Als ich am Montag in die Schule kam, war ich immer noch total aufgedreht wegen dem Telefongespräch mit Cole. Und seit ich mit Bethany über meine Verliebtheit geredet hatte, war sie noch realer geworden. Andauernd schaute ich mich um, ob ich ihn irgendwo entdeckte, und sehnte mich nach einer Gelegenheit, bei der wir einander zuwinken oder uns Hallo sagen könnten. Oder, noch besser, uns in die Augen sehen. Das kam mir zwar alles albern und kindisch vor, aber so war es mit Cole von Anfang an gewesen – als wäre ich zum ersten Mal überhaupt in einen Jungen verliebt.
Doch dann tauchte er auch in der siebten Stunde nicht auf und ich begriff, dass er überhaupt nicht in der Schule gewesen war, was mich irgendwie ernüchterte. Als er am Dienstag immer noch fehlte, wurde ich unruhig, und am Mittwoch schaffte ich es kaum, seine Abwesenheit nicht persönlich zu nehmen. Ich saß allein in meinem Tutorenzimmer, schrieb Gedichte und rätselte, wo Cole sein könnte.
Dabei war sein Fehlen gar nicht so furchtbar bemerkenswert. Schließlich waren wir kein Paar, ich wusste nicht mal sicher, ob er mich wirklich gut fand. Außerdem ging die Welt nicht unter, wenn ich ihn ein paar Tage lang nicht sah.
Doch als ich am Mittwochabend zur Arbeit ging und ihn im Bread Bowl allein in einer Ecke sitzen sah, überflutete mich eine haushohe Welle von Verliebtheit. Trotzdem versuchte ich, mir meine Begeisterung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Er winkte mir. Ich winkte zurück. Ich meldete mich im Bürocomputer an, ging zu meinem Platz an der Kasse und gab mir Mühe, nicht dauernd zu ihm hinüberzuschauen.
Er hatte das Buch von Ray Bradbury dabei und trank in kleinen Schlucken seinen Kaffee. Das Buch lag aufgeschlagen vor ihm, aber ich merkte schnell, dass er jedes Mal, wenn ich zu ihm hinüberschaute, zu mir blickte und nicht ins Buch.
Nachdem der größte Trubel des Abends vorbei war, schickte mich Georgia in die Pause und ich schlenderte zu Coles Tisch, so lässig ich konnte.
»Hey«, sagte ich und strengte mich an, halbwegs normal zu wirken. »Wo warst du denn?«
Er zögerte und warf einen Blick in sein Buch. »Familienangelegenheiten«, sagte er. »Morgen bin ich wieder in der Schule, versprochen. Darum versuche ich ja, heute Abend noch ein bisschen was aufzuholen.«
»Oh«, sagte ich. »Wie weit hängst du denn hinterher?«
Er verzog das Gesicht. »Ziemlich weit. Machst du Pause oder hast du schon frei?«
»Pause«, sagte ich. »Meine Schicht geht bis acht.« Jetzt verzog ich das Gesicht.
»Also hast du jetzt ein paar Minuten Zeit für mich?«, sagte er, wieder mit diesem Lächeln. Ich nickte und spürte, wie sich die Härchen an meinem Arm aufstellten. Mir kam plötzlich in den Sinn, dass die Art von Zärtlichkeit, die ich empfand, wenn Cole mich anlächelte, etwas war, das ich vorher noch nie gespürt hatte. Dad lächelte nie und Celia runzelte immer nur die Stirn. Beth und Zack lachten dauernd mit mir, aber das war völlig anders. Coles Lächeln wärmte mich. Und es schien niemand anderem auf der Welt zu gelten als mir.
Kurz entstand eine verlegene Stille. Ich hatte hauptsächlich den Schweiß im Sinn, der mir den Rücken hinunterlief. Auf einmal hatte ich furchtbare Angst, ich hätte gigantische Schwitzflecken unter den Armen, und wenn ich an mir hinunterschaute und sie sah, würde ich vor Scham tot umfallen. Mich räuspernd stützte ich mich auf dem Tisch ab. Dann suchten meine Finger den Traumfänger und spielten an den Perlen herum.
Schließlich klappte Cole das Buch zu und stand auf. »Komm«, sagte er. »Ich will dir was zeigen.«
Als er dicht an mir vorbeiging und seine Autoschlüssel aus der Jackentasche zog, streiften sich unsere Hände. Ich folgte ihm auf den Parkplatz.
Er führte mich zu einem alten Sportwagen – einem blauen Ford Mustang, den ich schon auf dem Schulparkplatz gesehen hatte, ohne zu ahnen, wem er gehörte – und öffnete den Kofferraum.
»Du hast mir dein Gedicht gezeigt«, sagte er über die Schulter hinweg, »da hab ich gedacht, jetzt bin ich dran.«
Er holte einen Gitarrenkoffer aus dem Auto.
»Setz dich«, sagte er und deutete auf den Bordstein. Ich tat es und schlang die Arme um die Knie.
»Du spielst Gitarre?«, fragte ich.
»Ein bisschen«, antwortete er. Er legte den Koffer hinter mir auf den Gehweg und klappte die Schnallen hoch. Dann holte er eine schimmernde akustische Gitarre heraus, setzte sich neben mich und legte sie in seinen Schoß. »Ich hab’s mir selbst beigebracht, darum bin ich nicht besonders gut. Aber es macht mir Spaß.«
»Wow.« Ich fuhr mit den Fingern über die Saiten und spürte dabei die Wärme seiner Schulter dicht an meiner. »Ich kann überhaupt kein Instrument spielen.«
»Aber du schreibst Lieder, die einen echt umhauen«, sagte er. »Hör dir das mal an.«
Er begann zu spielen. Seine Finger bewegten sich so mühelos über die Saiten, als könnte das jeder. Nach ein paar Takten begann er, erst die Melodie mitzusummen und bald darauf leise zu singen. Und den Text kannte ich gut …
Mir blieb der Mund offen stehen. Mein Gedicht. Er sang die Worte aus meinem Gedicht. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das fand. Es machte mich furchtbar verlegen, das, was ich geschrieben hatte, aus dem Mund von jemand anderem zu hören. Und Cole sah so verletzlich aus, wie er da auf dem Gehsteig saß, Gitarre spielte und leise vor sich hin sang. Durch das Gedicht kamen auch die Gefühle zurück, die ich hineingelegt hatte – es war fast, als würde ich alles noch einmal erleben. Diesen Abend, an dem ich verschluckt worden war von dem Loch an der Stelle, wo meine Familie hätte sein sollen. Die Leere hatte mich so umgehauen, dass ich gar nicht anders gekonnt hatte, als darüber zu schreiben. Und jetzt dieser Moment – so schutzlos und so intim –, ich ertrug es kaum. Ich ließ die Stirn auf meine Knie sinken und lauschte mit geschlossenen Augen. Als Cole fertig war, drehte ich den Kopf zu ihm und legte meine Wange auf die Knie, dorthin, wo eben noch meine Stirn gewesen war.
»Das war irre«, sagte ich. »Kaum zu glauben, dass du mein Gedicht auswendig gelernt hast.«
Er zupfte gedankenverloren an den Saiten herum. »Den genauen Wortlaut hab ich nicht mehr zusammengekriegt«, sagte er. »Aber ich hab versucht, mich möglichst genau zu erinnern. Gleich beim Lesen ist mir in den Sinn gekommen: Wow, das könnte ein echt guter Song werden!«
Ich streckte die Hand aus und schlug vorsichtig die Gitarrensaiten an. »Ich hab immer davon geträumt, ein Instrument spielen zu können.«
»Echt?« Er richtete sich auf. »Ich könnt’s dir beibringen. Ist nicht weiter schwer.« Er hielt seine Finger dicht neben meine und schlug selbst über die Saiten. Ihr Vibrieren unter meinen Fingerkuppen erfasste meinen ganzen Körper, bis hinunter in die Zehen.
Auf einmal klopfte es von innen gegen die Fensterscheibe hinter uns. Im Laden stand Georgia und werkelte mit hochgezogenen Augenbrauen an der Jalousie herum.
»Mist«, sagte ich. »Ich muss wieder rein.«
Cole stand auf und packte seine Gitarre am Hals. »Ja«, sagte er.
Wieder war da ein verlegener Moment zwischen uns. Für mich klang darin das Vibrieren der Gitarrensaiten weiter, das ich noch immer in den Fußsohlen spürte.
Gerade als ich aufstehen wollte, streckte er den Arm aus und berührte mein Handgelenk, ganz zart nur und so kurz, als hätte er Angst, sich an mir zu verbrennen.
»Vielleicht kann ich dir am Wochenende ein bisschen was zeigen?«
Ich verstand nicht gleich. Was war mit dem Wochenende? Und dann, mit einem einzigen lauten Herzschlag, begriff ich, was er damit sagen wollte.
»Am Freitag muss ich arbeiten, aber Samstag habe ich frei.«
Er lächelte. »Okay. Dann können wir an den See fahren oder so. Wir nehmen uns was zum Essen mit und ich bring dir Yesterday bei. Das war der erste Song, den ich gelernt habe. Total simpel.«
»Ja, das klingt super. Sollen wir uns dort treffen?«
»Nein«, sagte er. »Ich komm bei dir vorbei und hol dich ab.« Nickend saßen wir da und schauten einander in die Augen, bis Georgia wieder gegen die Fensterscheibe klopfte.
Diesmal drehten wir uns beide um. Georgia zog die Augenbrauen nun noch ein Stück höher. Cole lachte leise.
»Ich sollte jetzt wirklich los«, sagte ich. »Wir sehen uns morgen im Lernlabor, oder?«
»Ja«, antwortete er, beugte sich über den Kofferraum und verstaute die Gitarre. »Bis dahin hab ich den Stoff für Englisch drauf, das versprech ich dir.«
Ich reckte den Finger in seine Richtung. »Na, hoffentlich!«
»Bis dann, Emily Dickinson.«
Ich musste mich dazu zwingen, mich umzudrehen und die Tür zum Lokal zu öffnen.
Ich sah ihm zu, wie er den Kofferraum zumachte, ins Auto stieg und wegfuhr, dann hüpfte ich kichernd und freudig quiekend zu Georgia hinüber, die jetzt am anderen Ende des Raums die Jalousien herunterließ.
»Eine lange Pause«, sagte sie, ohne mich anzusehen.
»Wir sind verabredet«, antwortete ich und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Er will am Samstag mit mir an den See.«
»Oh, là, là, an den See!«, machte Georgia in einem spaßig-überdrehten Tonfall. »Das klingt aber reichlich gewagt.«
»Ach, wieso denn?«, sagte ich und ging zur nächsten Jalousie. Meine war viel schneller unten als ihre. »Ich bin ein braves Mädchen. Ich würde nie im Leben irgendwas Gewagtes tun.« Dabei klimperte ich dramatisch mit den Augenlidern.
Georgia drehte sich um und schnippte mit dem Geschirrtuch in meine Richtung. »Ach, meine armen Nerven. So was verkrafte ich einfach nicht.«
Ich beugte mich vor und umarmte Georgia. Ich konnte meine Begeisterung unmöglich für mich behalten.
Wenn ich diesen Tag in einem Wort zusammenfassen müsste, welches wäre es? Endlich.