Der Fluch des Goldenen Kreuzes

 

Menschen saßen um einen kleinen Tisch herum, so zusammenhanglos und zufällig, als hätten sie jeder einzeln an demselben kleinen menschenleeren Eiland Schiffbruch erlitten. Jedenfalls umgab sie die See, denn in gewissem Sinn war ihr Eiland von einem anderen Eiland umschlossen, einer großen und fliegenden Insel wie Laputa. Der kleine Tisch war nämlich einer von vielen kleinen Tischen, die im Speisesaal jenes gigantischen Schiffes Moravia umherstanden, das durch die Nacht und die ewige Leere des Atlantiks jagte. Die kleine Gesellschaft hatte nichts gemeinsam, außer daß sie alle von Amerika nach England reisten. Mindestens zwei unter ihnen hätte man Berühmtheiten nennen können; andere hätte man düster nennen können und in ein oder zwei Fällen gar dubios.

Der erste war der berühmte Professor Smaill, eine Autorität auf dem Gebiet archäologischer Studien zum spätbyzantinischen Reich. Seine Vorlesungen, gehalten an einer amerikanischen Universität, wurden selbst an den autoritativsten europäischen Sitzen der Gelehrsamkeit als von erstrangiger Autorität anerkannt. Seine literarischen Werke waren so sehr von einer reifen und einbildungsmächtigen Sympathie für die europäische Vergangenheit durchtränkt, daß es Fremde oft erstaunte, ihn mit amerikanischem Akzent sprechen zu hören. Aber auf seine Weise war er sehr amerikanisch; er hatte langes blondes Haar, das er aus einer hohen viereckigen Stirn zurückgebürstet trug, lange gerade Gesichtszüge und einen eigentümlich gemischten Ausdruck von Gedankenverlorenheit und verhaltener Schnelligkeit, wie ein Löwe, der geistesabwesend über seinen nächsten Sprung nachgrübelt.

Es gab nur eine Dame in der Gruppe; aber sie stellte für sich allein (wie die Journalisten oftmals von ihr sagten) eine ganze Heerschar dar; und war durchaus bereit, an diesem oder jedem anderen Tisch die Gastgeberin, um nicht zu sagen: die Kaiserin zu spielen. Es war Lady Diana Wales, die berühmte Forschungsreisende in tropischen und anderen Ländern; aber ihr Erscheinen bei Tisch wies nichts Rauhes oder Männliches auf. Sie selbst war auf fast tropische Weise eine Schönheit, mit einer Fülle brennendrotem, schwerem Haar; sie war, wie die Journalisten das bezeichnen, gewagt gekleidet, aber ihr Gesicht war intelligent, und ihre Augen hatten jenes helle und ziemlich auffallende Aussehen, das zu den Augen von Damen gehört, die auf politischen Versammlungen Fragen stellen.

Die anderen vier Gestalten erschienen zunächst in dieser strahlenden Gegenwart wie Schatten; aber bei näherer Betrachtung wiesen sie Unterschiede auf. Einer von ihnen war ein junger Mann, den das Schiffsregister als Paul T. Tarrant führte. Er war ein amerikanischer Typus, den man besser einen amerikanischen Antitypus nennen könnte. Jede Nation hat wahrscheinlich einen Antitypus; eine Art von extremer Ausnahme, die die nationale Regel bestätigt. Amerikaner achten wirklich die Arbeit, so wie Europäer den Krieg achten. Es umgibt sie ein Heiligenschein von Heldentum; und wer vor ihr zurückschreckt, ist weniger als ein Mann. Der Antitypus erweist sich dadurch, daß er ausnehmend selten ist. Er ist der Stutzer, der feine Stadtpinkel: der wohlhabende Verschwender, der in so vielen amerikanischen Romanen den schwachen Schurken abgibt. Paul Tarrant schien absolut nichts anderes zu tun zu haben, als seine Kleidung zu wechseln, was er ungefähr sechsmal am Tage tat; er schlüpfte in schwächere oder stärkere Schattierungen seines Anzugs aus erlesenem Hellgrau wie die delikaten silbrigen Wechsel des Zwielichts. Anders als die meisten Amerikaner kultivierte er sehr sorgsam einen kurzen lockigen Bart; und anders als die meisten Stutzer selbst seines Typs schien er eher trotzig als protzig. In seinem Schweigen und seiner Düsternis lag etwas, das eigentlich fast an Lord Byron erinnerte.

Die beiden nächsten Reisenden schienen automatisch zusammenzugehören; lediglich weil sie beide englische Vertragsreisende waren, die von einer Amerikatour zurückkehrten. Einen von ihnen nannte man Leonard Smyth, offenbar ein kleiner Poet, aber ein großer Journalist; langschädlig, blond, vollkommen gekleidet und vollkommen imstande, sich um sich selbst zu kümmern. Der andere stellte fast einen komischen Kontrast dar, kurz und breit, mit einem schwarzen Walroßschnurrbart, und so schweigsam, wie der andere gesprächig war. Doch da man ihn sowohl des Raubes angeklagt wie wegen der Rettung einer rumänischen Prinzessin vor den Pranken eines Jaguars in seinem Wanderzoo bejubelt und er so in einer Gesellschaftsangelegenheit eine Rolle gespielt hatte, war man natürlich der Meinung, seine Ansichten über Gott, den Fortschritt, seine Kinderzeit und die Zukunft der anglo-amerikanischen Beziehungen wären von großem Interesse und Wert für die Einwohner von Minneapolis und Omaha. Die sechste und unbedeutendste Gestalt war die eines kleinen englischen Priesters, der auf den Namen Brown hörte. Er lauschte der Konversation mit respektvoller Aufmerksamkeit und gewann in jenem Augenblick den Eindruck, daß sie in einem Punkte ziemlich seltsam sei.

»Ich nehme an, Professor«, sagte Leonard Smyth, »daß Ihre byzantinischen Studien einiges Licht auf die Geschichte des Grabes werfen könnten, das man irgendwo an der Südküste entdeckt hat, bei Brighton, oder? Nun ist Brighton natürlich eine mächtige Strecke von Byzanz entfernt. Aber ich habe da irgendwas gelesen, daß der Stil der Beisetzung oder Einbalsamierung oder so für byzantinisch gehalten wird.«

»Byzantinische Studien haben tatsächlich eine mächtige Strecke zu bewältigen«, erwiderte der Professor trocken. »Man spricht von Spezialisten; aber ich glaube, das schwierigste auf Erden ist, sich zu spezialisieren. Nehmen Sie als Beispiel diesen Fall: Wie kann ein Mann irgend etwas über Byzanz wissen, solange er nicht alles über Rom zuvor und den Islam danach weiß? Die meisten arabischen Künste sind alte byzantinische Künste. Nehmen Sie zum Beispiel Algebra – «

»Aber ich will Algebra nicht nehmen«, rief die Dame entschieden. »Ich habe das nie getan, und ich werde es nie tun. Aber am Einbalsamieren bin ich ganz furchtbar interessiert. Ich war bei Gatton, müssen Sie wissen, als er die babylonischen Gräber öffnete. Und seither sind für mich Mumien und erhaltene Körper und all das absolut aufregend. Erzählen Sie uns doch bitte von diesem.«

»Gatton war ein interessanter Mann«, sagte der Professor. »Es war eine interessante Familie. Sein Bruder, der ins Parlament gewählt wurde, war sehr viel mehr als ein gewöhnlicher Politiker. Ich habe die Faschisten nie verstanden, bis er seine Rede über Italien hielt.«

»Ja, aber auf dieser Reise gehen wir nicht nach Italien«, sagte Lady Diana hartnäckig, »während ich glaube, daß Sie zu jenem kleinen Ort gehen, wo man das Grab gefunden hat. In Sussex, oder?«

»Sussex ist ziemlich groß für so einen kleinen englischen Bezirk«, erwiderte der Professor. »Man kann darin lange Zeit umherwandern; und es ist wie geschaffen, um darin umherzuwandern. Es ist wunderbar, wie hoch diese niedrigen Hügel scheinen, wenn man sich auf ihnen befindet.«

Es entstand ein jähes zufälliges Schweigen; und dann sagte die Dame: »Ach, ich gehe an Deck«, und erhob sich, und die Männer erhoben sich mit ihr. Aber der Professor blieb zurück, und der kleine Priester war der letzte, der sich anschickte, den Tisch zu verlassen, da er noch seine Serviette sorgfältig zusammenfaltete. Als sie so allein zusammen zurückgeblieben waren, sagte der Professor plötzlich zu seinem Gefährten:

»Was war denn nach Ihrer Ansicht das Thema dieser kleinen Unterhaltung?«

»Nun ja«, sagte Father Brown lächelnd, »wenn Sie mich schon fragen, da gab es etwas, das mich ein bißchen erheiterte. Ich mag mich irren; aber mir erschien es so, als ob die Gesellschaft drei Versuche unternahm, Sie dazu zu bringen, über einen einbalsamierten Körper zu sprechen, den man angeblich in Sussex gefunden hat. Und Sie Ihrerseits haben sehr höflich angeboten zu sprechen – zunächst über Algebra, dann über die Faschisten und dann über die Landschaft der Downs.«

»Kurz«, erwiderte der Professor, »Sie dachten, daß ich bereit war, über jedes beliebige Thema zu sprechen, nur nicht über das eine. Sie hatten ganz recht.«

Der Professor schwieg eine kleine Weile und blickte auf das Tischtuch hinab; dann blickte er auf und sprach mit jener schnellen Impulsivität, die an den Sprung des Löwen gemahnt.

»Hören Sie, Father Brown«, sagte er, »für mich sind Sie der weiseste und anständigste Mann, dem ich je begegnet bin.«

Father Brown war der typische Engländer. Ihm eignete die ganze normale Hilflosigkeit seiner Nation gegenüber einem ernsten und gewichtigen Kompliment, das ihm jählings auf die amerikanische Art ins Gesicht gesagt wurde. Seine Antwort bestand aus einem sinnlosen Murmeln; und es war der Professor, der in der gleichen abgehackten Ernsthaftigkeit fortfuhr:

»Sehen Sie, bis zu einem bestimmten Punkt ist alles ganz einfach. Ein christliches Grab aus dem frühen Mittelalter, offenbar ein Bischofsgrab, ist unter einer kleinen Kirche in Dulham an der Küste von Sussex gefunden worden. Zufälligerweise ist der Vikar selbst ein tüchtiges Stück von Archäologe, und er konnte eine ganze Menge mehr herausfinden, als ich bisher selbst wußte. Es gab Gerüchte, daß der Leichnam auf eine Weise einbalsamiert worden sei, die für Griechen und Ägypter eigentümlich, aber im Westen unbekannt ist, vor allem zu jener Zeit. Also hat Mr. Walters (der Vikar) natürlich an byzantinische Einflüsse gedacht. Aber er hat auch noch etwas anderes erwähnt, das für mich von weit größerem persönlichem Interesse ist.«

Sein langes ernstes Gesicht schien noch länger und ernster zu werden, als er auf das Tischtuch hinabstarrte. Sein langer Finger schien darauf Muster zu zeichnen wie die Pläne toter Städte und ihrer Tempel und Grabstätten.

»Und nun werde ich Ihnen, und sonst niemandem, erzählen, warum ich mich davor hüten muß, diese Angelegenheit in gemischter Gesellschaft zu erwähnen; und warum ich um so vorsichtiger sein muß, je begieriger sie sind, darüber zu sprechen. Es wurde auch erklärt, daß sich in dem Grab eine Kette mit einem Kreuz befinde, von einfachem Aussehen, aber mit einem ganz bestimmten geheimen Symbol auf der Rückseite, das man bisher nur auf einem einzigen anderen Kreuz auf Erden gefunden hat. Es entstammt den Geheimzeichen der frühesten Kirche und bezeichnet vermutlich die Errichtung des Stuhls von Sankt Peter zu Antiochien, ehe er nach Rom kam. Wie auch immer, ich glaube, daß es nur noch ein anderes dieser Art gibt, und das gehört mir. Angeblich gibt es eine Geschichte, daß auf ihm ein Fluch laste; aber darum kümmere ich mich nicht. Aber ob nun ein Fluch oder nicht, tatsächlich gibt es in gewisser Weise eine Verschwörung; obwohl diese Verschwörung sicherlich nur aus einem Mann besteht.«

»Aus einem Mann?« wiederholte Father Brown fast mechanisch.

»Aus einem Verrückten, soviel ich weiß«, sagte Professor Smaill. »Es ist eine lange Geschichte, und in gewisser Weise eine alberne.«

Er hielt erneut inne, zog mit seinem Finger auf dem Tischtuch Linien wie in einer Bauzeichnung und fuhr dann fort:

»Vielleicht sollte ich Ihnen die Geschichte von Anfang an erzählen, für den Fall, daß Sie irgendeine Kleinigkeit in ihr bemerken, die für mich bedeutungslos ist. Es begann vor vielen Jahren, als ich auf eigene Rechnung bestimmte Nachforschungen in den Altertümern Kretas und der griechischen Inseln betrieb. Den größten Teil davon machte ich praktisch allein, manchmal mit der gröbsten Hilfe von Ortsansässigen auf Zeit, und manchmal buchstäblich allein. Unter diesem letzten Umstand nun entdeckte ich ein Labyrinth unterirdischer Gänge, die mich schließlich zu einem Haufen reicher Reste führten, zerbrochener Ornamente und verstreuter Edelsteine, die ich für die Überbleibsel eines versunkenen Altars hielt, und unter ihnen fand ich das eigenartige goldene Kreuz. Ich drehte es um, und ich fand auf seiner Rückseite den Ichthys oder Fisch, ein frühes christliches Symbol, doch nach Form und Ausführung völlig unterschiedlich von den üblichen Funden; und mir erschien es realistischer, so als habe der alte Zeichner die Absicht gehabt, es nicht nur wie eine konventionelle Umrahmung, wie einen Nimbus aussehen zu lassen, sondern eher wie einen richtigen Fisch. Ich hatte den Eindruck, daß es da zum einen Ende hin eine Abflachung gab, die nicht so sehr wie eine bloße mathematische Dekoration aussah, sondern vielmehr wie eine Art grober oder gar heidnischer Zoologie.

Um kurz zu erklären, warum ich diesen Fund für so bedeutsam hielt, muß ich Ihnen die Fundstelle beschreiben. Zum einen war sie gewissermaßen eine Ausgrabung in der Ausgrabung. Wir befanden uns auf der Spur nicht nur von Antiquitäten, sondern von Antiquitätenhändlern der Antike. Wir hatten Grund zu der Annahme, oder einige von uns dachten, wir hätten Grund zu der Annahme, daß diese unterirdischen Gänge, die meisten aus der minoischen Periode wie jener berühmte, den man jetzt mit dem Labyrinth des Minotaurus identifiziert, während all jener Jahrhunderte zwischen dem Minotaurus und den modernen Erforschern keineswegs vergessen und ungestört geblieben waren. Wir nahmen an, daß in diese unterirdischen Stätten, fast möchte ich sagen diese unterirdischen Städte und Dörfer, bereits während der Zwischenzeit irgendwelche Personen aus irgendwelchen Gründen eingedrungen waren. Hinsichtlich der Gründe gibt es verschiedene Ansichten: Einige Schulen meinen, daß die Kaiser amtliche Untersuchungen aus rein wissenschaftlicher Neugier angeordnet haben; andere, daß die verrückte Mode während des späten Römischen Reiches, sich mit allen Arten düsteren Aberglaubens Asiens zu befassen, irgendeine namenlose manichäische Sekte oder andere Zusammenrottung dazu vermochte, sich in jenen Höhlen wüsten Orgien hinzugeben, die das Licht der Sonne scheuen mußten. Ich selbst gehöre jener Gruppe an, die glaubt, daß diese Höhlen in der gleichen Weise wie die Katakomben verwendet wurden. Das heißt, wir glaubten, daß während einer der Verfolgungen, die wie Feuer das ganze Reich überzogen, die Christen sich in diesen alten heidnischen Steinlabyrinthen verbargen. Deshalb durchrann mich ein Schauer so scharf wie ein Donnerschlag, als ich das gefallene goldene Kreuz fand und aufhob und die Zeichnung sah; und es war ein noch stärkerer Schock der Beglückung, als ich, indem ich mich umwandte, um mich erneut nach draußen und droben ins Tageslicht auf den Weg zu machen, die Wände aus nacktem Fels hochblickte, die sich endlos entlang der niedrigen Gänge erstreckten, und in noch gröberen, aber wenn möglich noch unverkennbareren Umrissen die Form des Fisches geritzt sah.

Irgend etwas daran gab ihm den Anschein, als sei es ein fossiler Fisch oder irgendein anderer rudimentärer Organismus, für immer in einer erfrorenen See festgehalten. Ich konnte diese Analogie zunächst nicht analysieren, da sonst nichts sie mit dieser Ritzzeichnung im Stein verband, bis mir klar wurde, daß ich mir im Unterbewußten sagte, die ersten Christen müßten wie Fische gewirkt haben, die da stumm in einer versunkenen Welt aus Zwielicht und Schweigen hausten, tief unter den Füßen der Menschen, und die sich im Dunkel und Zwielicht einer lautlosen Welt bewegten.

Jeder, der je durch eine Steinpassage geschritten ist, weiß, wie das ist, wenn einem Phantomschritte folgen. Das Echo folgt einem tappernd nach oder läuft klappernd vorauf, so daß es einem Mann, der wirklich allein ist, fast unmöglich ist, an sein Alleinsein zu glauben. Ich hatte mich an die Wirkung dieses Echos gewöhnt und es schon seit einiger Zeit nicht mehr wahrgenommen, als mein Blick auf den symbolischen Umriß fiel, der da in die Felswand geritzt war. Ich blieb stehen, und im gleichen Augenblick erschien es mir, als bliebe mein Herz ebenfalls stehen; denn zwar waren meine Füße stehengeblieben, aber das Echo marschierte weiter.

Ich rannte vorwärts, und es schien, als ob die gespenstischen Fußschritte ebenfalls rannten, aber nicht in jener exakten Nachahmung, die das materielle Nachbeben eines Tons kennzeichnet. Ich hielt wieder an, und die Schritte ebenfalls; aber ich hätte schwören können, daß sie einen Augenblick zu spät anhielten; ich rief eine Frage; und mein Ruf wurde beantwortet; aber die Stimme war nicht meine.

Sie kam um die Ecke eines Felsens genau vor mir; und während jener ganzen unheimlichen Jagd bemerkte ich, daß sie immer an solchen Ecken des krummen Ganges innehielt und redete. Das bißchen Raum vor mir, das meine kleine elektrische Lampe erhellen konnte, war immer so leer wie ein leerer Raum. Und unter solchen Umständen führte ich ein Gespräch mit ich weiß nicht wem, das bis zum ersten weißen Schimmer des Tageslichtes währte, und selbst da konnte ich nicht erkennen, wie er ins Licht des Tages verschwand. Doch die Mündung des Labyrinthes war voller Öffnungen und Risse und Spalten, und für ihn wäre es nicht schwierig gewesen, sich irgendwie zurückzustürzen und aufs neue in der Unterwelt der Höhlen zu verschwinden. Ich weiß nur, daß ich auf die einsamen Stufen eines großen Berges wie auf eine Marmorterrasse hinaustrat, nur von grüner Vegetation überstreut, die irgendwie tropischer als die Reinheit des Felsens wirkte, so wie die orientalischen Invasionen, die sich sporadisch über den Untergang des klassischen Hellas ergossen. Ich blickte hinaus auf eine See von fleckenloser Bläue, und die Sonne schien stetig auf die äußerste Einsamkeit und Stille; und da war nicht ein Grashalm, den der Hauch einer Flucht bewegt hätte, und nicht der Schatten vom Schatten eines Mannes.

Es war ein schreckliches Gespräch gewesen; so intim und so persönlich und in gewisser Weise so beiläufig. Dieses Wesen – körperlos, gesichtslos, namenlos, das aber mich beim Namen rief – hatte zu mir in jenen Grüften und Klüften, in denen wir lebendig begraben waren, mit nicht mehr Leidenschaft oder Dramatik gesprochen, als säßen wir in einem Club in zwei Sesseln. Und dennoch hatte er mir gesagt, daß er ohne jeden Zweifel mich oder jeden anderen Mann töten werde, der in den Besitz des Kreuzes mit dem Zeichen des Fisches komme. Er erklärte mir offen, daß er nicht verrückt genug sei, mich dort in jenem Labyrinth anzugreifen, da er wisse, daß ich einen geladenen Revolver bei mir trage und er also das gleiche Risiko wie ich laufe. Aber er erklärte mir ebenso gelassen, daß er meine Ermordung mit der Gewißheit des Erfolges plane, wobei er jede Einzelheit ausarbeiten und jede Gefährdung abwenden werde nach Art jener künstlerischen Vollkommenheit, die ein chinesischer Kunsthandwerker oder ein indischer Sticker einem Lebenskunstwerk widme. Und doch war er kein Orientale; ich bin sicher, er war ein weißer Mann. Ich habe den Verdacht, daß er ein Landsmann von mir ist.

Seither habe ich von Zeit zu Zeit Zeichen und Symbole und sonderbare unpersönliche Nachrichten empfangen, die mir zumindest die Gewißheit gegeben haben, daß der Mann, wenn er denn ein Wahnsinniger ist, ein Monomane ist. Ständig erzählt er mir auf diese leichte und leidenschaftslose Art, daß die Vorbereitungen für meinen Tod und meine Beisetzung zufriedenstellend voranschritten; und daß der einzige Weg, auf dem ich verhindern könne, daß sie ein bequemer Erfolg kröne, darin bestehe, auf die Reliquie in meinem Besitz zu verzichten – das einzigartige Kreuz, das ich in den Höhlen fand. Ihn scheinen in dieser Angelegenheit keinerlei religiöse Gefühle oder Fanatismen zu bewegen; er scheint keine Leidenschaft außer der Leidenschaft eines Sammlers von Raritäten zu haben. Das ist einer der Gründe, die mich sicher machen, daß er ein Mann des Westens und nicht des Ostens ist. Aber diese besondere Rarität scheint ihn verrückt gemacht zu haben.

Und dann kam dieser noch unbestätigte Bericht über die zweite Reliquie, die man auf einem einbalsamierten Leichnam in einem Grab in Sussex gefunden habe. Wenn er zuvor ein Wahnsinniger war, dann verwandelte ihn diese Nachricht in einen von sieben Teufeln Besessenen. Daß es da deren eine geben sollte, die einem anderen Mann gehörte, war übel genug, aber daß es deren zwei geben sollte, von denen keine ihm gehörte, war ihm eine unerträgliche Qual. Seine verrückten Nachrichten kamen massiert und schnell, wie ein Regen vergifteter Pfeile, und jede schrie zuversichtlicher als die letzte hinaus, daß der Tod mich in dem Augenblick ereilen werde, in dem ich meine unwürdige Hand nach dem Kreuz im Grab ausstrecke.

›Sie werden mich niemals kennen‹, schrieb er, ›Sie werden niemals meinen Namen sagen; Sie werden niemals mein Gesicht sehen; Sie werden sterben und niemals wissen, wer Sie getötet hat. Ich könnte jeder von denen sein, die Sie umgeben; aber ich werde nur in jenem sein, auf den zu achten Sie vergessen haben.‹

Aus diesen Drohungen schließe ich, daß er mich während dieser Expedition wahrscheinlich beschattet und versuchen wird, mir die Reliquie zu stehlen oder mir irgend etwas anzutun, um in ihren Besitz zu kommen. Aber da ich den Mann nie in meinem Leben gesehen habe, kann er praktisch jeder Mann sein, dem ich begegne. Logisch gesprochen, kann er jeder der Aufwärter sein, die mir bei Tisch aufwarten. Er kann jeder der Passagiere sein, die mit mir am Tisch sitzen.«

»Er kann mich sein«, sagte Father Brown in fröhlicher Mißachtung der Grammatik.

»Er kann jeder andere sein«, antwortete Smaill ernst. »Das habe ich mit dem gemeint, was ich bisher gesagt habe. Sie sind der einzige, bei dem ich die Gewißheit fühle, daß er nicht der Feind ist.«

Father Brown sah wiederum verlegen aus; dann lächelte er und sagte: »Nun ja, sonderbarerweise bin ich es wirklich nicht. Jetzt sollten wir erwägen, ob es irgendeine Möglichkeit gibt herauszufinden, ob er wirklich hier ist, bevor er – bevor er sich unangenehm bemerkbar macht.«

»Ich glaube, daß es eine Möglichkeit gibt, das herauszufinden«, bemerkte der Professor grimmig. »Wenn wir in Southampton ankommen, werde ich mir sofort einen Wagen entlang der Küste nehmen; ich wäre froh, wenn Sie mit mir kämen, im übrigen aber wird sich unsere kleine Gesellschaft natürlich auflösen. Wenn aber einer von ihnen auf jenem kleinen Friedhof an der Küste von Sussex wieder auftaucht, dann werden wir wissen, wer er wirklich ist.«

Das Programm des Professors wurde entsprechend ausgeführt, wenigstens im Hinblick auf den Wagen und seine Ladung in Gestalt von Father Brown. Sie fuhren entlang der Küstenstraße mit dem Meer auf der einen Seite und den Hügeln von Hampshire und Sussex auf der anderen; und dem Auge ward kein Schatten eines Verfolgers sichtbar. Als sie sich dem Dorfe Dulham näherten, kreuzte nur ein Mann ihren Weg, der in irgendeiner Weise mit der Angelegenheit in Beziehung stand; ein Journalist, der gerade die Kirche besucht hatte und vom Vikar höflich durch die neu ausgegrabene Kapelle geführt worden war; doch schienen seine Bemerkungen und Notizen von der üblichen Zeitungsart zu sein. Der Professor aber war vielleicht etwas phantasievoll, denn er wurde das Gefühl nicht los, daß etwas Eigentümliches und Entmutigendes in der Haltung des Mannes sei, der groß und schäbig gekleidet war, mit Hakennase und eingesunkenen Augen und einem wehmütig herabhängenden Schnurrbart. Und seine jüngste Besichtigung schien auf ihn alles andere als belebend gewirkt zu haben; tatsächlich schien er so schnell wie möglich von diesem Orte fortzustreben, als sie ihn mit einer Frage aufhielten.

»Dreht sich alles um einen Fluch«, sagte er, »einen Fluch auf der Stätte, laut Fremdenführer oder Pfarrer oder ältestem Einwohner oder wer da immer als Autorität gilt; und wirklich fühl’ ich mich, als ob es stimmt. Fluch oder nicht Fluch, ich bin froh, daß ich wieder raus bin.«

»Glauben Sie an Flüche?« fragte Smaill neugierig.

»Ich glaube an gar nichts; ich bin Journalist«, antwortete die traurige Gestalt – »Boon, vom ›Daily Wire‹. Aber irgendwas ist in der Krypta nicht geheuer; und ich werde niemals leugnen, daß es mich kalt überrieselt hat.« Und mit neuerlich beschleunigtem Schritt strebte er dem Bahnhof zu.

»Der Bursche sieht wie ein Rabe oder eine Krähe aus«, bemerkte Smaill, als sie sich dem Friedhof zuwandten. »Was sagt man doch von einem Vogel, der Unheil bedeutet?«

Als sie langsam den Friedhof betraten, glitten die Blicke des amerikanischen Altertumsforschers genüßlich über das einsame Dach der Totenpforte und den tiefen unergründlichen schwarzen Wuchs der Eibe, die aussah wie die Nacht selbst, die das Tageslicht verwehrt. Der Pfad klomm zwischen wogenden Rasenflächen empor, auf denen die Grabsteine in alle Richtungen wiesen wie steinerne Flöße, die auf einer grünen See umhergeworfen werden, bis er den Kamm erreichte, hinter dem die große See selbst lag wie eine Eisenplatte, mit fahlen Lichtern wie aus Stahl darinnen. Fast unmittelbar zu ihren Füßen wandelte sich das zähe verwilderte Gras in Büschel von Mannstreu und lief in graugelbem Sand aus; und ein oder zwei Fuß vor dem Mannstreu stand dunkel vor der stählernen See eine bewegungslose Gestalt. Von ihrem dunkelgrauen Anzug abgesehen, hätte es fast die Statue auf einem Grabmal sein können. Father Brown aber erkannte sofort die elegante Beugung der Schultern und den fast trotzigen Vorstoß des kurzen Bartes.

»Nanu!« rief der Professor der Archäologie aus, »das ist ja der Mann Tarrant, wenn man ihn einen Mann nennen kann. Haben Sie geglaubt, als ich auf dem Schiff davon gesprochen habe, daß ich so schnell eine Antwort auf meine Frage erhalten würde?«

»Ich glaubte, daß Sie zu viele Antworten darauf bekommen würden.«

»Wie meinen Sie das?« erkundigte sich der Professor und warf einen Blick über die Schulter zurück.

»Ich meine«, antwortete der andere mild, »daß ich glaube, Stimmen hinter der Eibe gehört zu haben. Ich glaube nicht, daß Mr. Tarrant so einsam ist, wie er aussieht; ich möchte sogar wagen zu behaupten, so einsam, wie er aussehen möchte.«

Und noch während Tarrant sich langsam in seiner mürrischen Weise umdrehte, kam die Bestätigung. Eine andere Stimme, hoch und ziemlich hart, aber deshalb nicht weniger die einer Frau, sagte mit erprobter Koketterie:

»Und woher sollte ich wissen, daß es hier sein würde?«

Es dämmerte Professor Smaill, daß diese fröhliche Bemerkung nicht an ihn gerichtet war; also hatte er in einiger Verwirrung den Schluß zu ziehen, daß noch eine dritte Person anwesend war. Als Lady Diana Wales strahlend und entschlossen wie nur je aus dem Schatten der Eibe auftauchte, nahm er ingrimmig zur Kenntnis, daß sie einen eigenen lebenden Schatten mit sich führte. Die schlanke schmucke Gestalt von Leonard Smythe, jenes einschmeichelnden Mannes der Feder, erschien unmittelbar hinter ihrer prunkvollen Erscheinung, lächelnd, den Kopf ein wenig wie ein Hund auf die Seite geneigt.

»Schlangen!« murmelte Smaill, »wie denn, die sind ja alle hier! Oder doch alle mit Ausnahme des kleinen Schaustellers mit seinem Walroßschnurrbart.«

Er hörte Father Brown leise neben sich lachen; und in der Tat wurde die Situation inzwischen mehr als lächerlich. Sie schien Purzelbäume zu schlagen und ihnen wie der Trick einer Pantomime um die Ohren zu wirbeln; denn noch während der Professor sprach, erfuhren seine Worte den komischsten Widerspruch. Der runde Kopf mit dem grotesken schwarzen Schnurrbarthalbmond war plötzlich und so wie aus einem Loch im Boden aufgetaucht. Einen Augenblick später wurde ihnen klar, daß das Loch in Wahrheit ein sehr großes Loch war und zu einer Leiter führte, die ins Erdinnere hinabstieg; daß es sich tatsächlich um den Eingang zu jenem unterirdischen Schauplatz handelte, den zu besuchen sie gekommen waren. Der kleine Mann war der erste gewesen, der den Zugang entdeckt hatte, und war bereits ein oder zwei Leitersprossen hinabgestiegen, bevor er seinen Kopf wieder hinausschob, um sich an seine Mitreisenden zu wenden. Er sah wie ein besonders abgeschmackter Totengräber in einer Hamlet-Burleske aus. Er sagte nur mit dicker Stimme hinter seinem dicken Schnurrbart: »Hier unten ist es.« Aber das erreichte die übrige Gesellschaft zugleich mit dem Schock des Begreifens, daß, obwohl sie ihm bei den Mahlzeiten während einer Woche gegenübergesessen hatten, sie ihn kaum je zuvor hatten sprechen hören; und daß er, obwohl angeblich ein englischer Vortragsreisender, mit einem nicht erkennbaren ausländischen Akzent sprach.

»Wissen Sie, mein lieber Professor«, rief Lady Diana mit schneidender Fröhlichkeit, »Ihre byzantinische Mumie ist einfach zu aufregend, um verpaßt zu werden. Ich mußte einfach kommen und sie sehen; und ich bin sicher, daß die Herren genauso empfinden. Aber jetzt müssen Sie uns alles darüber erzählen.«

»Ich weiß aber nicht alles darüber«, sagte der Professor ernst, um nicht zu sagen grimmig. »Teilweise weiß ich nicht einmal, um was es sich eigentlich handelt. Auf jeden Fall erscheint es merkwürdig, daß wir alle so schnell wieder zusammengetroffen sind; doch nehme ich an, daß der moderne Durst nach Neuigkeiten keine Grenzen kennt. Wenn wir aber alle den Ort besichtigen wollen, dann muß das in einer verantwortlichen Weise geschehen und, um Vergebung, unter verantwortlicher Führung. Wir müssen den Leiter der Ausgrabungen benachrichtigen; und wir werden uns vermutlich wenigstens in eine Liste eintragen müssen.«

Eine Art Streit entstand aus diesem Zusammenprall zwischen der Ungeduld der Dame und dem Mißtrauen des Archäologen; doch trug dessen Beharren auf den amtlichen Rechten des Vikars und der örtlichen Untersuchung schließlich den Sieg davon; der kleine Mann mit dem Schnurrbart kam widerstrebend wieder aus seinem Grab hervor und stimmte schweigend einem weniger stürmischen Abstieg zu. Glücklicherweise erschien zu diesem Zeitpunkt der Kirchenmann selbst – ein grauhaariger, gutaussehender Gentleman mit vorgebeugter Haltung, die durch besonders dicke Brillengläser noch betont wurde; und während er schnell freundschaftliche Beziehungen zu dem Professor als einem Mitbruder der Altertumskunde anknüpfte, schien er dessen buntscheckige Begleitschar mit nichts Feindseligerem als mit Belustigung zu betrachten.

»Hoffentlich ist niemand unter Ihnen abergläubisch«, sagte er freundlich. »Ich muß Ihnen nämlich sofort sagen, daß angeblich alle Arten von Verhängnissen und Verfluchungen in dieser Angelegenheit über unseren hingebungsvollen Häuptern hängen. Ich habe gerade eine lateinische Inschrift entziffert, die über dem Eingang zur Kapelle gefunden wurde, und danach sind mindestens drei Verfluchungen im Spiel: eine Verfluchung für das Eindringen in den versiegelten Raum, eine doppelte Verfluchung für das Öffnen des Sarges, und eine dreifache und höchst fürchterliche Verfluchung für das Antasten der darin gefundenen goldenen Reliquie. Die beiden ersten Verwünschungen habe ich bereits auf mich gezogen«, fügte er lächelnd hinzu, »aber ich befürchte, daß auch Sie zumindest die erste und mildeste auf sich nehmen müssen, wenn Sie überhaupt etwas sehen wollen. Der Geschichte zufolge erfüllen sich die Verwünschungen in einer zögerlichen Weise, nach langen Pausen und zu späteren Gelegenheiten. Allerdings weiß ich nicht, ob Ihnen das zum Troste gereicht.« Und Hochwürden Walters lächelte wieder auf seine vorgebeugte und wohlwollende Art.

»Geschichte«, wiederholte Professor Smaill, »was für eine Geschichte ist das denn?«

»Es ist eine reichlich lange Geschichte mit vielen Abwandlungen, wie andere örtliche Legenden«, antwortete der Vikar. »Zweifellos aber entstammt sie der gleichen Zeit wie das Grab; und ihr Kern, den die Inschrift enthält, ist ungefähr folgender: Guy de Gisors, ein hiesiger Grundherr des 13. Jahrhunderts, hatte sein Herz an ein herrliches schwarzes Pferd im Besitz eines Abgesandten von Genua gehängt, das dieser weltkluge Handelsfürst aber nur für einen hohen Preis zu verkaufen bereit war. Guy wurde durch seinen Geiz zum Verbrechen der Ausplünderung dieses Heiligtums getrieben und, einer anderen Version zufolge, sogar zur Erschlagung des damals hier residierenden Bischofs. Jedenfalls stieß der Bischof eine Verfluchung aus, die jeden treffen solle, der dem goldenen Kreuz seinen Ruheplatz im Grabe versage oder Schritte unternehme, ihn zu stören, sobald es dahin zurückgekehrt sei. Der Landherr brachte das Geld für das Pferd auf, indem er die goldene Reliquie an einen Goldschmied in der Stadt verkaufte; aber am ersten Tag, da er das Pferd bestieg, bäumte das Tier sich auf und warf ihn vor dem Kirchenportal ab, wobei er sich den Hals brach. Den Goldschmied, bis dahin wohlhabend und erfolgreich, ruinierte eine Reihe unerklärbarer Zwischenfälle, und er geriet in die Gewalt eines jüdischen Geldverleihers, der auf dem Herrengut lebte. Als dem unglücklichen Goldschmied schließlich nichts mehr als das Verhungern übrigblieb, erhängte er sich an einem Apfelbaum. Das Goldkreuz war da schon lange mit all seinem anderen Eigentum, Haus und Laden und Handwerkszeug, in den Besitz des Geldverleihers übergegangen. Inzwischen war der Sohn und Erbe des Landherrn, entsetzt vom Gericht über seinen gotteslästerlichen Erzeuger, zu einem Anhänger der Religion im düsteren und strengen Sinne jener Zeiten geworden, der es als seine Pflicht ansah, Ketzerei und Unglauben bei seinen Untertanen zu verfolgen. So wurde der Jude, den der Vater zynisch geduldet hatte, auf Befehl des Sohnes erbarmungslos verbrannt und litt so seinerseits für den Besitz der Reliquie. Nach diesem dreifachen Gericht aber wurde sie in das Grab des Bischofs zurückgelegt; und seit dieser Zeit hat kein Auge sie mehr gesehen, keine Hand sie mehr berührt.«

Lady Diana Wales schien tiefer beeindruckt, als zu erwarten gewesen wäre.

»Es läuft einem wirklich kalt über den Rücken«, sagte sie, »wenn man daran denkt, daß wir die ersten außer dem Vikar sein werden.«

Der Pionier mit dem großen Schnurrbart und dem gebrochenen Englisch stieg nun doch nicht auf seiner geliebten Leiter hinab, die tatsächlich nur von einigen Arbeitern während der Ausgrabung benutzt worden war; denn der Kirchenmann führte sie zu einem größeren und bequemeren Eingang etwa 90 Meter weiter, durch den er selbst gerade aus seinen unterirdischen Untersuchungen aufgetaucht war. Hier geschah der Abstieg über eine ziemlich sanfte Schräge, die außer der zunehmenden Dunkelheit keine Schwierigkeiten bot; denn bald befanden sie sich im Gänsemarsch in einem Tunnel unterwegs, der schwarz wie Teer war, und es dauerte eine kleine Weile, ehe sie vor sich einen Lichtschimmer erblickten. Einmal gab es während jenes schweigsamen Marsches ein Geräusch, als habe jemand plötzlich den Atem angehalten, unmöglich zu sagen, wer; und einmal gab es einen Fluch wie eine dumpfe Explosion, und das geschah in einer unbekannten Sprache.

Schließlich betraten sie einen runden Raum wie eine Basilika in einem Ring von Rundbögen; denn diese Kapelle war erbaut worden, ehe noch der erste Spitzbogen der Gotik unsere Zivilisation wie ein Speer durchbohrte. Ein Schimmer grünlichen Lichtes zwischen einigen der Säulen kennzeichnete die andere Öffnung zur Oberwelt und vermittelte ein undeutliches Gefühl, als befinde man sich unter Wasser, das durch ein oder zwei zufällige Ähnlichkeiten, die vielleicht nur in der Phantasie existierten, verstärkt wurde. Denn das normannische Zahnziermuster zog sich schwach um alle Bögen und gab ihnen über der Dunkelheit der Höhlungen das Aussehen der Rachen ungeheurer Haie. Und die dunkle Masse des Grabes selbst in der Mitte mit dem hochgeklappten Steindeckel hätte fast die Kiefer eines solchen Leviathans sein können.

Ob nun aus einem Sinn fürs Angemessene oder aus Mangel an modernerer Ausrüstung, der geistliche Altertumskundler hatte zur Beleuchtung der Kapelle lediglich für 4 große Kerzen gesorgt, die in großen hölzernen Kerzenhaltern auf der Erde standen. Nur eine von diesen brannte, als sie eintraten, und warf einen schwachen Schimmer über die mächtigen architektonischen Formen. Nachdem sie sich alle versammelt hatten, entzündete der Kirchenmann auch die drei anderen, und Aussehen und Inhalt des großen Sarkophags traten deutlicher in Sicht.

Aller Augen wandten sich zunächst dem Antlitz des Toten zu, das durch all diese Jahrhunderte einen Anschein von Leben bewahrt hatte dank geheimer Verfahren aus dem Orient, die, wie man sagte, aus heidnischer Vorzeit überkommen und den einfachen Friedhöfen unserer Insel unbekannt waren. Der Professor konnte kaum einen Ausruf des Erstaunens unterdrücken; denn obgleich das Gesicht bleich wie eine Wachsmaske war, sah es doch aus wie das eines schlafenden Mannes, der soeben erst die Augen geschlossen hatte. Das Gesicht war vom asketischen, vielleicht gar fanatischen Typus, mit hohem Knochenbau; die Gestalt war in einen goldenen Chorrock und in prächtige Gewänder gekleidet, und hoch oben auf der Brust glänzte am Halsansatz das berühmte Goldkreuz an einer kurzen goldenen Kette, oder richtiger an einem Halsband. Der Steinsarg war geöffnet worden, indem man seinen Deckel am Kopfende hochgehoben und mittels zweier starker hölzerner Stempel aufgestützt hatte, die oben unter die Kante des Deckels geklemmt und unten hinter dem Kopf des Leichnams in die Ecken des Sarges verkeilt waren. Daher konnte man weniger von den Füßen oder dem unteren Teil der Gestalt sehen, doch war das Antlitz voll von Kerzenlicht beschienen, und im Gegensatz zu seiner Farbe toten Elfenbeins schien das Kreuz aus Gold zu flackern und zu funkeln wie Feuer.

Professor Smaills hohe Stirn trug eine tiefe Denker- oder gar Sorgenfalte, seit der Kirchenmann die Geschichte des Fluches erzählt hatte. Weibliche Intuition aber, nicht frei von weiblicher Hysterie, verstand die Bedeutung dieser brütenden Unbeweglichkeit besser als die Männer. In das Schweigen jener vom Kerzenlicht erhellten Höhle rief Lady Diana plötzlich hinein:

»Rühren Sie es nicht an, sage ich Ihnen!«

Aber der Mann hatte bereits eine seiner schnellen löwenähnlichen Bewegungen vollzogen und lehnte sich vorwärts über den Körper. Im nächsten Augenblick fuhren sie alle auseinander, manche vorwärts, manche rückwärts, aber alle mit einer erschreckten wegduckenden Bewegung, als stürze der Himmel ein.

Als der Professor einen Finger an das goldene Kreuz legte, schienen die hölzernen Stempel, die sich beim Halten des hochgeklappten Steindeckels nur leicht gebogen hatten, zusammenzuzucken und sich mit einem Ruck zu strecken. Der Rand der Steinplatte rutschte von seinen hölzernen Stützen; und in ihren Seelen und Mägen entstand das Übelkeit erregende Gefühl niedersausenden Unheils, als ob sie alle von einer steilen Klippe hinabgeschleudert worden seien. Smaill hatte seinen Kopf schnell zurückgezogen, aber nicht mehr rechtzeitig; und er lag besinnungslos neben dem Sarg, in einer roten Pfütze von Blut aus Schwarte oder Schädel. Und der alte Steinsarg war erneut geschlossen, wie er es durch die Jahrhunderte gewesen war; nur daß ein oder zwei Splitter oder Späne in dem Spalt staken und entsetzlich an Knochen erinnerten, die ein Ungeheuer zermalmt hatte. Der Leviathan hatte mit seinen steinernen Kiefern zugebissen.

Lady Diana starrte den Niedergeschmetterten mit Augen an, die einen elektrischen Glanz wie vom Wahnsinn hatten; ihr rotes Haar sah über ihrem bleichen Gesicht im grünlichen Zwielicht scharlachfarben aus. Smyth sah sie immer noch mit etwas Hündischem in der Neigung seines Kopfes an; aber es war der Ausdruck eines Hundes, der einen Herrn anstarrt, dessen Katastrophe er nur teilweise verstehen kann. Tarrant und der Ausländer waren in ihrer üblichen mürrischen Haltung erstarrt, aber ihre Gesichter waren lehmfarben geworden. Der Vikar schien ohnmächtig zu sein. Father Brown kniete neben der hingestreckten Gestalt und versuchte, deren Zustand zu ergründen.

Zum allgemeinen Erstaunen kam der byronische Müßiggänger Paul Tarrant ihm zu Hilfe.

»Am besten tragen wir ihn rauf an die Luft«, sagte er. »Vielleicht hat er da noch eine Chance.«

»Er ist nicht tot«, sagte Father Brown mit leiser Stimme, »doch glaube ich, daß es sehr schlimm um ihn steht; Sie sind nicht zufällig Arzt?«

»Nein; aber ich mußte mir im Laufe der Zeit mancherlei aneignen«, sagte der andere. »Aber lassen wir mich jetzt beiseite. Mein wirklicher Beruf würde Sie vermutlich überraschen.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Father Brown mit leichtem Lächeln. »Nach etwa der halben Reise bin ich draufgekommen. Sie sind ein Detektiv, der jemanden beschattet. Auf jeden Fall aber ist das Kreuz jetzt vor Dieben sicher.«

Während sie sprachen, hatte Tarrant die zarte Gestalt des niedergestreckten Mannes leicht und geschickt hochgehoben und trug ihn sorgsam zum Ausgang. Er antwortete über die Schulter: »Ja, das Kreuz ist sicher genug.«

»Sie meinen damit, daß dies sonst niemand ist«, erwiderte Brown. »Denken Sie auch an den Fluch?«

Father Brown wanderte während der nächsten ein oder zwei Stunden unter einer Last grübelnder Verwirrung umher, die etwas anderes war als der Schock des tragischen Zwischenfalls. Er half dabei, das Opfer in den kleinen Gasthof gegenüber der Kirche zu tragen, befragte den Arzt, der die Verletzung als ernst und bedrohlich, aber nicht unbedingt tödlich beschrieb, und brachte diese Nachricht zu der kleinen Reisegruppe, die sich um den Tisch im Schankraum des Gasthofes versammelt hatte. Aber wohin auch immer er sich begab, die Wolke des Rätselhaften lagerte über ihm und schien um so düsterer zu werden, je tiefer er nachdachte. Denn das zentrale Geheimnis wurde immer geheimnisvoller, und zwar in dem gleichen Maße, in dem sich die kleineren Geheimnisse in seinem Geiste klärten. Genau in dem Maße, in dem die Bedeutung der einzelnen Personen in der buntscheckigen Gruppe sich selbst erklärte, wurde es immer schwieriger, die Sache zu erklären, die sich ereignet hatte. Leonard Smyth war nur gekommen, weil Lady Diana gekommen war; und Lady Diana war nur gekommen, weil sie es wollte. Sie hatten einen jener oberflächlichen Gesellschaftsflirts miteinander, die um so alberner sind, da sie sich auf halbintellektueller Ebene abspielen. Aber die Romantik der Dame hatte auch eine abergläubische Seite; und das schreckliche Ende ihres Abenteuers hatte sie fast niedergeworfen. Paul Tarrant war Privatdetektiv, der möglicherweise im Auftrag irgendeiner Ehefrau oder eines Ehemannes den Flirt beobachtete oder möglicherweise den fremden Vortragsreisenden mit Schnurrbart beschattete, der ganz das Aussehen eines unerwünschten Ausländers hatte. Wenn aber der oder sonst jemand die Absicht gehabt hatte, die Reliquie zu stehlen, so war diese Absicht endgültig gescheitert. Und allem irdischen Anschein nach hatte entweder ein unglaublicher Zufall sie scheitern lassen, oder die Einwirkung eines uralten Fluches.

Als er so in unüblicher Verwirrung mitten auf der Dorfstraße zwischen Gasthof und Kirche stand, fühlte er sich sanft überrascht, als er eine seit kurzem bekannte, aber reichlich unerwartete Gestalt die Straße heraufkommen sah. Mr. Boon, der Journalist, der ziemlich abgespannt aussah im Sonnenlicht, welches seine schäbige Kleidung wie die einer Vogelscheuche erscheinen ließ, hatte seine dunklen und tiefliegenden Augen (die an den Seiten seiner langen herabhängenden Nase eng beieinander standen) auf den Priester gerichtet. Dieser mußte zweimal hinsehen, ehe er begriff, daß der dichte dunkle Schnurrbart etwas wie ein Grinsen oder wenigstens ein grimmiges Lächeln verbarg.

»Ich dachte, Sie führen ab«, sagte Father Brown ein wenig scharf. »Ich dachte, Sie wären mit dem Zug vor zwei Stunden abgereist.«

»Na ja, Sie sehen ja, daß ich das nicht getan habe«, sagte Boon.

»Warum sind Sie zurückgekommen?« fragte der Priester fast streng.

»Das hier ist nicht die Art kleinen ländlichen Paradieses, die ein Journalist schnell wieder verläßt«, erwiderte der andere. »Hier ereignen sich die Dinge zu rasch, als daß es sich lohne, an einen so langweiligen Ort wie London zurückzukehren. Außerdem kann man mich aus dieser Geschichte nicht raushalten – ich meine diese zweite Geschichte. Schließlich hab ich die Leiche gefunden, oder wenigstens ihre Kleider. Reichlich verdächtiges Verhalten meinerseits, oder? Vielleicht glauben Sie, ich wollte mich mit seinen Kleidern verkleiden. Gäbe ich nicht einen herrlichen Pfarrer ab?«

Und der hagere langnasige Schmierenkomödiant vollführte plötzlich inmitten des Marktplatzes eine theatralische Geste, indem er seine Arme ausstreckte und seine Hände in dunklen Handschuhen zu einem komischen Segen spreizte und sagte: »Oh, meine geliebten Brüder und Schwestern, wie sehr ich euch doch alle umarmen möchte…«

»Um Himmels willen, wovon reden Sie?« rief Father Brown und schlug leicht mit seinem ungefügen Regenschirm auf die Pflastersteine, denn er war etwas weniger geduldig als üblich.

»Ach, das werden Sie alles herausfinden, wenn Sie Ihre Picknick-Party dahinten im Gasthof befragen«, erwiderte Boon höhnisch. »Dieser Tarrant scheint mich zu verdächtigen, bloß weil ich die Kleidung gefunden habe; obwohl er selbst nur eine Minute zu spät kam, um sie selbst zu finden. Aber in dieser Geschichte stecken alle Arten von Geheimnissen. Der kleine Mann mit dem großen Schnurrbart könnte mehr in sich haben, als man sehen kann. Und schließlich sehe ich keinen Grund, warum Sie nicht selbst den armen Kerl umgebracht haben sollten.«

Father Brown schien über diese Verdächtigung nicht im geringsten verärgert, wohl aber durch die Bemerkung zutiefst verstört und verwirrt.

»Wollen Sie damit sagen«, fragte er schlicht, »daß ich es war, der versucht hat, Professor Smaill umzubringen?«

»Aber nicht doch«, sagte der andere und wedelte mit der Hand wie jemand, der ein freundliches Zugeständnis macht. »Es gibt genug Tote, unter denen Sie wählen können. Nicht auf Professor Smaill beschränkt. Wieso, wissen Sie denn nicht, daß noch jemand aufgetaucht ist, der noch viel toter ist als Professor Smaill? Und ich sehe keinen Grund, warum Sie den nicht auf eine ruhige Weise beiseite gebracht haben sollten. Religiöse Differenzen, wissen Sie… beklagenswerte Uneinigkeit des Christentums… Ich nehme an, daß Sie schon immer die englischen Gemeinden zurückhaben wollten.«

»Ich gehe zurück in den Gasthof«, sagte der Priester ruhig; »Sie haben gesagt, die Leute da wüßten, wovon Sie reden, und vielleicht sind sie imstande, es mir zu sagen.«

Und wirklich wurden unmittelbar danach seine privaten Besorgnisse für den Augenblick durch die Neuigkeit von neuem Unglück zerstreut. In dem Augenblick, in dem er den kleinen Schankraum betrat, wo der Rest der Gesellschaft versammelt war, erzählte ihm etwas in ihren bleichen Gesichtern, daß sie von etwas Neuerem als dem Unfall im Grabe erschüttert waren. Und während er noch eintrat, sagte Leonard Smyth: »Wo soll das alles enden?«

»Das wird niemals enden, sage ich Ihnen«, erwiderte Lady Diana und starrte mit glasigen Augen ins Leere; »das wird nicht enden, ehe wir nicht alle enden. Einen nach dem anderen wird der Fluch uns dahinraffen; vielleicht langsam, wie der arme Vikar gesagt hat; aber er wird uns alle dahinraffen, wie er ihn dahingerafft hat.«

»Was um alles in der Welt ist denn jetzt geschehen?« fragte Father Brown.

Zunächst war Schweigen, und dann sagte Tarrant mit einer etwas hohl klingenden Stimme:

»Mr. Walters, der Vikar, hat Selbstmord begangen. Ich nehme an, daß der Schock ihn um den Verstand gebracht hat. Auf jeden Fall gibt es, fürchte ich, keinen Zweifel. Wir haben gerade seinen schwarzen Hut und seine Kleidung auf einem Felsen gefunden, der aus der Küste herausragt. Er scheint sich ins Meer gestürzt zu haben. Ich hatte den Eindruck, als sähe er wie halb von Sinnen aus, und vielleicht hätten wir nach ihm sehen sollen; aber da gab es so vieles, nach dem wir sehen mußten.«

»Sie hätten nichts tun können«, sagte die Dame. »Begreifen Sie denn nicht, daß das Verhängnis in einer fürchterlichen Reihenfolge seinen Lauf nimmt? Der Professor hat das Kreuz berührt, und er ging als erster; der Vikar hat das Grab geöffnet, und er ging als zweiter; wir haben nur die Kapelle betreten, und wir – «

»Halt«, sagte Father Brown mit einer scharfen Stimme, wie er sie nur sehr selten benutzte, »das muß ein Ende haben.«

Er trug immer noch ein tiefes wenn auch unbewußtes Stirnrunzeln, aber in seinen Augen hing nicht mehr die Wolke des Geheimnisses, sondern vielmehr das Licht schrecklichen Verstehens.

»Was bin ich doch für ein Narr!« murmelte er. »Ich hätte das schon lange sehen sollen. Die Geschichte vom Fluch hätte es mir erzählen sollen.«

»Wollen Sie damit sagen«, fragte Tarrant, »daß wir tatsächlich jetzt von irgend etwas getötet werden können, das sich im 13. Jahrhundert abgespielt hat?«

Father Brown schüttelte den Kopf und antwortete mit ruhiger Betonung:

»Ich will nicht erörtern, ob wir von irgend etwas getötet werden können, das sich im 13. Jahrhundert abgespielt hat; aber ich bin völlig sicher, daß wir nicht von etwas getötet werden können, das sich im 13. Jahrhundert nie ereignet hat, das sich überhaupt nie ereignet hat.«

»Fein«, sagte Tarrant, »es ist erfrischend, einem Priester zu begegnen, der dem Übernatürlichen so skeptisch gegenübersteht.«

»Durchaus nicht«, erwiderte der Priester gelassen, »ich zweifle nicht an der übernatürlichen Seite der Sache. Aber an der natürlichen. Ich befinde mich genau in der Lage des Mannes, der sagte: ›Ich kann an das Unmögliche glauben, aber nicht an das Unwahrscheinliche.‹«

»Das würden Sie ja wohl ein Paradox nennen, oder?« fragte der andere.

»Das würde ich gesunden Menschenverstand nennen, richtig verstanden«, erwiderte Father Brown. »Es ist viel natürlicher, eine übernatürliche Geschichte zu glauben, die für uns unverständliche Dinge behandelt, als eine natürliche Geschichte, die uns verständlichen Dingen widerspricht. Wenn Sie mir erzählen, daß den großen Gladstone in seiner letzten Stunde der Geist Parnells heimsuchte, werde ich mich agnostisch verhalten. Wenn Sie mir aber erzählen, daß Gladstone, als er zum ersten Mal der Königin Viktoria vorgestellt wurde, in ihrem Boudoir den Hut aufbehielt, ihr auf die Schulter klopfte und ihr eine Zigarre anbot, dann werde ich mich alles andere als agnostisch verhalten. Das wäre nicht unmöglich; sondern nur unglaublich. Und doch bin ich sehr viel sicherer, daß es nicht geschehen ist, als daß Parnells Geist nicht erschienen wäre; weil es die Gesetze der Welt verletzt, die ich verstehe. So ist das auch mit der Geschichte vom Fluch. Nicht die Legende glaube ich nicht – sondern die Geschichte.«

Lady Diana hatte sich etwas von ihrer Kassandra-Erstarrung erholt, und ihre ewige Neugier nach neuen Dingen begann wieder, ihr aus den hellen und auffallenden Augen zu blicken.

»Was sind Sie doch für ein eigenartiger Mensch!« sagte sie. »Warum sollten Sie die Geschichte nicht glauben?«

»Ich glaube die Geschichte nicht, weil sie nicht Geschichte ist«, antwortete Father Brown. »Für jeden, der auch nur etwas übers Mittelalter weiß, ist die ganze Geschichte ebenso wahrscheinlich wie die von Gladstone, der der Königin Viktoria eine Zigarre anbietet. Aber wer weiß schon was übers Mittelalter? Wissen Sie, was eine Gilde war? Haben Sie je von salvo managio suo gehört? Wissen Sie, was für Leute die Servi Regis waren?«

»Natürlich nicht«, sagte die Dame eher ärgerlich. »Was für ein Haufen lateinischer Wörter!«

»Natürlich nicht«, sagte Father Brown. »Hätte es sich um Tutenchamun und eine Gruppe vertrockneter Afrikaner gehandelt, die aus Gott weiß welchen Gründen am anderen Ende der Welt erhalten geblieben sind; hätte es sich um Babylon oder China gehandelt; hätte es sich um irgendeine Rasse gehandelt, die so entfernt und geheimnisvoll ist wie der Mann im Mond, dann hätten Ihre Zeitungen Ihnen alles darüber berichtet, bis hin zur letzten Auffindung einer Zahnbürste oder eines Kragenknopfes. Aber die Männer, die Ihre eigenen Pfarrkirchen erbaut haben und Ihren Städten und Gewerben die Namen gaben, und selbst den Straßen, auf denen Sie wandeln – es ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, über sie etwas zu erfahren. Ich will nicht behaupten, daß ich selbst viel wüßte; aber ich weiß genug, um zu erkennen, daß diese ganze Geschichte von Anfang bis Ende Quatsch und Unfug ist. Geldverleiher durften einem Mann seinen Laden und seine Werkzeuge nicht wegpfänden. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß die Gilde einen Mann nicht vor solch äußerstem Ruin gerettet hätte, vor allem wenn ihn ein Jude ruinierte. Diese Menschen hatten ihre eigenen Laster und Tragödien; manchmal haben sie andere Menschen gefoltert und verbrannt. Aber der Gedanke, daß ein Mann ohne Gott oder Hoffnung sich verkrieche, um zu sterben, weil sich niemand darum kümmerte, ob er lebe – das ist kein mittelalterlicher Gedanke. Das ist ein Produkt von Wissenschaft und Fortschritt in unserer Wirtschaft. Der Jude würde auch kein Vasall des Feudalherrn gewesen sein. Juden hatten normalerweise eine Sonderstellung als Diener des Königs. Vor allem anderen aber hätte der Jude nicht wegen seiner Religion verbrannt werden können.«

»Die Paradoxe vermehren sich«, bemerkte Tarrant, »aber Sie werden doch sicherlich nicht ableugnen, daß Juden im Mittelalter verfolgt wurden?«

»Es käme der Wahrheit näher«, sagte Father Brown, »wenn man sagte, daß sie die einzigen waren, die im Mittelalter nicht verfolgt wurden. Wenn man die Zeit des Mittelalters satirisch zeichnen wollte, könnte man das gut tun, indem man sagte, daß mancher arme Christ lebenden Leibes verbrannt werden konnte, weil er in Sachen Homousios einen Fehler machte, während ein reicher Jude die Straße hinabgehen und öffentlich Christus und die Mutter Gottes verhöhnen mochte. So also sieht die Geschichte aus. Es war niemals eine Geschichte aus dem Mittelalter; es war niemals auch nur eine Legende übers Mittelalter. Sie wurde von jemandem erfunden, dessen Vorstellungen aus Zeitungen und Romanen stammen, und höchstwahrscheinlich aus dem Stegreif.«

Die anderen schienen von der geschichtlichen Abschweifung etwas benommen zu sein und sich zu wundern, warum der Priester sie so betonte und zu einem so wichtigen Teil des Rätsels machte. Aber Tarrant, dessen Geschäft es war, die handfesten Einzelheiten aus vielen verworrenen Abschweifungen herauszuklauben, war plötzlich aufmerksam geworden. Sein bärtiges Kinn war weiter denn je vorgestreckt, seine düsteren Augen aber waren hellwach.

»Aha«, sagte er, »aus dem Stegreif erfunden!«

»Das ist vielleicht eine Übertreibung«, räumte Father Brown ruhig ein. »Ich hätte besser sagen sollen: zufälliger und sorgloser erfunden als der Rest des ungewöhnlich sorgfältigen Planes. Aber der Planer dachte nicht daran, daß Einzelheiten einer mittelalterlichen Geschichte irgendwem etwas bedeuten könnten. Und diese seine Berechnung war ja im allgemeinen auch ziemlich richtig wie die meisten seiner anderen Berechnungen.«

»Wessen Berechnungen? Wer hatte recht?« fragte die Dame mit einem plötzlichen Anflug von leidenschaftlicher Ungeduld. »Von wem reden Sie eigentlich? Haben wir noch nicht genug durchgemacht, ohne daß Sie uns mit Ihren ›ers‹ und ›seins‹ zum Gruseln bringen?«

»Ich spreche vom Mörder«, sagte Father Brown.

»Welcher Mörder?« fragte sie scharf. »Wollen Sie behaupten, daß der arme Professor ermordet wurde?«

»Nun«, knurrte Tarrant starräugig in seinen Bart, »wir können nicht sagen ›ermordet‹, denn wir wissen nicht, wie er zu Tode kam.«

»Der Mörder tötete jemand anderen, der nicht Professor Smaill war«, sagte der Priester ernst.

»Wieso, wen hat er denn getötet?« fragte der andere.

»Er tötete Hochwürden John Walters, den Vikar von Dulham«, erwiderte Father Brown mit Präzision. »Er wollte nur diese beiden töten, denn beide waren sie in den Besitz von Reliquien einer seltenen Art gekommen. In dieser Frage war der Mörder monoman.«

»Das klingt alles sehr sonderbar«, murmelte Tarrant. »Natürlich können wir auch nicht beschwören, daß der Vikar wirklich tot ist. Wir haben seine Leiche nicht gesehen.«

»O doch, haben Sie«, sagte Father Brown.

Eine Stille entstand so plötzlich wie der Schlag eines Gongs; eine Stille, in der das unbewußte Rätselraten, das in der Frau so aktiv und akkurat war, sie fast zu einem Aufschrei brachte.

»Genau das haben Sie gesehen«, fuhr der Priester fort. »Sie haben seine Leiche gesehen. Sie haben nicht ihn gesehen – den wirklichen lebendigen Mann; aber Sie haben tatsächlich seine Leiche gesehen. Sie haben sie im Lichte von vier großen Kerzen aufmerksam angestarrt; und sie trieb nicht als Folge eines Selbstmordes in der See umher, sondern sie war prunkvoll aufgebahrt wie die eines Kirchenfürsten, in einem vor den Kreuzzügen erbauten Schrein.«

»Mit anderen Worten«, sagte Tarrant, »wollen Sie uns glauben machen, daß der einbalsamierte Körper tatsächlich die Leiche eines ermordeten Mannes war.«

Father Brown schwieg einen Augenblick; dann sagte er mit einem Ausdruck, als sei es nebensächlich:

»Was mir als erstes auffiel, war das Kreuz, oder vielmehr die Schnur, an der das Kreuz hing. Natürlich war es für die meisten von Ihnen nur eine Perlenschnur und nichts weiter; aber ebenso natürlich lag das mehr auf meiner als auf Ihrer Linie. Sie werden sich erinnern, daß es dem Kinn sehr nahe lag und daß nur wenige Perlen sichtbar waren, als ob das ganze Halsband sehr kurz sei. Aber die Perlen, die sichtbar waren, waren auf eine besondere Weise angeordnet, erst eine und dann drei, und so weiter; tatsächlich erkannte ich auf den ersten Blick, daß es ein Rosenkranz war, ein einfacher Rosenkranz mit einem Kreuz am Ende. Nun weist aber ein Rosenkranz mindestens fünf Zehnergruppen und außerdem zusätzliche Perlen auf; deshalb fragte ich mich natürlich, wo wohl der Rest von ihnen war. Er würde sehr viel häufiger als nur einmal um den Hals des alten Mannes reichen. Damals verstand ich das nicht; und erst später erriet ich, wo die überschüssige Länge geblieben war. Sie war um den Fuß der Holzstütze gewickelt, die in der Ecke des Sarges festgekeilt war und den Deckel offen hielt. So daß, als der arme Smaill auch nur leicht an dem Kreuz zupfte, dies die Stütze aus ihrer Stellung zog und der Deckel ihm auf den Schädel krachte wie eine Steinkeule.«

»Donnerwetter!« sagte Tarrant, »ich beginne zu glauben, daß Sie recht haben könnten. Eine eigenartige Geschichte, wenn sie zutrifft.«

»Als mir das klar geworden war«, fuhr Father Brown fort, »konnte ich den Rest mehr oder weniger erraten. Denken Sie vor allem daran, daß es bisher außer für die Untersuchung selbst keinerlei kompetente archäologische Autorität gab. Der arme alte Walters war ein redlicher Altertumskundler, der damit beschäftigt war, das Grab zu öffnen, um herauszufinden, ob die Legende von einbalsamierten Körpern irgendeine Wahrheit enthielt. Alles andere waren Gerüchte von jener Art, die so oft solche Entdeckungen vorausnehmen oder übertreiben. Tatsächlich fand er heraus, daß die Leiche nicht einbalsamiert worden, sondern bereits vor langer Zeit zu Staub zerfallen war. Aber als er da beim Schein seiner einsamen Kerze in jener versunkenen Kapelle arbeitete, warf das Kerzenlicht noch einen Schatten außer dem seinen.«

»Ah!« rief Lady Diana mit stockendem Atem. »Und jetzt weiß ich, was Sie sagen wollen. Sie wollen uns sagen, daß wir dem Mörder begegnet sind, mit dem Mörder sprachen und scherzten, ihn uns romantische Erzählungen erzählen ließen, und ihn dann unangetastet gehen ließen.«

»Wobei er seine geistliche Verkleidung auf einem Felsen zurückließ«, stimmte Brown zu. »Es ist alles wirklich schrecklich einfach. Dieser Mensch kam dem Professor bei dem Wettlauf nach Friedhof und Kapelle vorauf, möglicherweise, während der Professor mit jenem melancholischen Journalisten sprach. Er fand den alten Geistlichen neben dem leeren Sarge vor und tötete ihn. Dann zog er sich selbst das schwarze Gewand der Leiche an und hüllte sie in einen alten Chorrock, der zu den wirklichen Funden der Untersuchung gehörte, und legte sie in den Sarg, wobei er den Rosenkranz und die hölzerne Stütze so arrangierte, wie ich das bereits beschrieben habe. Und nachdem er so die Falle für seinen zweiten Gegner aufgestellt hatte, stieg er hinauf ans Tageslicht und begrüßte uns alle mit der liebenswürdigen Höflichkeit eines Landgeistlichen.«

»Da setzte er sich aber der erheblichen Gefahr aus«, wandte Tarrant ein, »daß jemand Walters vom Sehen kannte.«

»Ich gebe zu, daß er halb von Sinnen war«, stimmte Father Brown zu, »aber Sie werden zugeben, daß die Gefahr sich gelohnt hat, denn schließlich ist er damit durchgekommen.«

»Ich gebe zu, daß er großes Glück gehabt hat«, murrte Tarrant. »Und wer beim Teufel ist er?«

»Wie Sie sagen, hatte er großes Glück«, antwortete Father Brown, »und nicht zuletzt in diesem Punkt. Denn das ist das einzige, was wir vielleicht niemals erfahren werden.«

Er blickte einen Augenblick lang den Tisch mit gerunzelter Stirn an und fuhr dann fort: »Dieser Bursche hat seit Jahren auf der Lauer gelegen und gedroht, und dabei als einziges äußerst sorgfältig das Geheimnis gewahrt, wer er ist; und das hat er auch jetzt gewahrt. Wenn aber der arme Smaill wieder gesund wird, wovon ich überzeugt bin, dann werden Sie sicherlich noch mehr davon hören.«

»Was wird denn Professor Smaill nach Ihrer Meinung tun?« fragte Lady Diana.

»Als erstes wird er wohl«, sagte Tarrant, »diesem mörderischen Teufel Detektive wie Hetzhunde auf die Spur setzen. Am liebsten würde ich selbst mein Glück versuchen.«

»Nun ja«, sagte Father Brown und lächelte plötzlich wieder nach jenem langen Anfall stirnrunzelnder Verwirrtheit, »ich glaube, ich weiß, was er als erstes tun sollte.«

»Und was ist das?« fragte Lady Diana mit anmutigem Eifer.

»Er sollte sich bei Ihnen allen entschuldigen«, sagte Father Brown.

Doch stellte Father Brown fest, daß er nicht diese Frage mit Professor Smaill besprach, als er während der langsamen Genesung des bedeutenden Archäologen an seinem Bett saß. Auch war es nicht vorwiegend Father Brown, der sprach; denn obwohl dem Professor nur kleine Dosen des Anregungsmittels Gespräch erlaubt waren, konzentrierte er davon den Großteil auf diese Unterredungen mit seinem geistlichen Freund. Father Brown hatte die Gabe, auf ermutigende Weise zu schweigen, und Smaill ward dadurch ermutigt, über viele eigentümliche Themen zu sprechen, über die zu sprechen nicht immer leicht ist; etwa über die morbiden Phasen der Genesung und die monströsen Träume, die oftmals das Delirium begleiten. Es kann einen oftmals das Geschäft, sich langsam von einem bösen Schlag auf den Kopf zu erholen, aus dem Gleichgewicht bringen; aber wenn der Kopf so interessant ist wie der von Professor Smaill, können selbst seine Verstörungen und Verzerrungen originell und interessant sein. Seine Träume glichen kühnen und großen Entwürfen eher im Zeichenstil, wie sie in jenen starken, aber starren archaischen Kunstwerken zu finden sind, die er studiert hatte; sie waren voll von seltsamen Heiligen mit viereckigen und dreieckigen Heiligenscheinen, von ungewöhnlichen goldenen Kronen und Gloriolen rund um dunkle flache Gesichter, von Adlern aus dem Osten und jenem hohen Kopfputz bärtiger Männer, die ihre Haare wie Frauen aufbinden. Doch gab es, wie er seinem Freund erzählte, eine sehr viel einfachere und weniger verschlungene Gestalt, die ständig in seine einbildungskräftige Erinnerung zurückkehrte. Wieder und wieder wichen alle diese byzantinischen Muster verblassend zurück wie das verblassende Gold, auf das sie wie auf Feuer gezeichnet waren; und nichts blieb, als die dunkle nackte Felswand, auf die die schimmernde Form des Fisches gezeichnet war wie von einem Finger, der in die Phosphoreszenz der Fische tauchte. Denn dies war das Zeichen, das er einst emporschauend entdeckte in jenem Augenblick, als er zum ersten Mal um die Ecke des dunklen Ganges die Stimme seines Feindes hörte. »Und schließlich«, sagte er, »glaube ich, in Bild und Stimme eine Bedeutung erkannt zu haben; eine, die ich nie zuvor verstanden habe. Warum sollte es mich beunruhigen, daß ein Verrückter unter einer Million Gesunder, die in einer großen Gemeinschaft gegen ihn verbündet sind, sich rühmt, mich zu verfolgen oder mich in den Tod zu hetzen? Der Mann, der in der dunklen Katakombe das geheime Zeichen Christi zeichnete, wurde auf eine ganz andere Weise verfolgt. Er war der einsame Verrückte; die ganze gesunde Gesellschaft hatte sich zusammengeschlossen, nicht, um ihn zu retten, sondern um ihn zu ermorden. Ich habe manchmal herumgerätselt und gegrübelt und mich gefragt, ob dieser oder jener mein Verfolger sei; ob Tarrant; ob Leonard Smyth; ob irgend jemand von ihnen. Wenn sie es nun alle gewesen wären? Wenn es nun alle Menschen auf dem Schiff und im Zug und in dem Dorf gewesen wären. Wenn sie nun alle, was mich anging, Mörder gewesen wären. Ich glaubte, ich hätte ein Recht, besorgt zu sein, weil ich im Dunklen durch das Innere der Erde kroch und es da einen Mann gab, der mich vernichten wollte. Was wäre gewesen, wenn der Vernichter im Licht des Tages Herr der ganzen Erde und Befehlshaber aller Heere und aller Massen gewesen wäre? Was, wenn er imstande gewesen wäre, die Erde anzuhalten oder mich aus meinem Loch rauszuräuchern oder mich zu töten in dem Augenblick, in dem ich meine Nase ins Tageslicht hob? Wie wäre es, sich mit Mord in solchem Ausmaß befassen zu müssen? Die Welt hat derartige Dinge vergessen, wie sie bis vor kurzem Krieg vergessen hatte.«

»Ja«, sagte Father Brown, »aber der Krieg kam. Der Fisch mag wieder in den Untergrund getrieben werden, aber er wird erneut ins Tageslicht auftauchen. Wie der heilige Antonius von Padua humorvoll bemerkte: ›Nur Fische überleben die Sintflut.‹«