Die Ehre des Israel Gow

 

Ein stürmischer Abend in Olivgrün und Silber brach an, als Father Brown in einen grauen schottischen Plaid gehüllt an das Ende eines grauen schottischen Tales gelangte und die eigenartige Burg Glengyle erblickte. Sie verschloß das eine Ende der Schlucht oder des Hohlwegs wie eine Sackgasse; und sah aus wie das Ende der Welt. Sie stieg in steilen Dächern und Spitztürmen aus seegrünem Schiefer nach Art der alten französisch-schottischen Schlösser empor und erinnerte einen Engländer an die unheimlichen Kirchturmhüte der Hexen in Märchen; und die Föhren, die um die grünen Türme wogten, sahen im Vergleich so schwarz wie zahllose Rabenschwärme aus. Dieser Anflug verträumter, fast verschlafener Teufelei war keine bloße Laune der Landschaft. Denn über der Stätte lagerte eine jener Wolken aus Stolz und Wahnsinn und rätselvoller Trauer, die schwerer über den Adelshäusern Schottlands lagern als über irgendwelchen anderen Menschenkindern. Denn Schottland erhielt eine doppelte Dosis jenes Giftes, das man Vererbung nennt; den Sinn des Aristokraten fürs Blut und den Sinn des Calvinisten fürs Schicksal.

Der Priester hatte sich für einen Tag von seinen Geschäften in Glasgow weggestohlen, um seinen Freund Flambeau zu treffen, den Amateurdetektiv, der auf Burg Glengyle gemeinsam mit einem anderen offizielleren Beamten Leben und Tod des verblichenen Earl of Glengyle untersuchte. Diese geheimnisvolle Persönlichkeit war der letzte Vertreter einer Rasse gewesen, die Tapferkeit, Wahnsinn und gewalttätige Hinterlist selbst unter dem finsteren Adel ihrer Nation im 16. Jahrhundert schrecklich gemacht hatten. Niemand stak tiefer in jenem Labyrinth des Ehrgeizes, in der Kammer innerhalb der Kammer jenes Palastes aus Lügen, den man um Maria, die Königin der Schotten, errichtet hatte.

Ein Spruch, der in jener Gegend umging, bezeugte Ursache und Folgen ihrer Umtriebe eindeutig:

 

Was grüner Saft für das Wachsen der Bäume

War rotes Gold für der Ogilvies Träume.

 

Während vieler Jahrhunderte hatte es niemals einen redlichen Herrn auf Burg Glengyle gegeben; und als das viktorianische Zeitalter anbrach, hätte man meinen sollen, daß alle Exzentrizitäten erschöpft seien. Der letzte derer von Glengyle aber wurde den Traditionen seines Stammes dergestalt gerecht, daß er das einzige tat, was ihm zu tun übriggeblieben war: Er verschwand. Damit meine ich nicht, daß er ins Ausland ging; allen Berichten zufolge befand er sich immer noch in der Burg, wenn er sich überhaupt noch irgendwo befand. Aber obwohl sich sein Name im Kirchenbuch befand und im Register des Hochadels, hat niemand ihn je unter der Sonne gesehen.

Falls überhaupt jemand ihn sah, war es ein einsamer Diener, ein Mittelding zwischen Stallknecht und Gärtner. Er war so taub, daß die Geschäftsmäßigeren ihn für stumm hielten, während die Tieferblickenden ihn für schwachsinnig erklärten. Ein hagerer rothaariger Arbeiter, mit mächtigem Kiefer und Kinn und ausdruckslosen Augen; er hörte auf den Namen Israel Gow und war der einzige, schweigende Dienstbote auf jenem verlassenen Besitz. Aber die Energie, mit der er Kartoffeln ausbuddelte, und die Regelmäßigkeit, mit der er in der Küche verschwand, vermittelten den Leuten den Eindruck, daß er für die Mahlzeiten eines Höhergestellten sorgte und daß der merkwürdige Earl sich immer noch in der Burg barg. Und wenn die Gesellschaft noch eines weiteren Beweises bedurft hätte, daß er sich dort aufhielt, so reichte die hartnäckige Behauptung des Dienstboten, daß er nicht zu Hause sei.

Eines Morgens wurden der Ortsvorsteher und der Prediger (denn die Glengyles waren Presbyterianer) auf die Burg gerufen. Dort stellten sie fest, daß der Gärtner, Stallknecht und Koch seinen vielen Berufen noch den weiteren eines Leichenbestatters hinzugefügt und seinen noblen Herrn in seinen Sarg genagelt hatte. Wie viele oder wie wenige weitere Untersuchungen diese eigenartige Tatsache begleiteten, war bisher noch nicht klar erkennbar; denn der Vorgang war nie juristisch untersucht worden, bis Flambeau vor zwei oder drei Tagen in den Norden gekommen war. Da aber ruhte der Leichnam von Lord Glengyle (wenn es denn sein Leichnam war) bereits seit einiger Zeit in dem kleinen Friedhof auf dem Hügel.

Als Father Brown den dunklen Garten durchschritt und in den Schatten der Burg geriet, waren die Wolken schwer und die Luft feucht und gewitterschwül. Vor dem letzten Streifen des grüngoldenen Sonnenuntergangs sah er eine schwarze menschliche Silhouette; einen Mann mit einer Angströhre, der einen großen Spaten geschultert hatte. Diese Zusammenstellung erinnerte merkwürdig an einen Totengräber; als Brown sich aber an den stummen Knecht erinnerte, der Kartoffeln ausgrub, fand er es natürlich genug. Er wußte einiges über den schottischen Bauern; er wußte von seiner Achtbarkeit, die es verlangen mochte, zu einer amtlichen Untersuchung »schwarz« zu tragen; er wußte auch von der Sparsamkeit, die deswegen keine Stunde lang Graben verlieren würde. Sogar das Stutzen des Mannes und sein mißtrauisches Starren, als der Priester vorbeiging, entsprachen der Wachsamkeit und dem Argwohn dieses Menschenschlags.

Flambeau selbst, der in Begleitung eines mageren Mannes mit stahlgrauen Haaren und Papieren in den Händen war, Inspektor Craven von Scotland Yard, öffnete ihm die große Tür. Die Eingangshalle war größtenteils kahl und leer; aber die fahlen höhnischen Gesichter von einem oder zwei der verruchten Ogilvies blickten herab aus schwarzen Perücken und sich schwärzenden Leinwänden.

Als Father Brown den Verbündeten in einen der inneren Räume folgte, sah er, daß sie an einem langen Eichentisch gesessen hatten, davon ihr Ende mit beschriebenen Papieren bedeckt war, flankiert von Whisky und Zigarren. Die gesamte übrige Fläche war bedeckt mit einzelnen Gegenständen, die in Abständen angeordnet waren; so unerklärlichen Gegenständen, wie Gegenstände nur sein können. Ein Gegenstand sah aus wie ein kleines Häufchen glitzernden zerbrochenen Glases. Ein anderer sah aus wie ein hoher Haufen braunen Staubes. Ein dritter schien ein einfacher Holzstock zu sein.

»Sie scheinen hier eine Art von geologischem Museum zu haben«, sagte er, als er sich niederließ, und ruckte mit dem Kopf kurz in die Richtung des braunen Staubes und der kristallinen Bruchstücke.

»Kein geologisches Museum«, erwiderte Flambeau; »sagen Sie lieber ein psychologisches Museum.«

»Oh, um Gottes willen«, rief der Polizeidetektiv lachend, »wir wollen doch erst gar nicht mit so langen Wörtern anfangen.«

»Wissen Sie denn nicht, was Psychologie bedeutet?« fragte Flambeau mit freundlichem Erstaunen. »Psychologie bedeutet, es rappelt im Karton.«

»Ich kann immer noch nicht ganz folgen«, erwiderte der Beamte.

»Na schön«, sagte Flambeau entschieden; »was ich meine ist, daß wir über Lord Glengyle nur eines herausgefunden haben. Er war irre.«

Die schwarze Silhouette von Gow mit Zylinder und Spaten glitt, undeutlich gegen den dunkelnden Himmel umrissen, am Fenster vorbei. Father Brown starrte sie unbewegt an und antwortete:

»Ich kann ja verstehen, daß da irgendwas Sonderbares um den Mann war, denn sonst hätte er sich nicht lebendig begraben – und auch nicht so eine Eile gehabt, sich tot begraben zu lassen. Aber was läßt Sie denken, er wäre ein Irrsinniger gewesen?«

»Na gut«, sagte Flambeau; »dann hören Sie sich nur mal die Liste der Gegenstände an, die Craven im Haus gefunden hat.«

»Dazu brauchen wir eine Kerze«, sagte Craven plötzlich. »Ein Sturm kommt auf, und es ist schon zu dunkel zum Lesen.«

»Haben Sie unter Ihren Sonderbarkeiten«, fragte Brown lächelnd, »irgendwelche Kerzen gefunden?«

Flambeau hob sein ernstes Gesicht und richtete seine dunklen Augen auf den Freund.

»Das ist auch seltsam«, sagte er. »25 Kerzen und keine Spur von einem Kerzenhalter.«

In dem sich schnell verdunkelnden Zimmer ging Brown bei dem sich schnell verstärkenden Wind am Tisch entlang da hin, wo ein Bündel Wachskerzen zwischen den anderen Ausstellungsbruchstücken lag. Dabei beugte er sich zufällig über den Haufen rotbraunen Staubes; und ein scharfes Niesen zerbrach die Stille.

»Hallo!« sagte er. »Schnupftabak!«

Er nahm eine der Kerzen, zündete sie sorgfältig an, kam zurück und steckte sie in den Hals der Whiskyflasche. Die unruhige Nachtluft, die durch das zerbrochene Fenster fuhr, ließ die lange Kerzenflamme wie ein Banner wehen. Und rings um die Burg konnte man die schwarzen Föhren Meilen über Meilen wie eine schwarze See um den Felsen rauschen hören.

»Ich will das Verzeichnis verlesen«, begann Craven ernst und hob eines der Papiere auf, »ein Verzeichnis von dem, was wir zusammenhanglos und unerklärlich in der Burg fanden. Sie müssen wissen, daß die Burg fast ausgeräumt und vernachlässigt ist; ein oder zwei Räume sind aber von jemandem in einem einfachen aber keineswegs ärmlichen Stil bewohnt worden; jemand, der nicht der Knecht Gow war. Hier ist die Liste:

Erstens. Ein sehr beachtlicher Hort wertvoller Steine, fast alles Diamanten, und alle lose, ohne jede Fassung. Selbstverständlich ist es nur natürlich, daß die Ogilvies Familienschmuck besaßen; nun sind dies genau die Schmucksteine, die fast immer in besondere Fassungen eingesetzt werden. Die Ogilvies aber scheinen sie lose wie Kupfermünzen in den Taschen getragen zu haben.

Zweitens. Haufen über Haufen loser Schnupftabak, nicht etwa in einer Büchse oder auch nur in einem Beutel, sondern in losen Haufen auf den Wandsimsen, auf der Anrichte, auf dem Piano, überall. Es hat den Anschein, als ob der alte Herr sich nicht die Mühe machen wollte, in einer Tasche zu suchen oder einen Deckel aufzuklappen.

Drittens. Hier und da im Haus sonderbare kleine Häufchen aus winzigen Metallteilen, manche in der Form von Stahlfedern und andere in der von mikroskopischen Rädchen. Als ob man irgendein mechanisches Spielzeug auseinandergenommen hätte.

Viertens. Die Wachskerzen, die man in Flaschenhälse stecken muß, weil nichts anderes da ist, sie hineinzustecken.

Nun bitte ich Sie zu beachten, wieviel sonderbarer all dieses ist als das, was wir erwartet haben. Auf das Haupträtsel waren wir vorbereitet; wir haben alle auf den ersten Blick gesehen, daß mit dem letzten Earl irgend etwas nicht in Ordnung war. Wir kamen hierher, um herauszufinden, ob er wirklich hier lebte, ob er wirklich hier starb, ob jene rothaarige Vogelscheuche, die ihn begrub, etwas damit zu tun hat, daß er starb. Stellen Sie sich von mir aus die übelste all dieser Möglichkeiten vor, die finsterste oder melodramatischste Lösung nach Belieben. Stellen Sie sich vor, der Diener tötete wirklich den Herrn, oder stellen Sie sich vor, der Herr ist nicht wirklich tot, oder stellen Sie sich den Herrn als Diener verkleidet vor, oder stellen Sie sich den Diener an der Stelle des Herrn begraben vor; erfinden Sie sich welche Tragödie auch immer im Stil von Wilkie Collins, aber dann haben Sie immer noch nicht eine Kerze ohne Kerzenhalter erklärt, oder warum ein älterer Herr aus gutem Hause gewohnheitsmäßig Schnupftabak auf dem Piano verstreuen sollte. Den Kern der Geschichte können wir uns vorstellen; es sind die Ränder, die rätselvoll sind. Selbst die wildeste Phantasie des menschlichen Geistes kann Schnupftabak und Diamanten und Wachs und loses Uhrwerk nicht miteinander verbinden.«

»Ich glaube, ich sehe die Verbindung«, sagte der Priester. »Dieser Glengyle haßte die Französische Revolution. Er war begeisterter Anhänger des ancien régime, und deshalb versuchte er, das Familienleben der letzten Bourbonen buchstäblich nachzuspielen. Er hatte Schnupftabak, denn das war der Luxus des 18. Jahrhunderts; Wachskerzen, denn sie waren die Beleuchtung des 18. Jahrhunderts; die mechanischen Eisenstückchen stellen die Uhrmacherei von Ludwig XVI. dar; die Diamanten sind für das Halsband Marie Antoinettes bestimmt.«

Die beiden anderen Männer starrten ihn mit aufgerissenen Augen an. »Welch eine vollkommen ungewöhnliche Idee!« rief Flambeau. »Glauben Sie wirklich, daß das die Wahrheit ist?«

»Ich bin absolut sicher, daß sie das nicht ist«, antwortete Father Brown, »nur sagten Sie, daß niemand Schnupftabak und Diamanten und Uhrwerk und Kerzen in eine Beziehung bringen könnte. Ich habe Ihnen eine solche Beziehung aus dem Ärmel geschüttelt. Die wirkliche Wahrheit liegt mit Sicherheit tiefer.«

Er schwieg einen Augenblick und lauschte dem Heulen des Windes um die Türme. Dann sagte er: »Der verblichene Earl of Glengyle war ein Dieb. Er lebte ein zweites und dunkleres Leben als ein zu allem entschlossener Einbrecher. Er hatte keine Kerzenhalter, weil er die Kerzen nur kurzgeschnitten in seinen Laternen verwendete. Den Schnupftabak verwendete er wie die wildesten französischen Verbrecher den Pfeffer: um ihn plötzlich in großen Mengen einem Häscher oder Verfolger ins Gesicht zu schleudern. Der letzte Beweis aber ist das eigenartige Zusammentreffen von Diamanten und kleinen Stahlrädern. Damit wird Ihnen doch wohl alles klar? Diamanten und kleine Stahlräder sind die beiden einzigen Instrumente, mit denen man eine Glasscheibe ausschneiden kann.«

Der Zweig einer geknickten Föhre peitschte im Sturm schwer gegen die Fensterscheibe hinter ihnen, wie eine Parodie auf einen Einbrecher, aber sie sahen sich nicht um. Ihre Augen hafteten an Father Brown.

»Diamanten und kleine Räder«, wiederholte Craven nachdenklich. »Ist das alles, was Sie denken läßt, das wäre die richtige Erklärung?«

»Ich glaube nicht, daß das die richtige Erklärung ist«, erwiderte der Priester gelassen; »aber Sie haben behauptet, niemand könne diese vier Dinge miteinander verbinden. Die wirkliche Geschichte ist natürlich viel langweiliger. Glengyle fand wertvolle Steine auf seinem Besitz, oder glaubte es wenigstens. Jemand hat ihn mit diesen losen Diamanten getäuscht und behauptet, man habe sie in den Burgkellern gefunden. Die kleinen Räder sind irgendein Diamantenschneidegerät. Er konnte die Sache nur sehr grob und in kleinem Maßstab durchführen, mit der Hilfe einiger Schäfer oder anderer rauher Burschen aus diesen Hügeln. Schnupftabak ist der einzige große Luxus dieser schottischen Schäfer; er ist der einzige Stoff, mit dem man sie bestechen kann. Sie hatten keine Kerzenhalter, weil sie keine brauchten; sie hielten die Kerzen in den eigenen Händen, wenn sie die Burghöhlen durchforschten.«

»Und das ist alles?« fragte Flambeau nach einer langen Pause. »Sind wir damit endlich an die nüchterne Wahrheit geraten?«

»O nein«, sagte Father Brown.

Als der Wind in den fernsten Föhren mit einem langen spöttischen Heulen erstarb, fuhr Father Brown mit völlig unbewegtem Gesicht fort:

»Ich habe das nur vorgebracht, weil Sie behaupteten, niemand könne glaubwürdig Schnupftabak mit Uhrwerken oder Kerzen mit Edelsteinen verbinden. Zehn falsche Philosophien passen aufs Universum; zehn falsche Theorien passen auf Burg Glengyle. Wir aber wollen die wirkliche Erklärung für Burg und All. Gibt es keine anderen Beweisstücke?«

Craven lachte, und Flambeau stand lächelnd auf und wanderte den langen Tisch entlang.

»Fünftens, sechstens, siebtens usw.«, sagte er, »sind bei weitem vielfältiger als erhellend. Eine sonderbare Sammlung nicht von Bleistiften, sondern von Bleiminen aus Bleistiften. Ein sinnloser Bambusstock mit einem ziemlich zersplitterten Ende. Der könnte das Instrument des Verbrechens sein. Nur gibt es kein Verbrechen. Die einzigen anderen Gegenstände sind einige alte Meßbücher und kleine katholische Bilder, die die Ogilvies wohl seit dem Mittelalter aufgehoben haben – ihr Familienstolz war eben stärker als ihr Puritanismus. Wir haben sie nur deshalb ins Museum aufgenommen, weil sie seltsam zerschnitten und entstellt sind.«

Der ungestüme Sturm draußen trieb schauerliche Wolkenwracks über Glengyle dahin und stürzte den langen Raum in Dunkelheit, als Father Brown die kleinen illuminierten Seiten aufnahm, um sie zu untersuchen. Er sprach, bevor der Zug der Dunkelheit vorüber war; aber es war die Stimme eines völlig neuen Mannes.

»Mr. Craven«, sagte er, und sprach wie ein zehn Jahre jüngerer Mann, »Sie haben doch eine gesetzliche Vollmacht, hinzugehen und das Grab zu untersuchen, oder? Je eher wir das tun, um so besser, damit wir dieser scheußlichen Geschichte auf den Grund kommen. Wenn ich Sie wäre, würde ich jetzt gehen.«

»Jetzt«, wiederholte der überraschte Detektiv, »und warum jetzt?«

»Weil dies ernst ist«, antwortete Brown; »hier geht es nicht mehr um verschütteten Schnupftabak oder lose Kiesel, die aus hunderterlei Gründen umherhegen können. Ich kenne nur einen Grund dafür, daß das gemacht wird; und dieser Grund reicht hinab bis an die Wurzeln der Welt. Diese religiösen Bilder sind nicht einfach beschmutzt oder zerrissen oder verkritzelt, wie das aus Müßiggang oder Bigotterie geschehen kann, durch Kinder oder durch Protestanten. Diese wurden sehr sorgfältig behandelt – und sehr eigenartig. Überall da, wo der große verzierte Eigenname Gottes in diesen alten Illuminationen vorkommt, ist er sehr sorgsam herausgeschnitten worden. Das einzige andere, was herausgeschnitten wurde, ist der Heiligenschein um den Kopf des Jesuskindes. Deshalb sage ich: Nehmen wir unsere Vollmacht und unseren Spaten und unsere Hacke und gehen hinauf und öffnen den Sarg.«

»Was genau meinen Sie?« fragte der Londoner Beamte.

»Ich meine«, antwortete der kleine Priester, und seine Stimme schien im Röhren des Sturmes lauter zu werden, »ich meine, daß der große Teufel des Universums vielleicht gerade jetzt oben auf dem höchsten Turm dieser Burg hockt, gewaltig groß wie hundert Elefanten und brüllend wie die Apokalypse. Irgendwo auf dem Grund dieses Falles ist schwarze Magie.«

»Schwarze Magie«, wiederholte Flambeau mit leiser Stimme, denn er war zu aufgeklärt, als daß er nicht von diesen Dingen gewußt hätte; »was aber können diese anderen Dinge bedeuten?«

»Oh, sicherlich irgend etwas Verdammungswürdiges, vermute ich«, sagte Brown ungeduldig. »Woher soll ich das wissen? Wie sollte ich denn all ihre Irrwege hienieden erraten können? Vielleicht kann man aus Schnupftabak und Bambusrohr ein Folterinstrument machen. Vielleicht gieren Wahnsinnige nach Wachs und Stahlspänen. Vielleicht kann man aus Bleistiftminen eine Wahnsinn-Droge herstellen! Unser kürzester Weg in dieses Geheimnis ist der den Hügel hinauf zum Grab.«

Seine Gefährten merkten kaum, daß sie gehorchten, und folgten ihm, bis eine Bö des Nachtwindes sie im Garten fast auf ihre Gesichter niederwarf. Und dennoch hatten sie ihm wie Automaten gehorcht; denn Craven fand ein Beil in seiner Hand und die Vollmacht in seiner Tasche; Flambeau trug den schweren Spaten des seltsamen Gärtners; Father Brown trug das kleine goldene Buch, aus dem der Name Gottes gerissen worden war.

Der Pfad hügelan zum Friedhof war gewunden, doch kurz; nur im Druck des Windes erschien er mühsam und lang. So weit das Auge blicken konnte, und weiter und weiter, je höher sie am Hang hochstiegen, wogten Meere und Meere von Föhren, die nun unterm Wind sich alle in eine Richtung bogen. Und diese allgemeine Bewegung erschien ebenso nutzlos, wie sie grenzenlos war, so nutzlos, als ob jener Wind dahinwehe über einen unbevölkerten und nutzlosen Planeten. Durch all jenen unendlichen Wuchs graublauer Wälder sang schrill und hoch die uralte Trauer, die im Herzen aller heidnischen Dinge ist. Man konnte sich einbilden, daß die Stimme aus der Unterwelt des unermeßlichen Laubwerks die Schreie der verlorenen und wandernden heidnischen Götter seien: von Göttern, die diesen irrationalen Wald durchstreiften und nie mehr ihren Weg zurück in den Himmel finden.

»Wissen Sie«, sagte Father Brown mit leiser, aber entspannter Stimme, »die Schotten waren, schon ehe es Schottland gab, ein sonderbares Volk. Eigentlich sind sie immer noch ein sonderbares Volk. Aber in prähistorischen Zeiten haben sie wohl tatsächlich Dämonen verehrt. Und deshalb«, fügte er freundlich hinzu, »sagt ihnen auch die puritanische Theologie so zu.«

»Mein Freund«, fragte Flambeau und wandte sich fast zornig um, »was bedeutet denn all dieser Schnupftabak?«

»Mein Freund«, erwiderte Brown mit gleicher Ernsthaftigkeit, »alle echten Religionen kennzeichnet eines: ihr Materialismus. Und Teufelsanbetung ist eine wahrlich echte Religion.«

Sie hatten das grasige Haupt des Hügels erreicht, eine der wenigen kahlen Stellen, die sich aus dem krachenden und röhrenden Föhrenwald erhoben. Ein billiger Zaun, teils aus Holz und teils aus Draht, klapperte im Sturm und wies ihnen die Grenze des Friedhofs. Als aber Inspektor Craven endlich die Ecke des Grabes erreicht und Flambeau seinen Spaten, Spitze nach unten, abgesetzt und sich darauf gestützt hatte, waren sie beide fast ebenso wackelig wie der wackelige Zaun aus Holz und Draht. Zu Füßen des Grabes wuchsen große hohe Disteln, grau und silbern in ihrem Verfall. Manchmal, wenn sich ein Ball aus Distelwolle im Winddruck löste und an ihm vorbeiflog, zuckte Craven zusammen, als wäre es ein Pfeil.

Flambeau trieb das Blatt seines Spatens durch das zischelnde Gras in die nasse Erde darunter. Dann schien er innezuhalten und sich darauf zu stützen wie auf einen Stab.

»Weiter«, sagte der Priester sehr sanft. »Wir versuchen nur, die Wahrheit herauszufinden. Wovor haben Sie Angst?«

»Davor, sie zu finden«, sagte Flambeau.

Der Londoner Detektiv sprach plötzlich mit einer hohen krähenden Stimme, die eine fröhliche Gesprächsstimme sein sollte. »Ich frage mich, warum er sich wirklich so versteckt hat. Irgendwas Übles, nehme ich an; war er ein Aussätziger?«

»Schlimmer als das«, sagte Flambeau.

»Und was stellen Sie sich vor«, fragte der andere, »könnte schlimmer sein als aussätzig?«

»Ich stelle es mir nicht vor«, sagte Flambeau.

Er grub während einiger scheußlicher Minuten schweigend weiter und sagte dann mit erstickter Stimme: »Ich fürchte, der hier hat nicht die richtige Form.«

»Die hatte auch jenes Stück Papier nicht«, sagte Father Brown ruhig, »und wir überlebten sogar jenes Stück Papier.«{*}

Flambeau grub in blindem Eifer weiter. Aber der Sturm hatte die erstickenden grauen Wolken beiseite geschoben, die an den Hügeln hingen wie Rauch, und graue Felder schwachen Sternenlichtes enthüllt, ehe Flambeau den Umriß eines rohen Holzsargs freigelegt und den irgendwie auf den Rasen gekippt hatte. Craven trat mit seiner Axt hervor; eine Distelspitze berührte ihn, und er fuhr zusammen. Dann trat er entschlossener vor und hackte und hebelte mit ebensolchem Eifer wie Flambeau drauflos, bis der Deckel abgesprengt war und alles, was da war, schimmernd im grauen Sternenlicht lag.

»Knochen«, sagte Craven, und dann fügte er hinzu: »aber das ist ja ein Mann«, als ob das etwas Unerwartetes wäre.

»Ist er«, fragte Flambeau mit einer Stimme, die seltsam auf und nieder schwankte, »ist er in Ordnung?«

»Scheint so«, sagte der Beamte heiser und beugte sich über das undeutliche verfaulende Skelett in der Kiste. »Einen Augenblick.«

Ein mächtiger Schauder überlief Flambeaus riesige Gestalt. »Wenn ich jetzt darüber nachdenke«, schrie er, »warum im Namen des Wahnsinns sollte er nicht in Ordnung sein? Was packt einen Mann in diesen verfluchten kalten Bergen? Ich glaube, das ist die schwarze hirnlose Gleichförmigkeit; all diese Wälder, und über allem das uralte Grauen des Unbewußten. Das ist wie der Traum eines Atheisten. Föhren und noch mehr Föhren und millionenmal mehr Föhren – «

»Um Gottes Willen!« schrie der Mann am Sarg. »Er hat ja keinen Kopf.«

Während die anderen erstarrten, zeigte der Priester zum ersten Mal das Zusammenzucken der Betroffenheit.

»Keinen Kopf!« wiederholte er. »Keinen Kopf?«, als hätte er eher irgendeinen anderen Mangel erwartet.

Halbverrückte Vorstellungen von einem kopflosen Säugling, geboren zu Glengyle, von einem kopflosen Jüngling, der sich in der Burg verbarg, von einem kopflosen Mann, der jene alten Hallen oder jenen üppigen Garten durchschritt, zogen wie ein Panorama durch ihren Sinn. Aber nicht einmal in diesem erstarrten Augenblick schlug diese Saga Wurzeln in ihnen und schien auch keinen Sinn zu ergeben. Sie standen und lauschten den lauten Wäldern und dem heulenden Himmel, töricht wie erschöpfte Tiere. Denken schien etwas Ungeheures zu sein, das plötzlich ihrem Zugriff entschlüpft war.

»Da stehen also drei kopflose Männer«, sagte Father Brown, »rund um das offene Grab.«

Der blasse Detektiv aus London öffnete den Mund, um zu reden, und ließ ihn wie der Dorftrottel offenstehen, während ein langgezogener Schrei des Windes den Himmel zerriß; dann blickte er auf die Axt in seinen Händen, als ob sie nicht zu ihm gehöre, und ließ sie fallen.

»Father«, sagte Flambeau mit jener kindlichen, ernsten Stimme, die er nur selten benutzte, »was sollen wir tun?«

Die Antwort seines Freundes kam mit der explosiven Promptheit eines gelösten Schusses.

»Schlafen!« rief Father Brown. »Schlafen. Wir haben das Ende des Weges erreicht. Wißt Ihr, was Schlaf ist? Wißt Ihr, daß jeder Mensch, der schläft, an Gott glaubt? Schlaf ist ein Sakrament; denn er ist ein Akt des Glaubens und er ist Nahrung. Und wir brauchen ein Sakrament, auch wenn es nur ein natürliches ist. Uns ist widerfahren, was Menschen sehr selten widerfährt; vielleicht das Schlimmste, was ihnen widerfahren kann.«

Cravens geöffnete Lippen näherten sich einander, um zu fragen: »Was meinen Sie?«

Der Priester wandte sein Gesicht der Burg zu, als er antwortete: »Wir haben die Wahrheit gefunden; und die Wahrheit ergibt keinen Sinn.«

Er schritt ihnen voraus den Pfad hinab mit einem stürmischen und rücksichtslosen Schritt, der an ihm sehr selten war, und als sie die Burg erreicht hatten, warf er sich mit der Unschuld eines Hundes in den Schlaf.

Trotz seines mystischen Lobgesangs auf den Schlummer war Father Brown eher auf als alle anderen, mit Ausnahme des schweigsamen Gärtners; und ward aufgefunden, wie er eine große Pfeife schmauchte und jenen Fachmann bei seiner wortlosen Arbeit im Küchengarten beobachtete. Gegen Tagesanbruch hatte der rüttelnde Sturm in rauschendem Regen geendet, und der Tag kam mit eigenartiger Frische. Der Gärtner schien sogar gesprochen zu haben, aber beim Anblick der Detektive pflanzte er seinen Spaten mürrisch in ein Beet, sagte irgendwas über sein Frühstück, schlurfte die Kohlkopfreihen entlang und schloß sich in der Küche ein. »Ein wertvoller Mensch, das«, sagte Father Brown. »Er pflegt die Kartoffeln ganz erstaunlich. Aber«, fügte er mit leidenschaftsloser Nachsicht hinzu, »er hat seine Fehler; wer von uns hat die nicht? Er hat dieses Beet nicht ganz regelmäßig umgegraben. Da zum Beispiel«, und er stampfte plötzlich auf eine Stelle. »Wegen dieser Kartoffel habe ich wirklich meine Bedenken.«

»Und warum?« fragte Craven, den das neue Steckenpferd des kleinen Mannes erheiterte.

»Ich habe meine Bedenken«, sagte der andere, »weil der alte Gow selbst seine Bedenken hatte. Er stach mit seinem Spaten methodisch in jede Stelle bis auf diese. Also muß genau hier eine mächtig feine Kartoffel stecken.«

Flambeau zog den Spaten heraus und trieb ihn ungestüm in die Stelle hinein. Er hob mit einer Ladung Erde etwas heraus, das nicht wie eine Kartoffel aussah, sondern eher wie ein monströser Pilz mit übergroßem Hut. Aber es traf den Spaten mit einem kalten Klicken; es rollte dahin wie ein Ball und grinste zu ihnen auf.

»Der Earl of Glengyle«, sagte Brown traurig und blickte bedrückt auf den Schädel hinab.

Dann, nach einem Augenblick des Nachdenkens, nahm er Flambeau den Spaten weg und sagte: »Wir müssen ihn wieder verstecken«, und packte ihn in die Erde. Danach stützte er seinen kleinen Körper mit dem mächtigen Kopf auf den großen Griff des Spatens, der fest in der Erde stak, und seine Augen waren leer und seine Stirn war voller Falten. »Wenn man nur«, murmelte er, »die Bedeutung dieser letzten Monstrosität begreifen könnte.« Und indem er sich über den großen Spatengriff lehnte, verbarg er seinen Kopf in den Händen, wie man das in der Kirche tut.

Der Himmel leuchtete an allen Ecken in Blau und Silber auf; die Vögel zwitscherten in den winzigen Gartenbäumen; das schien so laut, als sprächen die Bäume selber. Aber die drei Männer waren schweigsam genug.

»Na, ich jedenfalls geb’s auf«, sagte Flambeau schließlich heftig. »Mein Gehirn und diese Welt passen nicht zusammen; und das ist alles. Schnupftabak, zerstörte Gebetbücher und das Innere von Musikautomaten – was – «

Brown warf seine zerquälte Stirn zurück und pochte mit einer für ihn sehr ungewöhnlichen Unduldsamkeit auf den Spatengriff. »O pah, pah, pah!« rief er. »Das alles ist so klar wie Kloßbrühe. Ich habe den Schnupftabak und all das Uhrwerk und all das begriffen, als ich heute morgen die Augen aufschlug. Und danach hab ich das mit dem alten Gow geklärt, dem Gärtner, der weder so stumm noch so dumm ist, wie er zu sein vorgibt. Bei den losen Dingen fehlt nichts. Und beim zerrissenen Meßbuch hab ich mich auch geirrt; da ist nichts Schlimmes. Aber diese letzte Angelegenheit. Gräber zu schänden und toter Männer Köpfe zu stehlen – da steckt doch sicherlich Schlimmes drin? Da steckt doch sicher schwarze Magie drin? Das paßt doch nicht in die einfache Geschichte vom Schnupftabak und den Kerzen.« Und wieder schritt er auf und ab und rauchte mürrisch.

»Mein Freund«, sagte Flambeau mit grimmem Humor, »Sie müssen mit mir vorsichtig umgehen und sich daran erinnern, daß ich einstmals ein Verbrecher war. Der große Vorteil jenes Zustandes war, daß ich die Geschichte immer selbst entwarf und sie so schnell spielte, wie es mir gefiel. Dieses Herumlungern, wie es das Geschäft des Detektivs verlangt, ist für meine französische Ungeduld zuviel. Während meines ganzen Lebens habe ich, gut oder nicht, alles sofort erledigt; ich habe meine Duelle immer am nächsten Morgen gefochten; ich habe meine Rechnungen immer pünktlich bezahlt; ich habe nicht mal einen Besuch beim Zahnarzt aufgeschoben – «

Father Brown fiel die Pfeife aus dem Mund und zerbrach auf dem Kiesweg in drei Stücke. Er stand da und rollte mit den Augen, das wahre Abbild eines Schwachsinnigen. »Gott, was bin ich für ein Dummkopf!« wiederholte er immer wieder. »Gott, was für ein Dummkopf!« Dann begann er in einer fast trunkenen Weise zu lachen.

»Der Zahnarzt!« wiederholte er. »Sechs Stunden im geistigen Abgrund, und alles nur, weil ich nie an den Zahnarzt gedacht habe! So ein einfacher, so ein schöner und friedvoller Gedanke! Freunde, wir haben die Nacht in der Hölle verbracht; aber jetzt ist die Sonne aufgegangen, die Vögel jubilieren, und der strahlende Umriß des Zahnarztes tröstet die Welt.«

»Und ich werde den Sinn herauskriegen«, schrie Flambeau und stürmte vor, »selbst wenn ich die Foltern der Inquisition anwenden muß.«

Father Brown unterdrückte, was eine momentane Neigung zu sein schien, auf dem jetzt sonnenbestrahlten Rasen zu tanzen, und rief Mitleid erheischend wie ein Kind: »Ach laßt mich doch ein bißchen albern sein. Ihr wißt nicht, wie unglücklich ich war. Und jetzt weiß ich, daß es in dieser Geschichte überhaupt keine schwere Sünde gibt. Nur ein bißchen Verrücktheit, vielleicht – und wen stört das schon?«

Er wirbelte einmal herum und sah sie dann ernsthaft an.

»Dies ist nicht die Geschichte eines Verbrechens«, sagte er; »es ist vielmehr die Geschichte einer sonderbaren und verdrehten Redlichkeit. Wie haben es mit dem vermutlich einzigen Mann auf Erden zu tun, der nicht mehr genommen hat, als ihm zustand. Dies ist eine Studie der wilden Lebenslogik, die immer schon die Religion seiner Rasse war.

Jener alte Spruch der Gegend über das Haus der Glengyle

 

Was grüner Saft für das Wachsen der Bäume

War rotes Gold für der Ogilvies Träume

 

ist ebenso wörtlich gemeint wie bildlich. Er bedeutet nicht nur, daß die Glengyles nach Reichtum trachteten; es war ebenso wahr, daß sie buchstäblich Gold horteten; sie besaßen eine große Sammlung von Schmuck und Gerätschaften aus diesem Metall. Sie waren tatsächlich Geizhälse, deren Wahn diese Form annahm. Nun gehen Sie im Lichte dieser Tatsache einmal all die Dinge durch, die wir in der Burg gefunden haben. Diamanten ohne ihren goldenen Ring; Kerzen ohne ihre goldenen Kerzenhalter; Schnupftabak ohne goldene Schnupftabakdosen; Bleistiftminen ohne die goldenen Stifte; einen Spazierstock ohne seinen goldenen Knauf; Uhrwerke ohne ihre goldenen Uhren – oder besser Taschenuhren. Und wie verrückt es auch klingt, weil die Heiligenscheine und der Name Gottes in den alten Meßbüchern aus reinem Gold waren, wurden auch sie entfernt.«

Der Garten schien heller zu werden, das Gras fröhlicher in der stärkenden Sonne zu wachsen, als die verrückte Wahrheit erzählt war. Flambeau zündete sich eine Zigarette an, als sein Freund fortfuhr.

»Wurden entfernt«, berichtete Father Brown weiter, »wurden entfernt – aber nicht gestohlen. Diebe hätten dieses Geheimnis nie ungelüftet gelassen. Diebe hätten die goldenen Schnupftabakdosen, den Schnupftabak und alles geklaut; die goldenen Stifte, die Bleistiftminen und alles. Wir haben es mit einem Menschen zu tun, der ein eigenartiges Gewissen hat, aber gewiß ein Gewissen. Ich habe diesen verrückten Moralisten heute morgen in jenem Küchengarten gefunden, und ich habe die ganze Geschichte gehört.

Der verblichene Archibald Ogilvie kam von allen je auf Glengyle Geborenen einem guten Menschen am nächsten. Aber seine bittere Tugend wandelte sich zur Menschenfeindlichkeit; er grämte sich über die Unredlichkeit seiner Vorfahren und verallgemeinerte daraus eine Unredlichkeit aller Menschen. Insbesondere aber mißtraute er jeglicher Menschlichkeit oder Freigebigkeit; und er schwor: Wenn er einen Mann fände, der nur nehme, was ihm exakt zustehe, dann solle der alles Gold der Glengyles haben. Nachdem er so der Menschheit den Fehdehandschuh hingeworfen hatte, schloß er sich ein, ohne auch nur im mindesten zu erwarten, daß er eine Antwort darauf erhielte. Eines Tages aber brachte ihm ein tauber und scheinbar schwachsinniger Bursche aus einem entfernten Dorf ein verspätetes Telegramm; und Glengyle gab ihm in ätzendem Hohn einen funkelnagelneuen Farthing. Zumindest bildete er sich das ein, aber als er seine Münzen zählte, war der neue Farthing noch da und ein Sovereign verschwunden. Dieser Zwischenfall bot ihm weite Aussichten auf zynische Überlegungen. Der Bursche würde auf jeden Fall die schmierige Gierigkeit der Art beweisen. Entweder würde er verschwinden, der Dieb einer Münze; oder er würde tugendsam mit ihr zurückgekrochen kommen, der Heuchler in Erwartung einer Belohnung. Mitten in der Nacht wurde Lord Glengyle aus seinem Bett gepocht – denn er lebte allein – und mußte dem tauben Schwachsinnigen die Tür öffnen. Der Schwachsinnige brachte ihm nicht etwa den Sovereign, sondern exakt 19 Schilling 11 Pence und 3 Farthings Wechselgeld.

Die wilde Korrektheit dieses Tuns erfaßte das Hirn des verrückten Lords wie Feuer. Er schwor, daß er Diogenes sei, der lange einen ehrlichen Menschen gesucht und schließlich einen gefunden habe. Er verfaßte ein neues Testament, das ich gesehen habe. Er nahm den buchstäblichen Knaben in sein weitläufiges vernachlässigtes Haus auf und erzog ihn sich zu seinem einzigen Dienstboten und – in einer eigentümlichen Weise – zu seinem Erben. Und was immer dieses absonderliche Geschöpf verstehen mag, es verstand vollkommen die beiden fixen Ideen seines Herrn: erstens, daß der Buchstabe des Gesetzes alles ist; und zweitens, daß er das Gold der Glengyles erben solle. So weit so gut: und soweit ist auch alles einfach. Er hat das Haus von Gold entblößt, und nicht ein Gramm genommen, das kein Gold war; nicht soviel wie ein Gramm Schnupftabak. Er hob selbst das Blattgold einer alten Illumination ab und war vollkommen zufrieden, daß er den Rest unzerstört ließ. Alles das habe ich verstanden; aber ich konnte diese Geschichte mit dem Schädel nicht verstehen. Der menschliche Kopf, zwischen Kartoffeln vergraben, bedrückte mich wirklich. Es machte mir Sorgen – bis Flambeau das Wort sagte.

Jetzt wird alles in Ordnung kommen. Er wird den Schädel zurück ins Grab bringen, sobald er das Gold aus dem Zahn genommen hat.«

Und wirklich, als Flambeau an jenem Morgen den Hügel überquerte, sah er jenes sonderbare Wesen, den gerechten Geizhals, wie er an dem geschändeten Grab grub, den Schal um den Hals im Bergwind flatternd; den nüchternen Zylinder auf dem Kopf.