Kapitel 12

»So langsam dreh ich durch«, keuchte Bethany durchs Telefon. Seit wir unsere Colorado-Pläne schmiedeten, machte sie Fitnesstraining. Mit einer schwabbeligen Figur hätte es keinen Sinn, nach süßen Jungs Ausschau zu halten, meinte sie. Im Hintergrund hörte ich das Surren von ihrem Laufband. »Ich muss jetzt endlich wissen, ob wir im Sommer oder im Winter fahren wollen, das ist das Mindeste.«

»Klar«, sagte ich ungefähr zum millionsten Mal.

»Ich muss schließlich auch ans College denken, verstehst du?«

»Klar«, wiederholte ich.

»Wenn wir nämlich im Winter fahren wollen, kann ich vielleicht nicht mit.« Ein Piepsen erklang und ihre Schritte wurden lauter. Sie rannte jetzt.

»Ich weiß.«

»Andererseits kommen im Sommer die Promis nicht«, schnaubte sie. »Und Zack will, glaub ich, unbedingt den Winter.«

»Blödsinn. Zack träumt bloß davon, dass ihm ein Skihäschen vor die Füße fällt, das nicht richtig fahren kann. Wir können ihn garantiert leicht zum Raften überreden, mit einem einzigen Wort: Bikinis.«

Bethany kicherte, ich hörte wieder ein Piepsen und ihre Schritte wurden noch schneller und noch lauter. »Ich muss jetzt … aufhören«, sagte sie zwischen zwei schnaufenden Atemzügen. »Können wir … uns mal treffen … vor Samstag?«

»Sicher«, sagte ich. »Wie wär’s morgen nach der Schule? Im Shubb’s

»Gut«, antwortete sie. »Ich sag Zack … Bescheid … schick ihm eine SMS.« Es piepste wieder. »Mist«, fluchte Bethany und legte auf.

Der nächste Tag verging langsam, wie fast jeder Tag, seit Cole und ich richtig zusammen waren. Es kam mir vor, als würde die Zeit den ganzen Tag über stillstehen, doch wenn die siebte Stunde endlich kam, war sie viel zu schnell wieder vorbei. Cole hatte in Englisch lauter gute Noten gekriegt, also vertrieben wir uns die Tutorenzeit damit, meine alten Gedichte zu lesen und Songs aus ihnen zu machen oder mit zusammengeknülltem Papier Football zu spielen. Oder wir küssten uns in der Ecke zwischen dem Büroschrank und der Wand, wo uns Mrs Moody nicht sehen konnte, falls sie durchs Fenster in der Tür hineinschaute.

An den Tagen, an denen ich nicht arbeiten musste, fuhren wir nach der Schule manchmal hoch zum Überlaufbecken und Cole spielte Gitarre, während ich Steine nach unten ins Wasser warf.

An diesem Tag allerdings wirkte Cole überhaupt nicht entspannt. Missmutig kam er hereingestapft und begann gleich, über Mr Heldorf, seinen Geschichtslehrer, zu schimpfen.

»Dieser Typ ist echt das Letzte«, knurrte er. »Würgt mir eine miese Note rein, bloß weil ich nicht da war an dem Tag, an dem er einen Test schreibt. Den hätte ich doch nachholen können. Hornochse.«

Ich beugte mich vor und wollte über den Tisch hinweg nach seinen Händen greifen wie immer, aber er zog sie weg und ließ sie in den Schoß sinken.

»Dieser Typ kann einem nicht mal beibringen, wie man sich den Hintern abwischt«, fuhr er fort.

Nach einer Weile fiepte sein Handy und er kramte es aus seiner Jackentasche. Er warf einen Blick aufs Display, verdrehte die Augen und nahm es ans Ohr. »Was ist?«, schnauzte er hinein. Beim Zuhören wurde sein Gesicht immer röter. »Mir doch egal, wie du das machst. Ist nicht mein Problem, echt. Nein, nein! Hör mal, ruf mich nicht wegen so einem Mist an, okay? Ist mir scheißegal, lass mich verdammt noch mal in Ruhe damit. Nerv irgendwen, den’s interessiert.«

Wütend klappte er das Handy zu und steckte es wieder in seine Jackentasche. Sofort begann es wieder zu fiepen, aber diesmal ignorierte er es.

Ich setzte mich aufrecht hin. So hatte ich Cole noch nie erlebt. Seine üble Laune strahlte in den ganzen Raum aus. Sonst war er immer gut drauf, und dass wir zusammen waren, schien ihm manchmal einen richtigen Kick zu geben. Ich war unsicher, wie ich mit diesem neuen Cole umgehen sollte. Ich versuchte ein Lächeln, in der Hoffnung, dass das irgendwie helfen würde.

Doch er verdrehte nur die Augen und schüttelte den Kopf. »Das war meine Mom. Sie hat immer irgendwelche Probleme, die ich für sie lösen soll. Ruft mich dauernd an, will, dass ich sie irgendwohin fahre oder was Blödsinniges für sie erledige. Das hört nie auf.«

»Sie wollte irgendwo hingebracht werden?«, fragte ich und griff wieder nach seinen Händen. Die Berührung schien ihn aus einer Art Umnachtung zu reißen. Es kam mir vor, als nähme er mich erst jetzt richtig wahr.

Er umfasste meine Hände und drückte sie. »Nein. Irgendein anderer Schwachsinn. Ist doch langweilig für dich.« Er stand auf. »Jetzt geh ich mal rüber und schaue, ob Mr Heldorf kurz Zeit hat. Ich seh dich dann nachher.« Er beugte sich vor und küsste mich aufs Ohr.

»Okay«, sagte ich. »Ich komm aber ein bisschen später nach Hause als sonst. Bethany, Zack und ich wollen nach der Schule noch zusammen ins Shubb’s. Geht um Colorado, um was sonst.«

Er hielt inne und strich sich über die Stirn. »Na-tür-lich«, sagte er in sarkastischem Ton. Dann verschwand er.

Ich sah auf die Uhr. Die siebte Stunde war erst in zwanzig Minuten zu Ende. Ich packte meine Sachen und schaute bei Mrs Moody vorbei. »Coles Mutter hat angerufen. Er musste früher weg«, sagte ich. »Kann ich in die Bücherei gehen?«

Sie sah auf die Uhr und nickte. »Bis morgen dann.«

Ich ging aber nicht in die Bücherei, sondern zu Bethanys Schließfach. Während ich auf die Klingel zum Schulschluss wartete, fragte ich mich, was Coles Mutter wohl gewollt hatte und wieso er so wütend geworden war. Und warum es sich angefühlt hatte, als wäre er wütend auf mich.

Wir beschlossen, alle zusammen in Zacks Auto zum Café zu fahren. Zack war super drauf und erzählte uns von seinem Date mit Hannah: Beim Spiel hatte der Schiedsrichter gedroht, ihn und Hannah rauszuwerfen, weil sie so herumgebrüllt hatte. Hinterher hatte sich Zack auf dem Parkplatz von El Manuel’s wegen ihr beinahe mit einem monstergroßen Kerl rumprügeln müssen, der auch noch ein ganzes Stück älter war als er.

»Und am Ende, stellt euch das mal vor«, sagte er lachend, »hat sie ihrer Mom erzählt, dass zwischen uns beiden die Chemie nicht stimmt und dass sie überhaupt keine Lust hat, noch mal mit mir auszugehen. Unfassbar, oder? Ein Arschtritt von Großmaul Hannah! Echt ein neuer Tiefpunkt, sogar für mich.«

Wir kamen im Shubb’s an und hockten uns in eine der Sitzecken. »Eine Runde Käsestangen für drei und einen Pitcher Coke«, bestellte Zack bei der Kellnerin und zeigte auf seine Brust. »Geht auf mich, Ladies.«

»Danke«, sagte Bethany und begann, in ihrer Monstertasche nach dem Colorado-Ordner zu kramen. »Okay, ihr beiden …«

»Nein«, unterbrach Zack und packte uns beide am Nacken. »Jetzt sagt dem lieben Onkel erst mal schön Danke.« Er drückte uns gegen seine Brust.

»Lass das«, quiekte ich, wand mich aus seinem Griff und versetzte ihm einen leichten Schlag. Bethany, die ihm lachend auf den Arm boxte, blieb ein bisschen länger an ihn gedrückt.

»Jetzt bleib mal ernst, Zack«, sagte sie schließlich. »Wir können nicht dauernd rumalbern. Wir müssen endlich entscheiden, was wir machen wollen.«

»Aber genau das will ich euch doch zeigen«, sagte er, schnappte ihren Kopf und zog sie wieder an sich.

Dann brachte die Kellnerin unsere Cola und Bethany nutzte die Gelegenheit, um endlich zum Thema zu kommen. »Ich finde Sommer besser«, sagte sie und klappte ihre Notizen an einer Stelle auf, wo mit dickem Marker Outdoor-Aktivitäten stand.

»Ich bin auch für Sommer. Im Herbst will ich vielleicht ein paar Kurse am Community College belegen«, sagte ich und begriff währenddessen halbwegs fassungslos, dass ich das wirklich wollte. Jahrelang hatte ich immer nur auf die Colorado-Reise hingelebt. Es gab überhaupt nichts anderes. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, was danach passieren würde. Shannin hatte ein Stipendium gekriegt und war zum Studieren von zu Hause weggegangen. Bei Bethany würde es genauso sein. Zack wollte auf eine Schauspielschule. Und ich? Bei mir war da immer nur ein leerer Fleck gewesen, den ich nie gefüllt hatte. Wenn mich irgendwer nach meinen Zukunftsvorstellungen fragte, schüttelte ich das von mir ab. Im Grunde hatte ich nie darüber nachgedacht, dass ich mein eigenes Leben weiterleben musste, nachdem ich in Colorado gewesen war und herausgefunden hatte, warum meine Mutter unbedingt dorthin gewollt hatte. Vielleicht würde mein eigenes Leben dann sogar überhaupt erst anfangen – was immer dieses Leben sein sollte.

»Wann hast du das denn beschlossen?«, fragte Bethany und trank einen Schluck.

Ich zuckte mit den Achseln. »Mhm … keine Ahnung … gerade eben, glaub ich.«

»Geht Cole auch aufs Community College?«, wollte sie wissen. Es hörte sich wie ein Vorwurf an, auch wenn sie es vielleicht gar nicht so meinte.

»Weiß nicht«, sagte ich schnippisch. »Wir haben noch nie drüber gesprochen.«

Bethany guckte mich an. »Cool«, meinte sie.

Die Bedienung brachte unsere Käsestangen und wir begannen, schweigend zu essen. Dann legte Zack wieder mit einer von seinen Geschichten los – es ging um Celia, die ihn gefragt hatte, ob er sich in der Mittagspause zu ihr und ihren Freundinnen setzen würde, die alle neu auf der Schule und ein paar Jahre jünger waren als wir. Zack hatte es getan, was mich nicht überraschte. Er hatte mehr Selbstvertrauen als irgendwer sonst, den ich kannte. Die meisten anderen hätten es viel zu uncool gefunden, sich an einen Tisch mit lauter jungem Gemüse zu setzen.

»Ein paar von diesen Hühnern haben echt einen irren Vorbau«, schwärmte er, mit einem Käsefaden an der Unterlippe. »Wieso habt ihr nie so ausgesehen, als ihr auf die Highschool gekommen seid?«

»Weil wir unseren Eltern nicht eingeredet haben, dass wir unbedingt einen Gel-BH brauchen, darum«, sagte Bethany. Sie deutete auf ihre Notizen. »Okay, dann sind wir uns also einig, dass wir …«

»Ach du Scheiße«, murmelte Zack und ließ seine Käsestange sinken. »Das ist jetzt nicht wahr, oder?«

Bethany und ich folgten seinem Blick durchs Fenster nach draußen. Vor dem Lokal stieg gerade Cole aus und schlug die Autotür zu.

»Hast du Cole gesagt, er soll auch herkommen?«, fragte Bethany. Wieder klang es vorwurfsvoll, auch wenn mir nicht klar war, was genau ich falsch gemacht haben sollte.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Wahrscheinlich will er nur kurz Hallo sagen.«

»Na super«, meinte Zack.

Ich warf ihm einen bösen Blick zu, woraufhin er die Lippen zu einem breiten, künstlichen Grinsen verzog.

»Bin gleich wieder da«, sagte ich und schob mich aus der Sitzecke.

Bis ich bei den Flipperautomaten ankam, war Cole schon im Lokal und hielt Ausschau nach mir. Ich kam von der Seite und fasste ihn um die Taille.

»Hey!«, sagte ich. »Was machst du hier?«

Erst zuckte er zusammen, doch dann drehte er sich lächelnd zu mir um und schlang mir die Arme um die Hüften. »Dich suchen«, sagte er. »Mit Heldorf ist es schneller gegangen, als ich dachte.«

»Hat er sich das mit der Note noch mal überlegt?«

Cole schüttelte den Kopf. »Nein. Aber das ist halb so wild. Ich kann trotzdem beim Probetraining fürs Basketballteam mitmachen.« Er zog mich an sich. »Mhm, du fühlst dich so gut an. Aber ich möchte nicht stören. Ich wollte dich einfach nur sehen.« Jetzt war Cole wieder so, wie ich ihn kannte – gut gelaunt und freundlich.

»Du störst überhaupt nicht«, sagte ich. Zack musste lernen, mit Cole klarzukommen, und für Bethany war alles in Ordnung, solange wir uns nicht beim Planen stören ließen. »Setz dich einfach zu uns.«

Ich packte seine Hand und zog ihn mit an den Tisch. Dort setzte ich mich neben Bethany, sodass Zack ans andere Ende durchrutschen musste. Das schien ihn zu irritieren, aber mir war das egal. Ich wollte nicht neben ihm sitzen. Weiß der Teufel, was ihm diesmal einfiel, um Cole zu reizen. Am Ende würden sie sich womöglich noch prügeln.

»Hallo, großer Meister. Wie läuft’s denn so? Und was verschafft uns die Ehre?«, tönte Zack.

»Alles klar«, antwortete Cole knapp. »Hatte Sehnsucht nach Alex.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte Zack anzüglich.

Ich warf ihm einen wütenden Blick zu, damit er die Klappe hielt. Anscheinend kapierte er das, denn er wandte sich von Cole ab. »Gut, Bethany«, meinte er, »wo waren wir?«

»Wie’s aussieht, haben wir uns auf den Sommer geeinigt«, sagte sie. »Einverstanden?«

»Einverstanden«, sagte ich.

»Nein«, sagte Zack. »Nicht einverstanden. Ich will Ski fahren.«

»Wie wär’s mit Wasserski?«, fragte ich. »Beth? Gibt’s da irgendwo einen See?«

»Mhm«, sagte sie und blätterte in ihrem Ordner. »Ich weiß nicht …«

»Ohne Ski läuft gar nichts«, sagte Zack und stampfte unter dem Tisch demonstrativ mit dem Fuß auf. »Ein Mann muss sich durchsetzen können!«

»Wir können dich ja auf Rollerblades hinterm Campingbus herziehen«, schlug ich vor.

Bethany lachte. »Ja! Die Interstate 70 soll eine spitzenmäßige Piste sein, hab ich gehört.«

»Ha, ha, ha, das findet ihr wohl superwitzig, was?«, sagte Zack. »Zufällig bin ich ein Gott auf Rollerblades!«

»Seit wann das denn?«, fragte ich und im selben Moment meinte Bethany: »Wie kommt’s dann, dass ich dich noch nie hab fahren sehen?« Dann quasselten wir alle durcheinander. Zack warf mit einem Stück Brot nach mir, das in meinen Haaren landete, und Bethany versenkte eine Serviette in Zacks Glas. Das übliche Chaos eben.

»Mal im Ernst«, sagte Cole und alle verstummten. »Ich weiß zwar nicht, ob’s das noch gibt, aber früher hatten die auf den alten Skipisten manchmal solche riesig langen Rutschen, auf denen man im Sommer ins Tal runterdüsen konnte. Mein Onkel hat mich als Kind mal dorthin mitgenommen. Hat wahnsinnig Spaß gemacht.«

Wir sahen uns an.

»Klingt gut«, meinte Bethany.

Ich nickte. »Unbedingt.«

»Weißt du was, großer Meister«, sagte Zack. »Das ist gar keine schlechte Idee. Alex, vielleicht solltest du dir diesen Typen doch warmhalten.«

Ich spürte, wie Cole neben mir erstarrte, versuchte es aber zu ignorieren. Zack war nur … na ja, eben typisch Zack. Und ich merkte, dass sich Cole gleich wieder entspannte. Vielleicht, überlegte ich, würde ich es am Ende doch irgendwie hinkriegen, dass die beiden miteinander auskamen.

»Das hab ich auch vor«, sagte ich und schmiegte mich an Coles Schulter.

»Wie ist das mit eurem Camper?«, fragte er. »Wie viele Leute passen da rein?«

Bethanys Kopf schoss in die Höhe. »Das mit dem Camper ist noch gar nicht fest«, antwortete sie fast im Flüsterton.

Cole nickte.

»Warum fragst du?«, sagte ich und versuchte, mich so zu drehen, dass ich sein Gesicht sehen konnte, aber ich war zu weit nach unten gerutscht.

Er zuckte mit den Achseln. »Einfach so. Ich bin bloß neugierig. Andererseits … Bethany, wär’s in Ordnung für dich, wenn du die Infos an mich weitergibst? Wäre echt cool, im Sommer wegzufahren.«

»Mhm, kann ich machen«, sagte Bethany, während sie mit dem Daumen an einer Papierecke herumfummelte. »Ich geb dir die Sachen, wenn wir uns das nächste Mal sehen.«

Auf dem Weg aus dem Lokal tat mir das Gesicht weh vor lauter Lächeln. Ich fand die Vorstellung, dass Cole mit uns nach Colorado käme, wahnsinnig aufregend. Als hätte es schon immer so sein sollen.

Und was noch besser war: Wie es aussah, kamen die drei jetzt doch irgendwie miteinander aus. Vielleicht würde am Ende noch alles wunderbar werden.