Der Geist von Gideon Wise

 

Father Brown hat diesen Fall immer als das vertrackteste Beispiel für die Theorie des Alibis betrachtet: jene Theorie, die behauptet, daß es trotz des mythologischen irischen Vogels für jeden unmöglich ist, gleichzeitig an zwei Stellen zu sein. Um damit anzufangen: James Byrne, ein irischer Journalist, kam vielleicht dem irischen Vogel am nächsten. Er kam dem An-zwei-Stellen-gleichzeitig-Sein so nahe, wie nur irgend jemand das kann: denn er befand sich binnen 20 Minuten an zwei Stellen in den gegensätzlichsten Extremen der sozialen und politischen Welt. Die erste war in den Hallen des Grandhotels Babylon, das der Treffpunkt jener drei Wirtschaftsmagnaten war, die sich damit befaßten, eine Aussperrung in der Kohleindustrie zu organisieren und sie als Kohlestreik zu denunzieren, die zweite war in einer eigenartigen Kneipe, die nach außen die Fassade eines Gemüseladens hatte, wo sich das eher unterirdische Triumvirat jener traf, die die Aussperrung liebend gerne in einen Streik verwandelt hätten – und den Streik in eine Revolution. Der Reporter wechselte zwischen den drei Millionären und den drei bolschewistischen Führern mit der Immunität des modernen Herolds oder des neuen Botschafters hin und her.

Er traf die drei Bergbaumagnaten verborgen in einem Dschungel blühender Pflanzen und einem Wald kannelierter und überladener Säulen aus vergoldetem Gips an; vergoldete Vogelkäfige hingen hoch oben unter ausgemalten Kuppeln zwischen den höchsten Blättern der Palmen; und in ihnen befanden sich Vögel der buntscheckigsten Farben und der unterschiedlichsten Stimmen. Kein Vogel sang je in der Wildnis ungehörter, und keine Blume verschwendete ihren süßen Duft je unbeachteter an die Wüstenluft, als die Blüten jener hohen Gewächse an diese eifrigen und atemlosen Geschäftsleute, meist Amerikaner, die an jenem Orte miteinander redeten und hin und her liefen. Und dort saßen inmitten einer Explosion von Rokoko-Ornamenten, die nie jemand ansah, und dem Geschnatter teurer fremdländischer Vögel, auf das nie jemand hörte, und in Massen opulenter Polsterungen und einem Labyrinth luxuriöser Architektur jene drei Männer und sprachen darüber, daß Erfolg auf Überlegung, Sparsamkeit, Wachsamkeit in der Wirtschaft und auf Selbstbeherrschung gründe. Einer von ihnen sprach allerdings nicht so viel wie die anderen; aber er beobachtete mit seinen hellen und bewegungslosen Augen, die von seinem Zwicker zusammengeklemmt erschienen, und das ständige Lächeln unter seinem schwarzen Schnurrbart sah eher wie ständiger Hohn aus. Das war der berühmte Jacob P. Stein, und er sprach nie, bevor er etwas zu sagen hatte. Sein Gefährte jedoch, Gallup der alte Pennsylvanier, ein riesiger fetter Kerl mit ehrwürdig grauen Haaren, aber dem Gesicht eines Boxers, redete viel. Er war in jovialer Stimmung und gerade dabei, den dritten Millionär halb zu verspotten, halb zu bedrohen, Gideon Wise – ein harter, trockener, eckiger, alter Vogel von jenem Typus, den seine Landsleute mit Hickoryholz vergleichen, mit steifem grauem Kinnbart und den Manieren und der Kleidung eines x-beliebigen alten Farmers aus dem mittleren Westen. Es gab da einen alten Streit zwischen Wise und Gallup über Zusammenarbeit und Wettbewerb. Denn der alte Wise hatte, mit den Manieren eines Hinterwäldlers, gewisse seiner Ansichten eines alten Individualisten beibehalten; er gehörte, wie wir in England sagen würden, der Manchester-Schule an; Gallup hingegen versuchte immer wieder, ihn zu überreden, den Wettbewerb auszuschließen und die Ressourcen der ganzen Welt zusammenzuschließen.

»Früher oder später müssen Sie einsteigen, alter Knabe«, sagte Gallup gerade freundschaftlich, als Byrne eintrat. »Das ist nun mal der Lauf der Welt, und zum 1-Mann-Geschäft können wir nicht zurück. Wir müssen alle zusammenhalten.«

»Wenn ich dazu was sagen darf«, sagte Stein in seiner ruhigen Art, »dann möchte ich sagen, daß es etwas noch Dringenderes gibt als unseren wirtschaftlichen Zusammenhalt. Es geht auf jeden Fall um politischen Zusammenhalt; und deshalb habe ich Mr. Byrne gebeten, uns heute hier zu treffen. Wir müssen uns in der politischen Frage zusammenschließen; aus dem einfachen Grund, weil alle unsere gefährlichsten Gegner sich bereits zusammengeschlossen haben.«

»O ja, dem politischen Zusammenschluß stimme ich völlig zu«, knurrte Gideon Wise.

»Hören Sie«, sagte Stein zu dem Journalisten, »ich weiß, daß Sie Zugang zu jenen sonderbaren Plätzen haben, und deshalb möchte ich, daß Sie für uns inoffiziell etwas tun. Sie wissen, wo sich diese Männer treffen; nur zwei oder drei von ihnen zählen wirklich, John Elias und Jake Halket, der das große Wort führt, und vielleicht noch dieser dichtende Knabe Horne.«

»Horne war doch ein Freund von Gideon«, sagte der spottende Mr. Gallup, »war mit ihm in der Sonntagsschule, oder sowas.«

»Damals war er ein Christ«, sagte der alte Gideon feierlich, »aber wenn sich ein Mann mit Atheisten einläßt, weiß man nie. Ich treffe ihn immer noch ab und zu. Ich war natürlich bereit, ihn gegen Krieg und Konskription und all das zu unterstützen, aber wenn es sich um all diese verdammten Bolschies handelt, die da überall aufblühen – «

»Um Vergebung«, unterbrach Stein, »aber da die Sache reichlich dringend ist, werden Sie mir erlauben, sie Mr. Byrne sofort zu unterbreiten. Mr. Byrne, ich kann Ihnen im Vertrauen mitteilen, daß ich Informationen oder besser Beweise habe, die wenigstens zwei dieser Männer für lange Zeit ins Gefängnis brächten, und zwar wegen Verschwörung im letzten Krieg. Ich will diese Beweise nicht verwenden. Aber ich möchte, daß Sie unauffällig zu ihnen gehen und ihnen sagen, daß ich sie verwenden werde, und zwar morgen verwenden werde, wenn sie ihre Haltung nicht ändern.«

»Nun«, erwiderte Byrne, »was Sie da vorschlagen, würde mit Sicherheit Mitwisserschaft eines Verbrechens und vielleicht sogar Erpressung genannt werden. Erscheint Ihnen das nicht reichlich gefährlich?«

»Ich glaube, es ist reichlich gefährlich für sie«, schnappte Stein, »und ich wünsche, daß Sie zu ihnen gehen und ihnen das sagen.«

»Na schön«, sagte Byrne und stand mit einem halb humorvollen Seufzer auf. »Das gehört zwar zu meiner täglichen Arbeit; aber ich warne Sie: Wenn ich in Schwierigkeiten gerate, werde ich Sie in die Geschichte reinziehen.«

»Dann ziehen Sie mal, mein Junge«, sagte der alte Gallup mit einem herzhaften Lachen.

Denn noch ist von jenem großen Traum Jeffersons und dem Ding, das die Menschen Demokratie nennen, so viel übrig geblieben, daß in seinem Land die Armen, während die Reichen wie Tyrannen herrschen, nicht wie Sklaven reden; vielmehr herrscht Offenheit zwischen Unterdrückern und Unterdrückten.

Der Treffpunkt der Revolutionäre war ein eigenartiges, kahles, weiß gekalktes Lokal, an dessen Wänden sich ein oder zwei verzerrte ungeschlachte Schwarzweiß-Zeichnungen befanden, in jenem Stil, der angeblich proletarische Kunst ist, die aber nicht einmal für 1 Proletarier unter 1 Million Hand und Fuß hat. Die einzige Gemeinsamkeit beider Ratsversammlungen war vielleicht die, daß beide die amerikanische Verfassung durch den Ausschank alkoholischer Getränke verletzten. Cocktails der unterschiedlichsten Farben hatten vor den drei Millionären gestanden. Halket, der gewalttätigste der Bolschewiken, hielt es durchaus für angebracht, Wodka zu trinken. Er war ein langer, schwerfälliger Kerl mit bedrohlich vorgebeugter Haltung, und sogar sein Profil war angriffslustig wie das eines Hundes, Nase und Lippen waren vorwärts gestülpt, wobei die letzteren einen struppigen roten Schnurrbart trugen, und das Ganze krümmte sich in ständiger Verachtung auswärts. John Elias war ein dunkler wachsamer Mann mit Brille und einem schwarzen Spitzbart; er hatte in vielen europäischen Cafés Geschmack an Absinth gewonnen. Des Journalisten tiefster Eindruck war, wie ähnlich sich doch trotz allem John Elias und Jacob P. Stein waren. Sie waren sich in Gesicht und Geist und Gestik so ähnlich, daß der Millionär im Hotel Babylon durch eine Falltür hätte verschwinden und in der Festung der Bolschewiken wieder auftauchen können.

Auch der dritte Mann hatte einen eigenartigen Geschmack bei Getränken, und sein Getränk war charakteristisch für ihn. Denn was vor dem Poeten Horne stand, war ein Glas Milch, und gerade dessen Mildheit schien in dieser Umgebung etwas Bedrohliches an sich zu haben, als ob seine undurchsichtige farblose Farbe die einer verdorbenen Paste sei, viel giftiger als das tote kranke Grün des Absinths. Doch in Wahrheit war diese Mildheit soweit recht ehrlich; denn Henry Horne war auf ganz anderen Wegen und von ganz anderen Ursprüngen ins Lager der Revolution gekommen als Jake, der einfache Spengler, und Elias, der kosmopolitische Drahtzieher. Er hatte eine sogenannte sorgfältige Erziehung genossen, war während seiner Kindheit in die Kirche gegangen und schleppte ein Abstinenzlertum mit sich durchs Leben, das er auch nicht abschütteln konnte, nachdem er solche Nebensächlichkeiten wie Christentum und Ehe abgeworfen hatte. Er hatte blondes Haar und ein feines Gesicht, das dem Shelleys ähnlich gewesen wäre, hätte er sein Kinn nicht durch einen kleinen ausländischen Fransenbart geschwächt. Irgendwie ließ ihn der Bart eher wie eine Frau aussehen; als ob jene weniger goldenen Haare alles wären, was er leisten konnte.

Als der Journalist eintrat, redete wie meistens der unvermeidliche Jake. Horne hatte irgendeine beiläufige konventionelle Bemerkung gemacht, »der Himmel verbiete« dieses und jenes, was völlig ausreichte, um Jake sich in einem Sturzbach von Lästerungen ergießen zu lassen.

»Der Himmel verbiete! Und was anderes tut er ja verflucht auch nicht«, sagte er. »Der Himmel tut nie was anderes, als dies und das und jenes zu verbieten; verbietet uns zu streiken, und verbietet uns zu kämpfen, und verbietet uns, die verdammten Wucherer und Blutsauger abzuknallen, wo sie gerade sitzen. Warum verbietet der Himmel denen nicht mal was? Warum stehen eure verdammten Priester und Pfaffen nicht mal auf und erzählen zur Abwechslung die Wahrheit über diese Viecher? Warum tut ihr feiner Gott nicht mal – «

Elias erlaubte sich einen sanften Seufzer, wie aus matter Müdigkeit, um ihm zu entrinnen.

»Priester«, sagte er, »gehörten, wie Marx gezeigt hat, zur Feudaletappe der wirtschaftlichen Entwicklung und sind daher kein wirklicher Teil des Problems mehr. Die Rolle, die einst der Priester gespielt hat, hat heute der kapitalistische Experte übernommen und – «

»Ja«, unterbrach der Journalist mit seiner grimmigen und ironischen Unparteilichkeit, »und ihr solltet endlich zur Kenntnis nehmen, daß manche von ihnen wahre Experten darin sind, sie zu spielen.« Und ohne seinen Blick von dem hellen aber toten Blick Elias’ abzuwenden, berichtete er ihm von Steins Drohung.

»Ich war auf so was vorbereitet«, sagte der lächelnde Elias ohne Bewegung, »ich darf sagen, gut vorbereitet.«

»Dreckige Hunde!« explodierte Jake. »Wenn ein armer Mann so was sagen würde, würde er zu Zwangsarbeit verdonnert. Aber ich schätze, sie werden früher an schlimmere Orte kommen, als sie ahnen. Wenn die nicht zur Hölle fahren, weiß ich beim Teufel nicht, wo die hinfahren – «

Horne machte eine Geste des Protestes, vielleicht nicht so sehr wegen dem, was der Mann gerade sagte, als vielmehr wegen dem, was er gleich sagen würde, und Elias schnitt die Rede mit kalter Präzision ab.

»Wir haben es wirklich nicht nötig«, sagte er und blickte dabei Byrne stetig durch seine Brille an, »Drohungen mit der anderen Seite auszutauschen. Es ist völlig ausreichend, daß ihre Drohungen, was uns betrifft, recht unwirksam sind. Auch wir haben all unsere Vorbereitungen getroffen, von denen einige erst sichtbar werden, wenn sie in Aktionen sichtbar werden. Soweit es uns betrifft, entspräche ein sofortiger Bruch und ein äußerstes Kräftemessen durchaus unserem Plan.«

Während er auf seine wirklich ruhige und würdige Weise sprach, ließ etwas in seinem bewegungslosen gelben Gesicht mit den großen Brillengläsern dem Journalisten eine ferne Furcht über den Rücken kriechen. Halkets wüste Visage mochte, von der Seite betrachtet, allein durch ihren Umriß ein Knurren zeigen; doch von vorne gesehen enthielt der schwelende Zorn in seinen Augen auch Furcht, als ob das ethische und das wirtschaftliche Rätsel nachgerade zuviel für ihn wären; und Horne schien noch mehr in Drähten aus Sorge und Selbstkritik zu hängen. Um diesen dritten Mann aber, den mit den Brillengläsern, der so vernünftig und einfach sprach, um ihn war etwas Unheimliches; es war, als ob am Tisch ein toter Mann rede.

Als Byrne mit seiner Fehdebotschaft abging und durch die sehr enge Passage neben dem Gemüseladen schritt, fand er ihren Ausgang durch eine eigenartige, wenngleich eigenartig vertraute Gestalt blockiert: kurz und stämmig sah sie als dunkler Umriß mit rundem Kopf und breitkrämpigem Hut reichlich sonderbar aus.

»Father Brown!« rief der überraschte Journalist. »Ich glaube, Sie sind hier an der falschen Tür. Zu dieser kleinen Verschwörung passen Sie nicht.«

»Ich bin an einer sehr viel älteren Verschwörung beteiligt«, erwiderte Father Brown lächelnd, »dennoch aber einer weitverbreiteten Verschwörung.«

»Nun ja«, erwiderte Byrne, »aber von den Leuten hier ist Ihren Aufgaben keiner näher als 1000 Meilen.«

»Kann man nicht immer sagen«, erwiderte der Priester gleichmütig, »Tatsache aber ist, daß eine Person hier kaum mehr als 1 Zoll von ihnen entfernt ist.«

Er verschwand in dem dunklen Eingang, und der Journalist setzte seinen Weg reichlich verwirrt fort. Noch mehr verwirrte ihn ein kleiner Zwischenfall, der ihm zustieß, als er sich in das Hotel begab, um seinen kapitalistischen Klienten Bericht zu erstatten. Man erreichte die Laube voll Blüten und Vogelbauern, in die jene mürrischen alten Herren eingebettet waren, über eine Flucht von Marmorstufen, die vergoldete Nymphen und Tritonen flankierten. Diese Stufen herab rannte ein eifriger junger Mann mit schwarzen Haaren, einer Stubsnase und einer Blume im Knopfloch, der ihn ergriff und zur Seite zog, ehe er die Stufen hinaufsteigen konnte.

»Was ich sagen wollte«, wisperte der junge Mann, »ich bin Potter – der Sekretär vom alten Gid, wissen Sie: Unter uns, wird da jetzt ein Donnerkeil geschmiedet oder was?«

»Ich bin zu der Schlußfolgerung gelangt«, erwiderte Byrne vorsichtig, »daß der Zyklop etwas auf dem Amboß hat. Denken Sie aber immer daran, der Zyklop ist zwar ein Riese, hat aber nur ein Auge. Ich glaube, der Bolschewismus ist – «

Während er sprach, lauschte ihm der Sekretär mit einem Gesicht von fast mongolischer Unbewegtheit, trotz der Lebendigkeit seiner Beine und seiner Aufmachung. Als aber Byrne das Wort »Bolschewismus« verwendete, bewegten sich die scharfen Augen des jungen Mannes, und er sagte schnell: »Was hat denn das – o ja, die Art von Donnerkeil; tut mir leid, mein Fehler. Man sagt so leicht Amboß, wenn man eigentlich Eisschrank meint.«

Womit der außergewöhnliche junge Mann die Treppe hinunter verschwand, während Byrne sie hinaufstieg und immer neue Mystifikationen sein Gehirn umnebelten.

Er fand die Gruppe der drei auf vier erweitert vor durch die Anwesenheit einer Person mit scharfgeschnittenem Gesicht, sehr dünnem strohfarbenem Haar und Monokel, die eine Art Berater vom alten Gallup war, vielleicht sein Rechtsanwalt, obwohl sie so eindeutig nicht angeredet wurde. Sein Name war Nares, und die Fragen, die er an Byrne richtete, bezogen sich aus dem einen oder anderen Grund vorwiegend auf die Anzahl derer, die möglicherweise der revolutionären Organisation angehörten. Davon berichtete Byrne, der nur wenig wußte, noch weniger; und schließlich erhoben sich die vier Männer von ihren Sitzen, und das letzte Wort hatte der Mann, der am schweigsamsten gewesen war.

»Vielen Dank, Mr. Byrne«, sagte Stein und klappte seine Brille zusammen. »Bleibt nur noch festzustellen, daß alles vorbereitet ist; darin stimme ich vollkommen mit Mr. Elias überein. Morgen wird die Polizei noch vor Mittag Mr. Elias auf Grund von Beweisen, die ich ihr vorlegen werde, verhaftet haben, und wenigstens jene drei werden noch vor dem Abend im Gefängnis sitzen. Wie Sie wissen, habe ich mich bemüht, diesen Schritt zu vermeiden. Ich glaube, das ist alles, meine Herren.«

Doch Mr. Jacob P. Stein legte seine formellen Informationen am nächsten Tag nicht vor, und zwar aus einem Grund, der schon oft die Tätigkeiten so tatkräftiger Charaktere unterbrochen hat. Er tat es nicht, weil er zufällig tot war; und auch das übrige Programm wurde nicht ausgeführt aus Gründen, die Byrne in Riesenschlagzeilen fand, als er seine Morgenzeitung aufschlug: »Schrecklicher Dreifachmord: Drei Millionäre in einer Nacht erschlagen!« Weitere Ausrufsätze folgten in kleinerer Schrift, kaum viermal größer als die normale Schrift, die auf der Besonderheit des Geheimnisses bestanden: der Tatsache, daß die drei Männer nicht nur gleichzeitig ermordet worden waren, sondern auch an drei weit voneinander liegenden Orten – Stein auf seinem künstlerisch ausgestatteten Luxuslandsitz hundert Meilen landein, Wise vor dem kleinen Bungalow an der Küste, wo er von Seebrisen und dem einfachen Leben lebte, und der alte Gallup in einem Dickicht unmittelbar vor dem Parktor seines großen Hauses am anderen Ende der Grafschaft. In allen drei Fällen konnte es keinen Zweifel an den Szenen der Gewalttätigkeit geben, die dem Tode voraufgegangen waren, obwohl man die Leiche Gallups erst am zweiten Tage fand, dort, wo sie groß und gräßlich zwischen den zerborstenen Gabeln und Ästen des kleinen Waldes hing, in den sie mit ihrem ganzen Gewicht gekracht war wie ein Bison in die Lanzen, während Wise ganz offenkundig über die Klippen in die See geschleudert worden war, nicht ohne Kampf, denn die Spuren seiner schürfenden und ausrutschenden Fußabdrücke konnten bis an den Rand verfolgt werden. Doch war das erste Anzeichen der Tragödie der Anblick seines großen schlappen Strohhuts gewesen, der weit draußen auf den Wogen schwamm, deutlich sichtbar von den Klippen oben. Auch Steins Leichnam hatte sich zunächst der Suche entzogen, bis eine schwache Blutspur die Suchenden zu einem Badhaus nach altrömischem Muster führte, das er sich in seinem Garten errichtet hatte; denn er war ein Mann von experimenteller Denkart mit einem Hang zu Altertümern gewesen.

Was immer er sich auch denken mochte, Byrne mußte zugeben, daß es nach dem Stand der Dinge gegen niemanden irgendwelche gesetzlichen Beweise gab. Ein Motiv für den Mord reichte nicht aus. Selbst die moralische Eignung zum Mord reichte nicht aus. Und er konnte sich jenen blassen jungen Pazifisten Henry Horne nicht vorstellen, wie er einen anderen Mann mit brutaler Gewalt abschlachtete, obwohl ihm der lästerliche Jake und selbst der höhnische Jude fähig zu allem erschienen. Der Polizei und dem Mann, der ihr offenbar assistierte (und der kein anderer war als der geheimnisvolle Mann mit dem Monokel, der als Mr. Nares eingeführt worden war), war die Lage ebenso klar wie dem Journalisten. Sie wußten, daß die bolschewistischen Verschwörer im Augenblick nicht vor Gericht gestellt und verurteilt werden konnten und daß es eine höchst sensationelle Pleite wäre, wenn sie vor Gericht gestellt und freigesprochen würden. Nares begann mit kunstvoller Offenheit, indem er sie sozusagen zur Beratung hinzuzog, sie einlud zu einem privaten Konklave und sie aufforderte, im Interesse der Menschheit frei ihre Meinungen zu äußern. Er hatte seine Untersuchungen an dem der Tragödie am nächsten liegenden Platz begonnen, dem Bungalow an der See; und Byrne war es gestattet, der eigenartigen Szene beizuwohnen, die zugleich ein friedliches Gespräch unter Diplomaten war, und eine verschleierte Inquisition, ein Verhör von Verdächtigen. Sehr zu Byrnes Überraschung gehörten der ungleichen Gesellschaft, die da rund um den Tisch im Bungalow am Meer saß, auch die dickliche Gestalt und der eulenhafte Kopf Father Browns an, obwohl seine Verbindung zu der Angelegenheit erst eine ganze Weile später sichtbar wurde. Die Anwesenheit des jungen Potter, dem Sekretär des toten Mannes, erschien da viel natürlicher; jedoch war sein Benehmen nicht ganz so natürlich. Ihm allein war der Ort ihres Treffens wohlbekannt, und in einem grimmigen Sinne war er sogar ihr Gastgeber; und doch bot er nur geringe Hilfe oder Information. Sein rundes, stubsnäsiges Gesicht war eher trotzig als traurig.

Jake Halket redete wie üblich am meisten; und von einem Mann seines Naturells konnte man auch nicht erwarten, daß er die höfliche Fiktion aufrechterhielte, er und seine Freunde seien nicht angeklagt. Der junge Horne versuchte auf seine feinere Weise, ihn zurückzuhalten, als er begann, die Männer zu beschimpfen, die ermordet worden waren; aber Jake war jederzeit ebenso bereit, seine Freunde niederzubrüllen wie seine Feinde. Er erleichterte seine Seele in einer großen blasphemischen Rede von einem sehr unamtlichen Nachruf auf den verblichenen Gideon Wise. Elias saß ganz still und scheinbar unbeteiligt hinter der Brille, die seine Augen verbarg.

»Ich nehme an, es wäre nutzlos«, sagte Nares kalt, »Ihnen zu sagen, wie unschicklich Ihre Bemerkungen sind. Wahrscheinlich berührt es Sie eher, wenn ich Ihnen sage, daß sie unklug sind. Sie haben praktisch zugegeben, daß Sie den toten Mann haßten.«

»Und dafür wollen Sie mich einbuchten lassen, was?« höhnte der Demagoge. »Na schön. Aber Sie müssen ein Gefängnis für ‘ne Million Menschen bauen, wenn Sie alle armen Schweine einbuchten lassen wollen, die Grund hatten, Gid Wise zu hassen. Und Sie wissen so gut wie ich, daß das bei Gott die Wahrheit ist.«

Nares schwieg; und niemand sprach, bis Elias sich mit seiner klaren, wenn auch etwas schleppenden Sprechweise einschaltete.

»Mir scheint das auf beiden Seiten eine höchst unergiebige Unterredung zu sein«, sagte er. »Sie haben uns herbestellt entweder, um nach Informationen zu fragen, oder um uns einem Kreuzverhör zu unterziehen. Falls Sie uns vertrauen, sagen wir Ihnen, daß wir keinerlei Informationen besitzen. Wenn Sie uns mißtrauen, müssen Sie uns mitteilen, wessen wir angeklagt sind, oder Sie müssen die Höflichkeit haben, die Tatsache für sich zu behalten. Niemand ist imstande gewesen, auch nur den schwächsten Hauch eines Beweises dafür aufzuzeigen, daß irgendeiner von uns mit diesen Tragödien mehr zu tun hätte, als mit der Ermordung von Julius Caesar. Sie wagen nicht, uns zu verhaften, und Sie wollen uns nicht glauben. Wozu sollen wir also noch länger hierbleiben?«

Und er stand auf, knöpfte sich ruhig seine Jacke zu, und seine Freunde folgten seinem Beispiel. Als sie zur Tür gingen, wandte sich der junge Horne um und blickte die Untersucher einen Augenblick lang aus seinem fahlen fanatischen Gesicht an.

»Ich möchte sagen«, sagte er, »daß ich während des ganzen Krieges in einem schmutzigen Gefängnis gesessen habe, weil ich nicht bereit war, Menschen zu töten.«

Damit gingen sie hinaus, und die Mitglieder der zurückbleibenden Gruppe sahen einander grimmig an.

»Ich glaube kaum«, sagte Father Brown, »daß wir siegreich dastehen, trotz ihres Rückzugs.«

»Mir ist das gleichgültig«, sagte Nares, »außer mich von diesem lästerlichen Lumpen Halket anbrüllen zu lassen. Horne jedenfalls ist ein Gentleman. Was immer sie aber behaupten, ich bin absolut sicher, daß sie etwas wissen; sie stecken mit drin, oder doch die meisten von ihnen. Sie haben es ja fast zugegeben. Sie haben uns ja fast mehr deshalb verspottet, daß wir nicht imstande sind zu beweisen, daß wir recht haben, als weil wir unrecht hätten. Was meinen Sie, Father Brown?«

Die angesprochene Person blickte mit einem Blick, der geradezu beunruhigend mild und nachdenklich war, zu Nares hinüber.

»Es stimmt«, sagte er, »daß ich mir über eine ganz bestimmte Person die Meinung gebildet habe, sie wisse mehr, als sie uns erzählt hat. Aber ich glaube, es wäre ganz gut, wenn ich den Namen jetzt noch nicht nenne.«

Nares Monokel fiel ihm aus dem Auge, und er blickte scharf auf. »Bisher ist das alles inoffiziell«, sagte er. »Ich nehme aber an, Sie wissen, daß Sie zu einem späteren Zeitpunkt in eine schwierige Position geraten, wenn Sie Ihre Informationen zurückhalten.«

»Meine Position ist einfach«, erwiderte der Priester. »Ich bin hier, um mich um die legitimen Interessen meines Freundes Halket zu kümmern. Ich glaube, daß es unter diesen Umständen in seinem Interesse ist, wenn ich Ihnen sage, daß ich vermute, er werde in Kürze seine Beziehungen zu dieser Organisation lösen und aufhören, in diesem Sinne Sozialist zu sein. Ich habe sogar jeden Grund zu der Annahme, daß er wahrscheinlich zum Schluß Katholik werden wird.«

»Halket!« platzte der andere ungläubig heraus. »Wie denn, der verflucht die Priester doch vom Morgen bis zum Abend!«

»Ich glaube nicht, daß Sie diese Art Mensch wirklich verstehen«, sagte Father Brown milde. »Er verflucht die Priester, weil sie (seiner Meinung nach) ihre Pflicht versäumen, sich um der Gerechtigkeit willen der ganzen Welt entgegenzustellen. Warum aber sollte er von ihnen erwarten, daß sie sich der ganzen Welt um der Gerechtigkeit willen entgegenstellten, wenn er nicht bereits begonnen hätte anzunehmen, daß sie sind – was sie sind? Doch sind wir hier nicht zusammengekommen, um die Psychologie des Religionswechsels zu diskutieren. Ich habe das nur erwähnt, weil es Ihre Aufgabe erleichtern kann – vielleicht Ihre Suche eingrenzt.«

»Wenn das wahr ist, würde es sie tatsächlich eingrenzen auf diesen enggesichtigen Schurken Elias – und mich würde das nicht erstaunen, denn einen unheimlicheren, kaltblütigeren, spöttischeren Teufel habe ich nie gesehen.«

Father Brown seufzte. »Mich hat er immer an den armen Stein erinnert«, sagte er, »und tatsächlich nehme ich an, daß sie irgendwie verwandt sind.«

»Na hören Sie«, begann Nares, als sein Protest dadurch abgeschnitten wurde, daß die Tür aufflog und erneut die lange schlaksige Gestalt und das blasse Gesicht des jungen Horne freigab; diesmal aber schien es, als trüge es nicht nur seine natürliche Blässe, sondern hinzu noch eine neue und unnatürliche.

»Hallo«, rief Nares und setzte sich das Monokel ein, »warum sind denn Sie zurückgekommen?«

Horne durchquerte eher schwankend und schweigend den Raum und ließ sich schwer in einen Sessel fallen. Dann sagte er in einer Art von Betäubung: »Ich habe die anderen verpaßt… ich hab den Weg verloren. Ich dachte mir, ich käme besser zurück.«

Die Überreste der abendlichen Erfrischungen standen noch auf dem Tisch, und Henry Horne, der lebenslängliche Abstinenzler, goß sich ein Weinglas mit Brandy voll und trank es auf einen Zug leer.

»Sie scheinen aufgeregt zu sein«, sagte Father Brown.

Horne hatte die Hände an die Stirn gelegt und sprach wie aus ihrem Schatten heraus: Er schien mit leiser Stimme nur zu dem Priester zu sprechen.

»Ich kann es Ihnen ja genausogut sagen. Ich habe einen Geist gesehen.«

»Einen Geist!« wiederholte Nares erstaunt. »Wessen Geist?«

»Den Geist von Gideon Wise, dem Herrn dieses Hauses«, antwortete Horne fester, »wie er über dem Abgrund stand, in den er stürzte.«

»Ach Unfug!« sagte Nares. »Kein vernünftiger Mensch glaubt an Geister.«

»Das stimmt so nicht ganz«, sagte Father Brown und lächelte leicht. »Für viele Geister gibt es ebenso gute Beweise wie für die meisten Verbrechen.«

»Schön, es ist meine Aufgabe, hinter Verbrechern herzulaufen«, sagte Nares ziemlich grob, »und ich überlasse es anderen Leuten, vor Geistern wegzulaufen. Wenn irgend jemand zu dieser Tageszeit wünscht, sich vor Geistern zu fürchten, ist das seine Angelegenheit.«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich mich vor ihnen fürchte, obwohl ich zu behaupten wage, daß ich es vielleicht täte«, sagte Father Brown. »Niemand weiß es, ehe er es ausprobiert hat. Ich habe gesagt, ich glaubte an sie, jedenfalls genug, um mehr über diesen einen hören zu wollen. Was genau haben Sie denn nun gesehen, Mr. Horne?«

»Es war drüben am Rand dieser brüchigen Klippen; Sie wissen, da gibt es eine Art Spalt oder Lücke genau an der Stelle, wo er hinuntergeschleudert worden ist. Die anderen waren voraufgegangen, und ich kreuzte die Heide in Richtung auf den Pfad entlang den Klippen. Ich bin oft diesen Weg gegangen, weil ich den Anblick der hohen Wellen liebe, wie sie gegen die Felsen schlagen. Heute nacht machte ich mir wenig daraus, bis auf ein gewisses Erstaunen darüber, daß die See in einer so mondhellen Nacht so rauh ist. Ich konnte die fahlen Schaumkämme erscheinen und vergehen sehen, während die großen Wellen ans Land schlugen. Dreimal sah ich das Aufschimmern des Schaumes im Mondenlicht, und dann sah ich etwas Unergründliches. Das vierte Aufleuchten der Silbergischt schien im Himmel festzuhaften. Es stürzte nicht; – ich wartete mit wahnwitziger Intensität darauf, daß es stürze. Ich bildete mir ein, daß ich verrückt und daß die Zeit für mich geheimnisvoll angehalten oder verlängert worden sei. Dann kam ich näher, und dann habe ich, glaube ich, laut geschrieen. Denn jene frei schwebende Gischt, diese ungefallenen Schneeflocken, sie hatten sich zu einem Gesicht und einer Gestalt zusammengefügt, weiß wie der schimmernde Leprakranke in der Legende, und schrecklich wie der erstarrte Blitz.«

»Und das war Gideon Wise, sagen Sie?«

Horne nickte, ohne zu sprechen. Und dann wurde das Schweigen plötzlich von Nares gebrochen, der aufstand; so jäh, daß er einen Stuhl umwarf.

»Ach, das ist alles Unfug«, sagte er, »aber wir gehen besser raus und sehen uns das an.«

»Ich werde nicht gehen«, sagte Horne mit plötzlicher Wildheit. »Ich werde diesen Pfad niemals mehr betreten.«

»Ich glaube, daß wir diesen Pfad heute nacht alle betreten müssen«, sagte der Priester gewichtig; »obwohl ich niemals leugnen werde, daß es ein gefährlicher Pfad ist… für mehr als nur einen Menschen.«

»Ich werde nicht… Gott, wie ihr mich alle hetzt«, rief Horne, und seine Augen begannen, in ganz eigenartiger Weise zu rollen. Er war mit den übrigen aufgestanden, machte aber keine Bewegung zur Tür hin.

»Mr. Horne«, sagte Nares entschieden, »ich bin Polizeibeamter, und dieses Haus ist, auch wenn Sie das nicht wissen, von der Polizei umstellt. Ich habe versucht, die Untersuchungen in freundlicher Art durchzuführen, aber ich muß alles untersuchen, selbst etwas so Törichtes wie einen Geist. Ich muß Sie also ersuchen, mich zu der Stelle zu führen, von der Sie gesprochen haben.«

Erneut herrschte Schweigen, während Horne wie in unbeschreiblichen Ängsten stöhnte und keuchte. Dann ließ er sich plötzlich wieder in seinem Sessel nieder und sagte mit ganz neuer und viel gefaßterer Stimme:

»Ich kann das nicht tun. Sie können auch erfahren, warum nicht. Sie werden es früher oder später doch herausfinden. Ich habe ihn getötet.«

Für einen Augenblick herrschte die Stille eines Hauses, das nach einem Blitzschlag voller Leichen ist. Dann ertönte in dieser ungeheuren Stille die Stimme von Father Brown seltsam klein wie das Quieken einer Maus.

»Haben Sie ihn absichtlich getötet?« fragte er.

»Wie soll man eine solche Frage beantworten?«, antwortete der Mann im Stuhl und nagte trübsinnig an seinen Fingern. »Ich war verrückt, nehme ich an. Ich weiß, daß er unausstehlich und unverschämt war. Ich befand mich auf seinem Land, und ich glaube, er hat mich geschlagen; jedenfalls kam es zu einem Handgemenge, und er stürzte über die Klippe. Als ich schon ein gutes Stück vom Tatort entfernt war, wurde mir plötzlich klar, daß ich ein Verbrechen begangen hatte, das mich aus der Menschheit ausschloß; das Zeichen Kains pulsierte auf meiner Stirn und in meinem Hirn; ich machte mir zum ersten Mal klar, daß ich tatsächlich einen Menschen getötet hatte. Ich wußte, ich würde das früher oder später gestehen müssen.« Plötzlich setzte er sich aufrecht hin. »Aber ich werde nichts gegen andere aussagen. Es hat keinen Zweck, mich über Komplotte oder Komplizen auszufragen – ich werde nichts sagen.«

»Angesichts der anderen Morde«, sagte Nares, »ist es schwer zu glauben, daß die Auseinandersetzung tatsächlich so unvorbedacht entstanden ist. Sicherlich hat jemand Sie hergeschickt?«

»Ich werde nichts gegen jemanden aussagen, mit dem ich zusammengearbeitet habe«, sagte Horne stolz. »Ich bin ein Mörder, aber ich werde kein Verräter sein.«

Nares stellte sich zwischen den Mann und die Tür und rief mit amtlicher Stimme jemandem draußen etwas zu.

»Wir alle werden dennoch jetzt zum Tatort gehen«, sagte er leise zum Sekretär, »dieser Mann aber muß in Haft genommen werden.«

Die ganze Gesellschaft hatte das Gefühl, daß eine Gespensterjagd auf einer Klippe am Meer nach dem Geständnis des Mörders eine reichlich törichte Antiklimax sei. Nares aber, obwohl der skeptischste und spöttischste von allen, hielt es für seine Pflicht, keinen Stein ungewendet zu lassen; man könnte sagen, keinen Grabstein ungewendet. Denn schließlich war jene brüchige Klippe der einzige Grabstein über dem nassen Grab des armen Gideon Wise. Nares, der als letzter aus dem Haus kam, schloß die Tür und folgte den übrigen über die Heide zur Klippe, als er überrascht sah, wie der junge Potter, der Sekretär, schnell auf sie zu zurückkam mit einem Gesicht im Mondlicht so weiß wie ein Mond.

»Bei Gott, Sir«, sagte er, als er zum ersten Mal in jener Nacht sprach, »da ist wirklich irgendwas. Es – es sieht genau wie er aus.«

»Sie sind ja verrückt«, keuchte der Detektiv. »Hier ist wohl jeder verrückt.«

»Glauben Sie denn, ich kennte ihn nicht, wenn ich ihn sehe?« schrie der Sekretär mit außerordentlicher Bitterkeit. »Ich habe dazu Gründe.«

»Vielleicht«, sagte der Detektiv scharf, »gehören Sie zu jenen, die Grund hatten, ihn zu hassen, wie Halket sagte.«

»Vielleicht«, sagte der Sekretär; »jedenfalls kenne ich ihn, und ich sage Ihnen, ich kann ihn da stehen sehen, starr und starräugig unter diesem höllischen Mond.«

Und er wies auf die Spalte in den Klippen, in der sie bereits etwas erblicken konnten, das ein Mondstrahl sein konnte oder ein Gischtfetzen, das aber bereits begann, kompakter auszusehen. Sie waren 100 Meter näher herangekrochen, und immer noch war es bewegungslos; aber es sah aus wie eine Statue aus Silber.

Nares selbst sah ein bißchen blaß aus, und er schien dazustehen und mit sich zu diskutieren, was jetzt zu tun sei. Potter fürchtete sich offenkundig ebensosehr wie Horne; und selbst Byrne, der ein hartgesottener Reporter war, empfand Widerwillen dagegen, näher heran zu gehen als unbedingt nötig. Daher kam es ihm einigermaßen merkwürdig vor, daß der einzige Mann, der sich vor dem Geist nicht zu fürchten schien, der Mann war, der öffentlich erklärt hatte, daß er sich vielleicht fürchten werde. Denn Father Brown ging mit seinem schwerfälligen Schritt ebenso stetig vorwärts, als ob er eine Anschlagtafel konsultieren wolle.

»Das scheint Sie ja nicht sehr zu beunruhigen«, sagte Byrne zu dem Priester, »und dabei waren Sie doch der einzige, der an Gespenster glaubt.«

»Wenn es darum geht«, sagte Father Brown, »so dachte ich, daß Sie derjenige wären, der nicht an sie glaubte. Aber es ist eine Sache, an Geister zu glauben, und eine andere, an einen Geist zu glauben.«

Byrne sah einigermaßen beschämt aus und warf einen verstohlenen Blick hinaus auf die im kalten Mondlicht daliegende bröckelige Landspitze, die Stätte jener Vision oder Wahngestalt.

»Ich hab’ es nicht geglaubt, bis ich es gesehen habe«, sagte er.

»Und ich hab’ es geglaubt, bis ich es gesehen habe«, sagte Father Brown.

Der Journalist starrte ihm nach, wie er über die große kahle Fläche stapfte, die zum gespalteten Vorgebirge hinanstieg wie die Steilseite eines in zwei gespaltenen Hügels. Unter dem ausbleichenden Mond sah das Gras wie langes graues Haar aus, das der Wind in eine Richtung gekämmt hatte und das zu jener Stelle zu weisen schien, wo die abbröckelnde Klippe in der graugrünen Grasnarbe fahle Kalkstellen zeigte und wo jene fahle Gestalt, jener schimmernde Schatten stand, den bisher niemand begreifen konnte. Noch beherrschte jene fahle Gestalt eine verlassene Landschaft, die leer war bis auf den schwarzen vierschrötigen Rücken und die geschäftsmäßige Gestalt des Priesters, der allein auf sie zuging. Dann riß sich der Häftling Horne plötzlich mit einem durchdringenden Schrei von seinen Bewachern los und rannte an dem Priester vorbei und sank vor der Erscheinung auf die Knie.

»Ich habe gestanden«, hörten sie ihn schreien. »Warum sind Sie gekommen, um ihnen zu sagen, daß ich Sie getötet habe?«

»Ich bin gekommen, um ihnen zu sagen, daß Sie es nicht getan haben«, sagte der Geist und streckte ihm seine Hand hin. Da sprang der kniende Mann mit einer ganz neuen Art Schrei auf; und da wußten sie, daß es eine Hand aus Fleisch war.

 

In jüngster Zeit sei niemand auf so bemerkenswerte Weise dem Tode entronnen, sagte der erfahrene Detektiv ebenso wie der nicht minder erfahrene Journalist. Und dabei war letzten Endes alles sehr einfach. Flocken und Bruchstücke brachen ständig von der Klippe ab, und manche davon hatten sich in dem riesigen Spalt verfangen und eine Art Sims oder Tasche dort gebildet, wo man einen glatten Absturz durch die Dunkelheit in die See vermutete. Der alte Mann, der ein sehr zäher und drahtiger alter Mann war, war auf diese tiefere Felsschulter gestürzt und hatte schreckliche 24 Stunden mit Versuchen verbracht, über Felsplatten zurückzuklettern, die beständig unter ihm zusammenbrachen, schließlich aber aus ihren eigenen Trümmern eine Art Fluchttreppe bildeten. Das mochte die Erklärung für Hornes optische Täuschung sein, eine weiße Woge sei erschienen und verschwunden, und schließlich zum Stehen gekommen. Auf jeden Fall aber war da jetzt Gideon Wise, solide aus Knochen und Flechsen, mit weißem Haar und weiß bestaubter ländlicher Kleidung und harten ländlichen Zügen, die jedoch sehr viel weniger hart waren als üblich. Vielleicht ist es förderlich für Millionäre, 24 Stunden auf einer Felsschulter einen Fußbreit von der Ewigkeit entfernt zuzubringen. Jedenfalls verzichtete er nicht nur auf jeden Groll gegenüber dem Verbrecher, sondern gab auch einen Bericht über die Angelegenheit, die das Verbrechen erheblich modifizierte. Er erklärte, daß Horne ihn überhaupt nicht hinabgestürzt hätte; daß vielmehr der ständig abbröckelnde Boden unter ihm nachgegeben habe und daß Horne sogar einige Anstalten gemacht habe, als ob er ihn retten wolle.

»Auf jenem schicksalhaften Felsstück da unten«, sagte er feierlich, »habe ich Gott versprochen, meinen Feinden zu vergeben; und Gott würde es verdammt schäbig finden, wenn ich da nicht einen kleinen Unfall wie diesen vergäbe.«

Horne mußte natürlich unter polizeilicher Bewachung abgeführt werden, aber der Detektiv verhehlte sich nicht, daß die Haft des Häftlings vermutlich nur kurz sein und seine Bestrafung, wenn überhaupt, nur sehr gering ausfallen werde. Nicht jeder Mörder kann schließlich den Ermordeten in den Zeugenstand stellen, daß er für ihn aussage.

»Das ist ein merkwürdiger Fall«, sagte Byrne, als der Detektiv und die anderen über den Klippenpfad zur Stadt hin davonhasteten.

»Ist es«, sagte Father Brown. »Es geht uns zwar nichts an; aber es würde mich freuen, wenn Sie noch bei mir blieben und wir es durchsprächen.«

Nach einem Schweigen stimmte Byrne plötzlich zu, indem er sagte: »Ich nehme an, Sie dachten bereits an Horne, als Sie sagten, jemand sage nicht alles, was er wisse.«

»Als ich das sagte«, erwiderte sein Freund, »dachte ich an den außergewöhnlich schweigsamen Mr. Potter, den Sekretär des nun nicht länger verblichenen oder (sagen wir mal) beklagten Mr. Gideon Wise.«

»Nun ja, das einzige Mal, als Potter überhaupt etwas zu mir sagte, dachte ich, er wäre verrückt«, sagte Byrne und starrte vor sich hin, »aber ich habe mir nie vorgestellt, daß er ein Verbrecher sei. Er sagte irgendwas, das habe alles mit einem Eisschrank zu tun.«

»Ja, ich habe mir gedacht, daß er einiges darüber gewußt hat«, sagte Father Brown nachdenklich. »Ich habe niemals gesagt, daß er irgendwas damit zu tun hatte… Ich nehme an, der alte Wise ist wirklich stark genug, um allein aus dem Abgrund raufzuklettern.«

»Wie meinen Sie das?« fragte der erstaunte Reporter. »Natürlich ist er aus jenem Abgrund herausgekommen; denn er ist ja da.«

Der Priester beantwortete die Frage nicht, sondern fragte abrupt: »Was denken Sie über Horne?«

»Na ja, man kann ihn nicht gerade einen Verbrecher nennen«, antwortete Byrne. »Er hat nie irgendeinem Verbrecher geähnelt, den ich je gekannt habe, und ich habe da einige Erfahrung; und Nares hat natürlich noch viel mehr. Meiner Meinung nach haben wir nie wirklich geglaubt, daß er ein Verbrecher sei.«

»Und ich habe ihm in einer anderen Hinsicht nicht geglaubt«, sagte der Priester gelassen. »Sie mögen mehr über Verbrecher wissen. Aber es gibt eine Gruppe Menschen, über die ich vermutlich mehr weiß als Sie, oder auch Nares. Davon habe ich viele gekannt, und ich kenne ihre kleinen Tricks.«

»Eine andere Gruppe Menschen«, wiederholte Byrne verdutzt. »Über welche Gruppe wissen Sie was?«

»Reuige Sünder«, sagte Father Brown.

»Das verstehe ich nicht«, widersprach Byrne. »Sie meinen, Sie glauben ihm sein Verbrechen nicht?«

»Ich glaube ihm seine Beichte nicht«, sagte Father Brown. »Ich habe viele Beichten gehört, aber niemals eine ehrliche von dieser Art. Sie war romantisch; sie war literarisch. Sehen Sie mal, wie er darüber sprach, das Kainszeichen zu tragen. Das war literarisch. Niemand würde so empfinden, der gerade mit eigener Person getan hat, was ihm bisher entsetzlich war. Stellen Sie sich vor, Sie wären ein ehrlicher Angestellter oder Ladenjunge und stellten schockiert fest, daß Sie soeben zum ersten Mal Geld gestohlen haben. Würden Sie dann sofort darüber nachdenken, daß Sie die Tat des Barrabas getan haben? Stellen Sie sich vor, Sie brächten in einem furchtbaren Wutanfall ein Kind um. Würden Sie danach durch die Geschichte zurückgehen, bis Sie Ihre Tat mit der eines idumäischen Herrschers namens Herodes identifizieren könnten? Glauben Sie mir, unsere eigenen Verbrechen sind viel zu häßlich, privat und prosaisch, als daß wir unsere ersten Gedanken auf historische Parallelen richteten, wie zutreffend auch immer. Und warum ist er so weit gegangen zu sagen, er werde seine Mittäter nicht preisgeben? Indem er das sagte, gab er sie doch preis. Bis dahin hatte niemand von ihm verlangt, irgend etwas oder irgend jemanden preiszugeben. Nein, ich glaube nicht, daß er ehrlich war, und ich würde ihm nicht die Absolution erteilen. Ein schöner Zustand, wenn die Leute die Absolution für Dinge bekämen, die sie nicht begangen haben.« Und Father Brown blickte mit abgewandtem Kopf stetig aufs Meer hinaus.

»Aber ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen«, rief Byrne. »Warum ihn mit Verdächtigungen überhäufen, wenn er schon freigesprochen ist? Er ist da raus. Er ist auf jeden Fall in Sicherheit.«

Father Brown wirbelte herum wie ein Kreisel und ergriff seinen Freund mit unerwarteter und unerklärlicher Erregung beim Mantel.

»Das ist es«, rief er nachdrücklich. »Halten Sie das fest! Er ist in Sicherheit. Er ist da raus. Deshalb ist er der Schlüssel zu dem ganzen Rätsel.«

»O Hilfe«, sagte Byrne schwach.

»Ich meine«, beharrte der kleine Priester, »daß er drin ist, weil er raus ist. Das ist die ganze Erklärung.«

»Und auch noch eine sehr einleuchtende«, sagte der Journalist mit Gefühl.

Sie standen da und schauten eine Weile schweigend auf die See hinaus, und dann sagte Father Brown fröhlich:

»Und damit kommen wir zurück zum Eisschrank. Wo ihr euch in diesem Fall von Anfang an geirrt habt, ist, wo so viele Zeitungen und Politiker sich irren. Weil ihr annehmt, daß es in der modernen Welt nichts anderes als den Bolschewismus zu bekämpfen gäbe. Diese Geschichte hat nichts mit Bolschewismus zu tun; oder nur als Irreführung.«

»Ich verstehe nicht, wie das gehen sollte«, protestierte Byrne. »Hier haben Sie drei Millionäre, die in diesem einen Fall ermordet wurden – «

»Nein!« sagte der Priester mit scharfer klingender Stimme. »Haben Sie nicht. Das ist es ja gerade. Sie haben nicht drei ermordete Millionäre. Sie haben zwei ermordete Millionäre; und Sie haben den dritten Millionär putzmunter um sich schlagend und bereit, weiter um sich zu schlagen. Und Sie haben diesen dritten Millionär, für immer befreit von der Drohung, die ihm vor Ihren eigenen Augen an den Kopf geworfen wurde, in spielerisch höflichen Formulierungen während jenes Gesprächs, das nach Ihrem Bericht im Hotel stattgefunden hat. Gallup und Stein drohten dem altmodischeren und unabhängigen alten Schurken, sie würden ihn auf Eis legen, wenn er sich ihrem Verbund nicht anschlösse. Daher natürlich der Eisschrank.«

Nach einer Pause fuhr er fort. »Natürlich gibt es eine bolschewistische Bewegung in der modernen Welt, und ihr muß zweifellos widerstanden werden, obwohl ich nicht so recht an Ihren Weg des Widerstandes glaube. Was aber niemand zu bemerken scheint, ist, daß es noch eine andere Bewegung gibt, die ebenso modern und ebenso bewegend ist: die große Bewegung hin zu Monopolen oder die Umwandlung aller Betriebe in Konzerne. Auch das ist eine Revolution. Auch das bringt hervor, was alle Revolutionen hervorbringen. Menschen töten dafür und dagegen, wie sie es für und gegen den Bolschewismus tun. Sie hat ihre Ultimaten und ihre Invasionen und ihre Exekutionen. Diese Konzernmagnaten halten hof wie die Könige; sie haben ihre Leibwächter und ihre Meuchelmörder; sie haben ihre Spione im Lager des Gegners. Horne war einer der Spione des alten Gideon in einem der Lager des Gegners. Hier aber wurde er gegen einen anderen Gegner eingesetzt: die Rivalen, die ihn ruinierten, weil er nicht mitmachte.«

»Ich verstehe immer noch nicht, wie er eingesetzt wurde«, sagte Byrne, »oder wozu.«

»Aber begreifen Sie denn nicht«, rief Father Brown scharf, »daß sie sich gegenseitig ein Alibi verschafften?«

Byrne sah ihn immer noch etwas zweifelnd an, obwohl Verständnis auf seinem Gesicht aufdämmerte.

»Das meinte ich«, fuhr der andere fort, »als ich sagte, sie seien drin, weil sie raus seien. Die meisten Leute würden sagen, daß sie aus den beiden anderen Verbrechen raus sind, weil sie in diesem drin waren. Tatsächlich aber sind sie in den beiden anderen drin, weil sie aus diesem einen raus sind; weil dieses eine niemals stattgefunden hat. Eine sehr eigentümliche und unwahrscheinliche Art Alibi, natürlich; unwahrscheinlich und deshalb undurchdringlich. Die meisten Leute würden sagen, daß ein Mann, der einen Mord gesteht, aufrichtig sein muß; daß ein Mann, der seinem Mörder vergibt, aufrichtig sein muß. Niemand würde annehmen, daß das Ding gar nicht stattgefunden hat, so daß der eine Mann nichts zu vergeben und der andere nichts zu fürchten hat. Sie waren für jene Nacht durch eine Geschichte, die gegen sie zeugt, an dieser Stelle fixiert. Aber sie waren in jener Nacht nicht hier; denn Horne ermordete da den alten Gallup im Walde, während Wise den kleinen Juden in seinem römischen Badhaus erwürgte. Deshalb habe ich gefragt, ob Wise wirklich stark genug für ein solches Kletterabenteuer ist.«

»Das war wirklich ein gutes Abenteuer«, sagte Byrne bedauernd. »Es paßte in die Landschaft und war wirklich sehr überzeugend.«

»Zu überzeugend, um zu überzeugen«, sagte Father Brown und schüttelte den Kopf. »Wie lebendig wurde jener mondbeschienene Schaum hochgeschleudert und in einen Geist verwandelt. Und wie literarisch! Horne ist ein Kriecher und ein Stinktier, aber vergessen Sie niemals, daß er wie viele andere Kriecher und Stinktiere in der Geschichte auch ein Dichter ist.«