Kapitel 40

Georgia musste noch mal kurz ins Büro, um eine Nachricht an ihren Kollegen von der Morgenschicht zu schreiben – es ging um irgendeinen Bericht für Dave, der am nächsten Abend fertig sein sollte. Darum brach ich schon vor ihr auf, eingehüllt in mein Kapuzenshirt, als könnte es mich beschützen.

Meine Nase war verstopft, meine Augen brannten, die Brust tat mir weh. Und ich hatte Angst. Trotzdem fühlte ich mich besser als seit Langem. Als wäre ein Gewicht von mir genommen. Ich würde tun, was schon seit Ewigkeiten anstand. Ich würde ehrlich sein. Ich würde unversöhnlich sein. Entschlossen. Ich würde es durchziehen. Ich war stark. Ich würde es hinkriegen. Bis ich Cole das nächste Mal sah, würde ich ganz genau wissen, was zu tun war.

Aber ich bekam keine Gelegenheit, mich vorzubereiten.

Als ich um die Ecke bog, stand Cole da, an mein Auto gelehnt.

»Na, habt ihr Party gemacht?«, sagte er, und schon der Klang seiner Stimme verriet mir, dass er sauer war. »Hat ja lang genug gedauert. Ich warte schon ewig.«

»Ich musste alles fertig machen für morgen«, sagte ich und trat ihm mutig entgegen – mutiger als je zuvor, obwohl ich zitterte vor Angst. Sogar meine Stimme bebte.

»Ich hab dich gesehen, vorhin mit Maria«, sagte er. »Ihr habt geredet.«

Ich zitterte noch mehr. Wie lange stand er schon hier draußen? Ich bewegte die Lippen, um etwas zu sagen, wusste aber nicht, was.

»Lass mich mal raten, über was ihr beiden wohl gesprochen habt«, sagte er. »Das Wetter vielleicht?« Er lachte bitter. Ich zog den Autoschlüssel aus der Jackentasche und ließ die Zentralverriegelung aufspringen. Er riss mir den Schlüssel aus der Hand und sperrte die Türen mit einem Knopfdruck wieder zu.

»Cole«, sagte ich, »gib mir den Schlüssel. Ich fahre nach Hause.«

Da schoss sein Arm vor und er packte mich bei den Haaren am Hinterkopf. Ich gab ein Geräusch von mir, doch er zerrte nur noch heftiger und drehte meinen Kopf ganz nach hinten, sodass ich ihm direkt in die Augen sah.

»Hat diese Nutte dir einen Haufen Lügen über mich erzählt?«, fragte er.

Ich versuchte, den Kopf zu schütteln. »Nein«, sagte ich. »Wir haben nur geredet. Lass mich.«

Sofort hasste ich mich dafür, dass ich schon wieder zurückfiel in das alte Muster und einfach sagte, was Cole hören wollte. Als hätte das Gespräch zwischen Georgia und mir nie stattgefunden. Einen verzweifelten Moment lang hatte ich das Gefühl, ich würde es niemals hinkriegen, mich von ihm zu trennen. Wir würden immer wieder in die gleiche Lage kommen wie jetzt – mit Cole am längeren Hebel, jedes Mal.

Cole ließ meine Haare los und starrte mich wutentbrannt an. »Lügnerin«, sagte er. »Du bist eine gottverdammte Lügnerin, Alex.«

Innerlich mobilisierte ich meine ganze Kraft. Ich musste das hier tun. Ich musste ihn loswerden. Musste für mich selbst sorgen. Und für meine Zukunft.

»Sei still«, sagte ich, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

Er zog eine Augenbraue in die Höhe und atmete tief ein. »Was? Hab ich richtig gehört? Hat mir diese Schlampe von Freundin da eben den Mund verboten?«, sagte er. »Das würde sie sich nie trauen. Sie weiß genau, dass ich ihr in den Arsch trete, wenn sie so was auch nur denkt.«

Er löste sich von der Stoßstange und beugte sich über mich, was mich nach hinten stolpern ließ, immer weiter weg von meinem Auto.

»Rühr mich nicht an«, sagte ich. Inzwischen zitterte ich so sehr, dass mir die Zähne klapperten.

Die Pupillen in seinen Augen glühten dunkel und jeder Muskel seines Körpers war angespannt, bereit zum Sprung. Sein Blick glitt an meinem Hals entlang und einen Moment lang glaubte ich, er wolle mich erwürgen.

»Ich dachte, ich hätte dir gesagt, dass du dieses Drecksding da nicht mehr tragen sollst«, knurrte er, grapschte nach Moms Traumfänger und riss ihn mir herunter. Ich spürte, wie das Lederband kaputtging, und fühlte mich zum ersten Mal seit meinem achten Lebensjahr nackt und ganz allein. Der Schutzwall zwischen mir und meinen Albträumen war zerstört.

Er hielt mir die ruinierte Kette vors Gesicht und schleuderte sie dann quer über den Parkplatz. Im Dunkeln konnte ich nicht sehen, wo sie landete. Sie war verschwunden. Alles, was mir wichtig war, stürzte in sich zusammen. Alles war weg.

In mir zerbrach etwas. Ich richtete mich auf. Schlagartig verschwand das Zittern und ich stieß ihm beide Hände gegen die Brust, mit aller Kraft. Er stolperte nach hinten und riss dabei den Außenspiegel meines Autos aus der Arretierung. Mit einem satten Klacken sprang der Spiegel wieder zurück auf seine Position.

»Du hast sie kaputt gemacht!«, schrie ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte schreien können. »Es ist vorbei. Lass mich in Ruhe. Komm nie mehr in meine Nähe.«

Er lachte. Als wäre das, was ich gerade gesagt hatte, das Komischste, was er je im Leben gehört hatte. Als hätte mein Stoß ihn nur gekitzelt. Er warf den Kopf in den Nacken und schickte ein raues, scheinbar endloses Gelächter in den Nachthimmel.

Dann machte er sich lang, bäumte sich auf, und bevor ich wusste, was geschah, lag ich auf dem Boden, mit dem Kopf direkt neben dem Autoreifen.

Mein Gesicht schmerzte. Nicht wie vorher. Dieses Mal war es ganz anders. Es tat weh und prickelte und fühlte sich zugleich taub und heiß an. Als ich mir an die Augenbraue fasste, berührten meine Finger eine klaffende Wunde und meine Hand war sofort blutig. Außerdem hatte ich mir in die Zunge gebissen, ich schmeckte das Blut im Mund. Ich würgte und spuckte und bemühte mich zu begreifen, was da gerade passiert war.

»Du hältst dich jetzt für richtig tough, was? Redest mit dieser durchgeknallten Hure und denkst auf einmal, du könntest mich rumschubsen und einfach so abservieren? Es wird nie vorbei sein, Alex, hörst du mich? Steh auf. Steh auf, verdammt noch mal!«

Ich rollte mich zur Seite und überlegte fieberhaft, wie ich auf die Beine kommen könnte. Mir war schwindlig und ich fand mich nicht mehr zurecht in der Welt. Anscheinend dauerte es Cole zu lange, denn ich sah seine Schuhe in großen Schritten näher kommen. Dann hob sich einer vom Boden und im nächsten Moment rang ich nach Luft, denn die Fußspitze grub sich tief in meinen Magen.

Cole war es egal, dass ich nicht mehr atmen konnte, er schimpfte nur herum, ich wäre verrückt, wenn ich glaubte, er ließe Maria und mich Lügengeschichten über ihn erzählen. Er beugte sich herunter und schnappte meinen Arm, verdrehte ihn und zog ihn so schnell und so brutal nach oben, dass ich spürte, wie darin etwas riss. Ich schrie, rappelte mich hoch und kam irgendwie auf die Füße.

»Bitte«, flehte ich ihn an, genau wie an dem Tag in seinem Zimmer. »Bitte, okay. Okay. Hör auf. Bitte.«

»Tut weh, was?«, fragte er und rammte mir zweimal die Fingerknöchel in den Hinterkopf.

»Cole«, wimmerte ich. »Bitte. Lass mich einfach nach Hause.«

»Zu Zack?«, brüllte er mir ins Gesicht und riss noch fester an meinem Arm. Ich schrie auf und er stieß mich mit so viel Kraft nach hinten, dass ich mich leicht und schwebend fühlte, als mein Hinterkopf aufs Pflaster knallte.

Ich weiß nicht, wie lange es ging. Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann zu einer Kugel gekrümmt auf der Seite lag, während seine Füße gegen jede Stelle meines Körpers traten, die sie erwischen konnten: meine Rippen, mein Steißbein, mein Gesicht, mein Ohr.

Das war’s, dachte ich. Maria hat recht gehabt. Er bringt jemanden um, nämlich mich. Ich bin nicht schnell genug von ihm losgekommen. Das ist alles meine Schuld. Und gerade als ich den Schmerz schon fast nicht mehr spürte und meine Gedanken wegdrifteten, hörte er auf.

»Hey«, schrie eine Stimme. Ich öffnete ein Auge so weit, wie es ging, und sah, wie Georgia auf uns zugerannt kam. Ihre Tasche, ihren Schlüssel und ein Etui mit Geld ließ sie einfach fallen. »Lass sie! Lass sie!«

Cole machte einen Schritt zurück und hob die Hände, als hätte er mich nie angerührt, und Georgia drängte sich mit ausgestreckten Armen zwischen uns beide, um mich zu beschützen.

Ich konnte nur ein Auge aufmachen. Aber ein Auge genügte, um ein Rasen in Coles Gesicht zu sehen, das schlimmer war als alles, was ich von ihm kannte. Er wirkte komplett wahnsinnig.

Der bringt uns beide um, dachte ich und wünschte mir sehnlichst, ich hätte Georgia nicht in diese Sache reingezogen.

Aber das tat er nicht. Er schrie nur »Okay, okay!« und atmete so tief und regelmäßig, dass man hätte glauben können, es wäre für ihn nur ein gutes Konditionstraining gewesen, mich so zuzurichten. »Bis bald, Schlampe«, sagte er, doch ich reagierte nicht. Ich konnte nichts weiter tun, als die Augen zu schließen und abzutauchen, an einen Ort, wo meine Knochen heil waren, wo mein Blut nicht in den Rissen des Parkplatzbodens versickerte, wo ich mich nicht wie ein aufgeplatzter Sandsack fühlte und nicht auf dem Asphalt lag, als würde ich nie mehr aufstehen.

Während ich an diesen Ort der Schwärze entschwebte, hörte ich Georgias Stimme, die erst jemandem in energischem Ton die Adresse vom Bread Bowl durchgab und mir dann ins Ohr flüsterte, dass alles gut werden würde. Ich hörte auch, wie sie sagte: »Ihre Tochter ist verletzt«, und fragte mich, ob es wohl so schlimm war, dass am Ende jemand mein Gehirn von der Straße spritzen müsste. Und dann hörte ich Sirenen und Stimmen, die mit mir sprachen, und bald darauf spürte ich, wie ich weggetragen wurde. Die Augen machte ich die ganze Zeit über nicht auf.

Doch egal wie schwarz es hinter meinen Lidern sein mochte, es war lange nicht so schwarz wie die Welt, die mich erwarten würde, wenn ich die Augen wieder aufschlug.