Kapitel 13

Cole wartete an dem Tisch ganz hinten im Lokal. Seit dem Abend im Kino kam Cole immer hierher, wenn ich arbeitete, bestellte sich einen Kaffee, setzte sich an den hintersten Tisch und machte seine Hausaufgaben, bis ich fertig war. Stundenlang saß er da. Manchmal starrte er mich die ganze Zeit über an. Wenn ich von der Kasse aufblickte, zwinkerte er mir zu oder blies mir einen Kuss herüber. Ich fand das wahnsinnig romantisch.

»Hat der keine Freunde?«, fragte Georgia eines Abends, als Cole, kurz bevor wir den Laden zumachten, aufstand und zu seinem Auto schlenderte, wo er wie üblich warten würde, bis ich mit dem Aufräumen fertig war.

»Schon, aber die haben alle zu tun. Er ist neu an der Schule, das weißt du doch. Die andern kennen sich schon seit Ewigkeiten. Wenn die Basketballsaison losgeht, kommt er bestimmt nicht mehr so oft. Außerdem ist das doch romantisch.«

Georgia nickte. »Aber auch unheimlich«, fügte sie hinzu.

Ich warf mit einer Büroklammer nach ihr. »Was soll denn daran unheimlich sein?«

Sie zuckte mit den Achseln, beugte sich vor und hob die Büroklammer auf. »Ich weiß nur, dass ich das unheimlich fände, wenn jemand tagein, tagaus den ganzen Abend über nichts weiter täte, als mich anzustarren.«

»Ist doch total süß«, sagte ich.

»Deine Freunde hab ich in letzter Zeit gar nicht mehr hier gesehen«, sagte sie.

»Stimmt«, antwortete ich. »Wir haben eben alle viel zu tun.« Dabei war mit klar, dass nur ich keine Zeit mehr hatte. Bethany und Zack steckten auch jetzt noch dauernd zusammen, aber ich hatte mich immer öfter rausgeredet und gehofft, dass sie das verstehen würden, was wahrscheinlich nicht der Fall war. Ich war jetzt fast ununterbrochen mit Cole zusammen. An den Tagen, an denen ich Schicht hatte, sahen wir uns nach der Arbeit; wenn ich freihatte, verbrachten wir den ganzen Nachmittag miteinander; und am Wochenende waren wir sowieso zusammen. Mittlerweile kam Cole auch in den Pausen zwischen den Schulstunden fast immer an mein Schließfach, was hieß, dass Bethany, Zack und ich uns nicht mal dann gegenseitig auf dem Laufenden halten konnten. Ich war mir nicht sicher, aber es konnte durchaus sein, dass die beiden bewusst nicht mehr herkamen, weil ihnen klar war, dass Cole auch da sein würde.

Ich sah Bethanys Auto inzwischen ziemlich oft drüben bei Zack stehen. Per SMS fragten sie mich, ob ich nicht Lust hätte, auch zu kommen, doch irgendwie passte es nie. Ich war innerlich zerrissen, aber ich wollte nun mal gern mit Cole zusammen sein. Er hatte keine Freunde außer mir und ich fand es natürlich auch nicht gerade furchtbar, dass dieser tolle Junge mich zum Mittelpunkt seines Lebens machte. Auch wenn bis jetzt noch nicht ausdrücklich von Liebe die Rede gewesen war, wusste ich, dass ich mich ernsthaft verliebt hatte. Und jemand, mit dem du eine wirklich intensive Beziehung hast, wird wohl immer auch dein bester Freund sein, oder?

Nachdem Cole bei dem Treffen mit Bethany und Zack vorgeschlagen hatte, er könnte doch mitfahren nach Colorado, hatte ich gedacht, wir würden jetzt öfter mal was zu viert unternehmen. Anfangs hatte ich mich ernsthaft darum bemüht. Aber anscheinend reichte allein Coles Anwesenheit, um Zack auf die Palme zu bringen, und Bethany konnte nicht damit umgehen, zwischen den beiden zu stehen, darum zog sie sich immer mehr zurück. Nach ein paar Tagen, die für alle unbehaglich gewesen waren, hatten die beiden nur noch so lange bei mir am Schließfach gestanden, bis Cole auftauchte. Und irgendwann waren sie gar nicht mehr gekommen.

»Tja«, sagte Georgia. »Ich vermisse diesen witzigen Jungen. Der hat’s faustdick hinter den Ohren. Wenn er hier reinkommt, ist immer was los.«

»Zack? Stimmt. Der ist einfach so.« Ich dachte an all die Sachen, die sich Zack im Lauf der Jahre hatte einfallen lassen, um Bethany und mich zum Lachen zu bringen, und musste unwillkürlich grinsen. Irgendwie vermisste ich ihn auch. Ich beschloss, gleich nach der Arbeit wieder mal zu ihm rüberzugehen.

»Wirklich super, dass du so gute Freunde hast«, sagte Georgia und schloss den Safe ab. »Das wär’s für heute, Süße.« Sie gähnte und streckte dabei ihre Arme. »Komm gut nach Hause! Und sag Zack, er soll mal wieder vorbeischauen.«

»Okay, Georgia, das mach ich«, sagte ich, loggte mich aus und legte meine Schürze ab.

Draußen warf ich einen Blick über den Parkplatz, wo Cole gerade aus dem Auto stieg. Ich lief zu ihm, schlang die Arme um ihn und sog seinen Duft ein.

»Du riechst so gut«, sagte ich. »Es wäre schön, wenn ich jetzt nicht ohne dich losmüsste.«

Er hielt mich auf Armeslänge vor sich. »Musst du auch nicht«, sagte er. »Steig ein. Ich hab was für dich.«

»In Ordnung«, sagte ich. »Aber nur kurz. Du musst mich dann zurück zu meinem Auto bringen. Ich will nachher noch bei Zack vorbei.«

»Wieso das denn?«, fragte er.

Ich warf meine Arbeitskappe auf den Rücksitz. »Einfach, um Hallo zu sagen«, gab ich zurück. »Irgendwie vermiss ich ihn ein bisschen.«

Cole brummte vage und stellte das Radio an. Wir fuhren ein paar Meilen in dichtem Verkehr. Währenddessen löste ich mein Haargummi und ließ den Arm aus dem offenen Fenster baumeln, um den Geruch nach Kartoffelsuppe loszuwerden, der nach der Schicht immer an mir klebte.

Nach einer Weile bog Cole auf einen Parkplatz ein und machte den Motor aus. Ich spähte aus dem Fenster. Wir waren am McElhaney-Park, direkt neben dem Baseballfeld, auf dem Zacks Little-League-Turniere stattgefunden hatten. An den Reifenschaukeln ein Stück weiter hatten Bethany und ich früher stundenlang über die Jungs gequatscht, für die wir gerade schwärmten. Cole sprang aus dem Auto und lief Richtung Spielplatz, wo er die Spielgeräte musterte. Neugierig folgte ich ihm.

»Das Karussell!«, rief ich begeistert und rannte hin. Ich hüpfte auf die rostige Metallfläche und stellte mich genau in die Mitte, so wie Bethany und ich früher, wenn wir uns tollkühn fühlten. »Schieb mich an, Cole!«

Er blickte hoch und ich gab ihm ein Zeichen, dass er rüberkommen sollte.

»Guck mal, freihändig!«, rief ich ihm zu, während er sich langsam näherte.

Er legte den Kopf schief und beugte sich vor, packte die Metallstangen und gab dem Karussell einen kräftigen Schubs. Ich quiekte und spannte die Muskeln in Beinen und Rücken an, um die Balance halten zu können. Die Welt begann sich zu drehen, immer schneller und schneller, immer weiter von mir weg, bis alles verschwommen war, genau wie früher. Bethany und ich hatten uns immer abgewechselt. Wer früher Schiss bekam und sich doch an den Stangen festhielt, hatte verloren. Ich hatte immer gewonnen.

Ich lachte, richtete mich auf und reckte die Arme in den Himmel. »Siehst du? Ich bin Dreh-Champion!«, schrie ich Cole triumphierend zu.

»Echt?«, rief Cole von irgendwo in der Nähe. »Wie schnell darf’s denn werden, Champion?«

»So schnell, wie du kannst, Baby!«, lachte ich und das Karussell unter mir schlingerte wild. »Woah!«, brüllte ich, beugte wieder die Knie und streckte die Arme seitlich weg, um nicht zu fallen. »Das ist echt schnell!«

Das Karussell schlingerte wieder. Und wieder. Cole schubste es derart fest an, dass ich ihn vor Anstrengung aufstöhnen hörte. Die Welt um mich herum drehte sich immer schneller und schneller, bis alles nur noch taumelnde Finsternis war. Ich konnte die Parkplatzlichter nicht mehr erkennen, hatte nicht einmal die leiseste Ahnung, wo ich mich in Relation zu ihnen befand.

Cole ächzte und das Karussell drehte sich noch schneller. Mein rechter Fuß rutschte Richtung Rand und meine Arme wirbelten herum bei dem Versuch, trotzdem das Gleichgewicht zu halten. Ich wollte nach unten schauen, nach den Haltegriffen suchen, war dafür aber viel zu desorientiert. Alles begann zu schwanken, rauf und runter, wie auf einem Schiff bei Sturm.

»Cole«, sagte ich und tastete mit den Händen um mich herum. »Hör auf. Das ist zu schnell!«

Aber Cole stöhnte nur und das Karussell bekam noch mehr Schwung. Wieder rutschte ich ein Stück weg und fuchtelte hektisch mit den Armen.

»Hör auf!«, rief ich, lauter diesmal. »Echt! Das ist zu schnell!«

Falls Cole mich hörte, ignorierte er mich. Meine Füße rutschten immer weiter nach hinten und mir war klar, dass ich bald den Halt verlieren würde.

»Cole, stopp!«, brüllte ich, wobei mir der Fahrtwind Tränen in die Augen trieb und sie über meine Schläfen fegte. »Ich fall runter!«

Eine Stange stieß gegen meine Hüfte. Ich wurde hin- und hergeschleudert. Ich versuchte, die Stange zu packen, war aber viel zu durcheinander, um sie zu finden, obwohl sie gerade eben noch da gewesen war.

»Cole«, wimmerte ich. »Hör auf.« Aber es war zu spät. Meine Schuhe rutschten über die glatte Metalloberfläche. Ich wusste, dass ich irgendwas tun musste, wenn ich mir nicht die Knochen brechen wollte.

Ich ließ mich auf die Knie sinken und tastete herum, bis ich einen Haltegriff fand, dann hakte ich mich mit den Armen daran fest und ließ die Beine einfach unter mir weggleiten. Beinahe im selben Moment berührten meine Schuhspitzen den Boden und ich grub sie tief in den Rindenmulch des Spielplatzes. Meine Arme rutschten mit einem harten Ruck in die Biegung des Griffs und ich schrie auf. Das Karussel wurde langsamer und meine Beine knallten gegen die von Cole.

»Hoppla, unser Champion ist runtergefallen!«, witzelte er mit einem Unterton, der irgendwie gemein klang. Das Karussell stand jetzt still, aber er machte nicht die geringsten Anstalten, mir beim Aufstehen zu helfen. Ich senkte die Knie in den Rindenmulch, ließ den Griff los und legte erst mal die Stirn auf das kühle Metall, um wieder zu Atem zu kommen.

»Das ist nicht witzig, Cole!«, sagte ich böse.

Da lachte er laut auf. »Herrje, Alex. Sei doch nicht so ein Jammerlappen«, sagte er und rempelte mich mit dem Knie an. »Wär lustiger gewesen, wenn Zack dich angeschubst hätte, was?«

Ich zog mich auf die Ellbogen und fuhr mir über die Augen. »Nein«, sagte ich, kochend vor Wut. »Ich hab doch total laut geschrien. Wieso hast du nicht aufgehört?« Ich hielt die Frage zurück, die mir auf der Zunge lag: Wolltest du, dass ich mir wehtue?

»Ach, komm schon, Alex«, sagte er. Ich spürte an der Bewegung des Karussells, dass er sich neben mir niederließ. Er schob den Arm zwischen den Haltegriffen durch und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Dann legte er mir eine Hand unters Kinn und hob es so an, dass ich ihm ins Gesicht sah. »Ich würde doch nie zulassen, dass dir was passiert.«

Ich blitzte ihn nur an.

Aber je wütender ich guckte, desto sanfter wurde sein Blick. Er streichelte meine Wange mit dem Daumen und sagte: »Ich liebe dich.«

In diesem Moment schien nichts anderes zu zählen. Mein Zorn war wie weggewischt durch seine Berührung. Noch nie hatte so viel Gefühl in seinen Augen gelegen – als würde er etwas anstaunen, das zerbrechlich und rätselhaft war. Sein Gesicht schien überzufließen vor lauter Zärtlichkeit. Hätte mein Herz nicht sowieso schon wie wild geklopft, hätte es in diesem Moment damit angefangen. Er hatte noch nie gesagt, dass er mich liebt.

Überhaupt niemand hatte das jemals zu mir gesagt.

Plötzlich kam eine Erinnerung an meine Kindheit zurück. Ich hatte meinen Vater gefragt, ob es zwischen ihm und meiner Mutter »Liebe auf den ersten Blick« gewesen war. Wir waren gerade in der Garage, wo ich ihm half, das Auto zu reparieren. Er hatte nur dagestanden und mit den Autoteilen hantiert, die er in ein Tuch gewickelt hielt, dann hatte er aufgehört und für einen Augenblick ins Nichts gestarrt. Im nächsten Moment hatte er sich urplötzlich aus seiner Trance gerissen und geschnauzt: »Alex, ich hab keine Zeit für so … Gib mir den Schraubenschlüssel da!« Damit verschwand sein Kopf wieder unter der Motorhaube und er arbeitete weiter – Ende der Debatte.

Später an dem Tag hatte ich beim Geschirrspülen Shannin gefragt, ob sie an Liebe auf den ersten Blick glaube. Sie hatte mir direkt ins Gesicht geguckt und gesagt: »Nein. Weil du nur den wirklich liebst, der dein Seelenverwandter ist. Und der ist schließlich deine andere Hälfte, also hast du ihn schon mal getroffen … im Himmel oder so.«

Ich hatte lange und angestrengt über diese Aussage nachgedacht und versucht, sie zu begreifen. Sich im Himmel treffen – das klang fast, als wäre der Himmel eine einzige große Party. Shannins Vorstellung von Liebe auf den ersten Blick, Seelenverwandten und Himmelstreffen war mir total fremd gewesen.

Bis zu diesem Moment.

Auf einmal war mir ganz egal, was Cole gerade getan hatte. Auch seine Probleme mit Zack kümmerten mich nicht mehr. Es zählte nicht, dass er mir Angst eingejagt und mich Jammerlappen genannt hatte. Er liebte mich. Jetzt wusste ich es sicher. Und ich liebte ihn auch.

Zuerst hatte ich Angst, ich könnte ihm gar keine Antwort darauf geben. Ich atmete seinen Geruch ein und sah, wie sich seine Kiefermuskulatur bewegte, während er mich anschaute, ganz ernst und besorgt. Ich spürte die Wärme seiner Hand auf meinem Kinn. Am liebsten hätte ich gesagt: Kneif mich, damit ich weiß, dass ich nicht träume. Lass mich aufwachen, bevor es zu weit geht.

Doch stattdessen nahm Cole meine Hand und zog mich hoch. Ohne die Augen von ihm zu lassen, stellte ich mich auf. Er rutschte ein Stück zurück und ich setzte mich auf seinen Schoß, mit einem Kribbeln im Bauch und mit dem Gefühl … na ja, dass es Momente wie diesen im wirklichen Leben gar nicht gibt. Jedenfalls nicht für Durchschnittsmädchen wie mich.

»Ich hab was für dich«, sagte Cole, griff in seine Tasche und holte einen flauschigen kleinen Plüschbären heraus. Er war weiß und trug ein rotes Hend, auf dem Iyou stand. Cole gab ihn mir und sagte: »Wir sind jetzt genau einen Monat zusammen.«

»Der ist so süß«, flüsterte ich und war froh, meine Stimme wiedergefunden zu haben. Ich schmiegte den Bären an mein Kinn. Dann sagte ich: »Ich liebe dich auch«, und schlang die Arme um Coles Hals. Diesen Satz hatte ich bis jetzt noch nie gesagt. Nicht mal vom Liebhaben war je die Rede gewesen – Dad, Celia, Shannin und ich sprachen nicht über so was, auch zu meiner Tante Jules hätte ich nie irgendwas in der Richtung gesagt. Und zu Bethany und Zack schon gar nicht.

»Geh nicht zu Zack heute Abend«, raunte Cole.

»Nie im Leben«, antwortete ich mit einem Flüstern. »Heute ist unser Tag

»Glückwunsch, Dreh-Champion!«, sagte Cole.

»Glückwunsch«, gab ich zurück.

Wir küssten uns und Cole drückte dabei die Füße in den Boden und stieß das Karussell wieder an, sodass wir uns gemächlich in der Nachtluft zu drehen begannen. Und auch wenn wir uns schon öfter geküsst hatten – dieser Kuss war anders. Es stand so viel mehr dahinter. Cole schob mir eine Locke hinters Ohr, dann küssten wir uns weiter, den kleinen Bären gemeinsam in den Händen haltend. Da wusste ich, dass ich mein ganzes Leben lang auf diesen Moment gewartet hatte. Ich wollte das hier. Und ich wollte, dass es vollkommen war. Unantastbar. Kein nächtliches Drama, keine Flucht in die Berge.

Cole und ich würden etwas miteinander erleben, das so war, wie ich es auf den glücklichen Bildern in der Schachtel unter meinem Bett gesehen hatte. Nur wäre es bei uns noch besser.