender ausgesucht und ließ die Fernbedienung sinken. »Wer? Meinst du etwa den Neuen, der auch Nachhilfe in Englisch kriegt?« Er beugte sich vor und zog einen abgeknickten Zahnstocher aus seiner Hemdtasche, richtete ihn gerade und steckte ihn in den Mund.

Ich nickte. »Wir sind heute Abend verabredet.«

Zack schüttelte den Kopf. »Der Typ ist bei mir in Sport. Ein totaler Idiot, echt. Hält sich für knallhart und reißt wahnsinnig gern die Klappe auf.«

Ich schnappte mir den Wäschekorb und schob ihn mir auf die Hüfte. »Echt ein Ding, dass ausgerechnet du das sagst.« Ich machte mich auf Richtung Keller. »Bethany findet ihn jedenfalls zum Niederknien«, rief ich über die Schulter zurück. »Sie freut sich für mich.«

»Bethany findet alle zum Niederknien«, rief Zack mir hinterher, als ich die Treppe hinunterstapfte.

Ich stellte den Korb neben der Waschmaschine ab. Gerade als ich die Treppe wieder hochlief, klingelte es zum zweiten Mal. »Ich geh schon!«, brüllte ich und raste die Stufen hoch. Aber die Eile war überflüssig, denn Celia und Zack waren in ihre Fernsehsendung abgetaucht und machten keine Anstalten, zur Tür zu gehen. »Das ist bestimmt Cole«, sagte ich und hielt die Luft an.

»Ach, wie bebt mein Herz«, säuselte Zack mit hoher Stimme. Celia kicherte.

Ich riss die Tür auf und da stand Cole. Er trug Jeans und ein eng anliegendes schwarzes T-Shirt, das sich über seinen Brustmuskeln spannte. Er sah kräftig und selbstbewusst aus. So als könnte er mich vor allem Bösen beschützen.

»Hey«, sagte ich und versuchte angestrengt, so zu tun, als müsste ich nicht nach Luft schnappen vor lauter Verliebtheit und wäre nicht hin und weg von seiner Figur. »Komm rein.«

Cole trat durch die Tür. Ich hätte schwören können, dass sein strahlendes Lächeln etwas von seinem Glanz verlor, als er zum Sofa hinüberschaute. Mist, dachte ich und musterte das zugestaubte Zimmer, es sieht immer noch furchtbar hier aus. Aber bald lächelte Cole wieder wie vorher. »Hallo«, sagte er vage zum Sofa hin. »Wie läuft’s?«

Celia wedelte kurz mit den Fingern in Coles Richtung, ohne ihn dabei anzusehen, aber Zack stand auf und kam zu uns herüber.

»Hallo«, sagte er, stellte sich direkt neben mich und stützte sich mit dem Ellbogen auf meiner Schulter ab – etwas, das er oft tat. Es hatte mich bisher noch nie gestört, doch diesmal hätte ich ihn am liebsten weggeschubst. Es wirkte so … besitzergreifend. Klar, Zack war mein bester Freund, aber manchmal musste er daran erinnert werden, dass ich ihm nicht gehörte. »Du bist bei mir in Gewichtheben, stimmt’s?«

Coles Blick wanderte zu dem Ellbogen auf meiner Schulter. »Kann sein.«

Ich wand mich unter Zacks Arm heraus. »Das ist Zack«, sagte ich. »Er wohnt nebenan. Wir sind schon befreundet gewesen, als wir noch Windeln anhatten.«

Kaum hatte ich das gesagt, merkte ich, wie ich rot wurde. Wie blöd klang das denn? Wirklich bescheuert, beim ersten Date mit einem Jungen über Windeln zu sprechen.

»Aha, dann bist du also eine Art Bruder für Alex?«, sagte Cole.

Zack kniff die Augen zusammen und kaute wie wild auf seinem Zahnstocher herum. Schließlich sagte er: »Wahrscheinlich könnte man das so formulieren, ja.« Seine Stimme klang derart scharf, dass sich Celia neugierig zu uns umdrehte.

Ich biss mir auf die Lippen und warf Zack einen bösen Blick zu. Wieso benahm er sich so idiotisch? Doch er beachtete mich gar nicht. Seine Augen bohrten sich in die von Cole. Die Atmosphäre war jetzt total angespannt.

Ich begriff das nicht. Zack hatte zwar seine ausgeprägten Ansichten über Leute, aber er war jemand, der von Natur aus mit allen klarkam und fast alle mochte. Cole mochte er definitiv nicht, deshalb fragte ich mich, was beim Gewichtheben wohl zwischen den beiden passiert war.

Ich wollte Zack nicht vorschnell verurteilen. Vielleicht hatte er einfach schlechte Laune. Aber es ärgerte mich trotzdem, dass er sich ausgerechnet an Cole abreagieren musste.

»Super«, sagte Cole schließlich und die miese Stimmung im Raum war auf einen Schlag verschwunden. Dann wandte er sich an mich. »Bist du fertig?«

»Ja«, sagte ich und schnappte mir meinen Schlüssel und das Handy. »Auf jeden Fall.«

Auf dem Weg zur Tür legte mir Cole die Hand auf den Rücken und sofort kribbelte mein ganzer Körper wie von einem Stromschlag.

»Hey, ich dachte, wir wären verabredet«, rief uns Zack hinterher. »Heute ist Samstag.« Das Kribbeln verschwand, stattdessen stieg wieder Ärger in mir auf. Uns beiden war natürlich klar, was er meinte, doch er ließ es klingen, als hätten wir ein Date miteinander.

»Nein«, sagte ich. »Bethany weiß schon Bescheid. Ich hab ihr eine SMS geschickt. Sie hätte dich anrufen sollen. Wir treffen uns ein andermal.«

»Na dann«, sagte Zack. »Aber du weißt ja, dass sie gar nicht gut damit klarkommt, wenn unser Colorado-Abend ausfällt. Heute wollten wir allerhand überlegen für unsere Reise – wer wo schläft und solche Sachen.« Beim letzten Satz setzte er ein dreistes Grinsen auf, für das ich ihm am liebsten eine gescheuert hätte. Dafür würde er büßen müssen.

»Alles klar«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen und warf ihm von der Tür aus einen Blick zu. »Dafür ist später noch genug Zeit.«

Achselzuckend nahm Zack den Zahnstocher aus dem Mund. »Kein Problem. Vergnügt euch, Kinder.«

Cole drehte sich um und fixierte ihn. »Wir sehen uns im Sport.«

Zack reckte das Kinn, gab aber keine Antwort. Cole und ich stürmten nach draußen und schlossen die Tür hinter uns.

»Holla!«, machte Cole, kaum dass wir auf der Veranda waren. »Spielt der immer den Aufpasser für dich?«

Beim Nachdenken über diese Frage wurde mir klar, dass Zack tatsächlich seit ewigen Zeiten so tat, als müsste er Bethany und mich beschützen – und dass mir das auch früher schon ab und zu gegen den Strich gegangen war. Aber diese Szene eben im Wohnzimmer war mehr gewesen als nur nervig. Zack hatte sich total unmöglich benommen.

»Ja«, sagte ich und trat hinunter auf die Straße. »Tut mir leid. Ich red mit ihm. Er kriegt sich schon wieder ein.«

Wir gingen zu Coles Wagen. »Der ist ganz schön heftig drauf«, sagte er und machte mir die Tür auf. »Erlauben dir deine Eltern im Ernst, mit ihm wegzufahren?«

Ich hörte in diesem Satz nichts als »deine Eltern« und lief sofort rot an. Es war noch viel zu früh für ein Gespräch über das Thema Eltern. Ich bekam es nie hin, bei solchen Gesprächen einfach nur zu sagen: »Meine Mutter lebt nicht mehr«, und damit Schluss. Jeder wollte wissen, wie sie gestorben war, und diese Frage hasste ich. Die Antwort war viel zu kompliziert. Meistens erfand ich irgendwas. Aber Cole wollte ich nicht anlügen. Andererseits hatte ich auch nicht die geringste Lust, ihm gleich beim ersten Date zu erzählen, dass meine Mom »verrückter als Gänsemist« gewesen war. Ich wollte, dass wir Spaß miteinander hatten.

Ich zwang mich zu einem kleinen Kichern. »Das geht schon in Ordnung«, sagte ich. »Bethany und ich könnten uns nicht mal im Traum vorstellen, ohne ihn zu fahren.«

Zack nicht nach Colorado mitzunehmen war undenkbar. Zack war von Anfang an mit dabei gewesen. Er wusste von den Fotos unter meinem Bett. Er hatte mich weinen sehen an jenem Samstag, an dem Bethany mit ihrer Mutter nach St. Louis zum Shoppen gefahren war. Er hatte mitgekriegt, wie peinlich es mir gewesen war, als ich in der fünften Klasse beim Muttertags-Kaffeetrinken neben ihm und seiner Mom hatte sitzen müssen. Er hatte mich gedeckt, wenn ich anderen Leuten erzählte, meine Mutter wäre an Krebs gestorben, und hatte auch hingenommen, dass ich vor anderen oft so tat, als wäre sie eine wunderbare, rundum perfekte Mom gewesen. Er wusste genau, wie wichtig mir all das war. Außerdem wären wir ohne Zack nicht das Katastrophen-Trio. Und trotz seiner Fehler sorgte er dafür, dass wir bei allem, was wir erlebten, Spaß hatten. »Das ist irgendwie eine besondere Reise. Für uns alle drei.«

»Na dann«, sagte Cole, während ich mich auf dem Beifahrersitz niederließ. Er legte die Hände aufs Autodach und schaute mich mit einem prüfenden Blick von oben her an. Sein Körper verdeckte die Türöffnung und sein Gesicht lag im Schatten. »Vielleicht sollte ich mich ja entschuldigen, dass du wegen mir heute Abend nicht bei deinen Freunden sein kannst. Aber da bin ich eigennützig. Ich möchte dich ganz für mich allein, Emily Dickinson.«

Er schwieg und ging neben mir in die Hocke. Endlich konnte ich sein Gesicht wieder sehen, das sanft und freundlich wirkte, genau wie bei unseren gemeinsamen Stunden in der Schule. Ich wusste nicht, was für ein Problem Zack mit Cole hatte, aber in diesem Moment war mir das ziemlich egal. Und auch wenn wir heute zum ersten Mal richtig miteinander ausgingen, war ich schließlich wochenlang fast jeden Tag mit diesem Jungen zusammen gewesen. Ich kannte ihn viel besser, als Zack das tat. Ich wusste, wie nett Cole war. Was auch immer zwischen ihm und Zack passiert sein mochte, Zack schätzte ihn falsch ein.

»Ich hatte noch keine Gelegenheit, dir das zu sagen …«, begann Cole. Als er mit dem Finger über meinen Unterarm strich, überlief mich ein Schauder, eine Art warmes, angenehmes Kitzeln. »Du siehst toll aus.«

Ich lächelte. »Du auch.«

Er schaute mich noch eine Weile lang an, dann erst richtete er sich auf und schloss die Tür auf meiner Seite. Als ich jetzt in seinem Auto saß, eingehüllt in den Geruch von Leder und Rasierwasser, und zusah, wie er zur Fahrertür hinüberging, wurde ich furchtbar aufgeregt. Cole war so großartig.

Zack musste ich mir später wirklich vorknöpfen. Auf keinen Fall durften mir seine Probleme mit Cole das hier ruinieren.