Das Zeichen des zerbrochenen Säbels

 

Die tausend Arme des Waldes waren grau, und seine Millionen Finger silbern. In einem Himmel aus dunklem grünlich-blauem Schiefer waren die Sterne kalt und funkelnd wie Eissplitter. Das dicht bewaldete und dünn besiedelte Land war in bitterem sprödem Frost erstarrt. Die schwarzen Höhlungen zwischen den Wurzeln der Bäume sahen aus wie bodenlose schwarze Höhlen in jener herzlosen skandinavischen Hölle, jener Hölle unermeßlicher Kälte. Selbst der viereckige Steinturm der Kirche sah nördlich aus bis an den Rand des Heidentums, so als handele es sich um irgendeinen Barbarenturm auf den Meeresfelsen Islands. Es war eine eigentümliche Nacht für die Erforschung eines Friedhofes durch wen auch immer. Aber auf der anderen Seite lohnte sich die Erforschung vielleicht.

Er erhob sich schroff aus der eschengrauen Waldlandschaft als eine Art Buckel oder Schulter grünen Grases, das im Sternlicht grau aussah. Die meisten Gräber lagen im Hang, und der Pfad, der zur Kirche hinaufführte, war so steil wie eine Treppe. Oben auf dem Hügel stand an flacher und hervorragender Stelle das Denkmal, durch das der Ort berühmt war. Es bildete einen eigenartigen Widerspruch zu den gesichtslosen Gräbern ringsumher, denn es war das Werk eines der größten Bildhauer des modernen Europas; und doch versank sein Ruhm im Ruhm des Mannes, dessen Abbild er geschaffen hatte. Der schmale Silberstift des Sternenlichts zeigte die massive metallische Gestalt eines hingesunkenen Soldaten, die starken Hände in ewigem Gebet gefaltet, das große Haupt auf eine Kanone gebettet. Das ehrwürdige Antlitz war bärtig, oder besser backenbärtig nach der alten plumpen Mode des Oberst Newcome. Die Uniform, nur mit den wenigen Strichen der Einfachheit angedeutet, war die des modernen Krieges. An seiner rechten Seite lag ein Säbel, dessen Spitze abgebrochen war; an seiner linken Seite lag eine Bibel. An durchglühten Sommernachmittagen kamen Wagenladungen von Amerikanern und gebildeten Vorstadtbewohnern, um die Grabstätte zu besichtigen; aber selbst dann empfanden sie das weite Waldland mit der einen kargen Kuppel über Kirchhof und Kirche als einen sonderbar stummen und vernachlässigten Ort. In diesem Eisesdunkel tiefsten Winters sollte man meinen, er sei allein gelassen mit den Sternen. Dennoch knarrte durch die Stille der starren Wälder ein hölzernes Tor, und zwei vage Gestalten in Schwarz erklommen den schmalen Pfad zum Grab.

So schwach war das kalte Sternenlicht, daß an ihnen nichts zu erkennen war, außer daß beide schwarz gekleidet waren und der eine Mann riesig groß und der andere (vielleicht wegen des Kontrastes) geradezu erschreckend klein war. Sie stiegen hinauf zu dem großen gravitätischen Grabmal des historischen Kriegers und standen für ein paar Minuten da und starrten es an. Kein menschliches, vielleicht nicht einmal ein lebendes Wesen gab es in weitem Umkreis; und eine morbide Phantasie hätte sich wohl fragen können, ob sie denn selbst menschliche Wesen wären. Auf jeden Fall hätte der Anfang ihres Gespräches sonderbar erscheinen mögen. Nach einem ersten Schweigen sagte der kleine Mann zu dem anderen:

»Wo verbirgt ein Weiser einen Kiesel?«

Und der große Mann antwortete mit leiser Stimme: »Am Strand.«

Der kleine Mann nickte und sagte nach kurzem Schweigen: »Wo verbirgt der Weise ein Blatt?«

Und der andere antwortete: »Im Wald.«

Wieder herrschte Schweigen, und dann faßte der große Mann zusammen: »Meinen Sie, daß wenn ein weiser Mann echte Diamanten zu verbergen hat, er sie jemals unter falschen verbirgt?«{*}

»Nein nein«, sagte der kleine Mann lachend, »wir wollen Vergangenes vergangen sein lassen.«

Er stampfte für ein oder zwei Sekunden mit seinen kalten Füßen und sagte dann: »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht, sondern an etwas ganz anderes; etwas äußerst Merkwürdiges. Zünden Sie doch bitte ein Streichholz an, ja?«

Der große Mann fummelte in seiner Tasche herum, und bald erfolgte ein Kratzen, und dann malte eine Flamme die ganze glatte Seite des Denkmals golden an. In sie waren in schwarzen Lettern die wohlbekannten Worte eingehauen, die so viele Amerikaner ehrfurchtsvoll gelesen haben: »Geweiht der Erinnerung an General Sir Arthur St. Clare, Held und Märtyrer, der seine Feinde Stets Besiegte und Stets Verschonte, und von Ihnen zuletzt Verräterisch Erschlagen Ward. Wolle Gott, auf Den er Vertraute, ihn Belohnen und Rächen.«

Das Streichholz verbrannte des großen Mannes Finger, erlosch und fiel zu Boden. Er wollte schon ein weiteres entzünden, aber sein kleiner Gefährte hielt ihn ab. »Schon gut, Flambeau, mein Alter; ich habe gesehen, was ich wollte. Oder besser, ich habe nicht gesehen, was ich nicht wollte. Und jetzt müssen wir bis zum nächsten Wirtshaus anderthalb Meilen die Straße entlanggehen, und da werde ich versuchen, Ihnen alles darüber zu erzählen. Denn beim Himmel, man braucht ein Kaminfeuer und Ale, wenn man es wagt, eine solche Geschichte zu erzählen.«

Sie stiegen den steilen Pfad hinab, sie verriegelten das rostige Tor hinter sich, und sie machten sich auf zu einem stampfenden klirrenden Marsch über den gefrorenen Waldweg. Sie waren bereits eine gute Viertelmeile gegangen, als der kleine Mann wieder sprach. Er sagte: »Ja; der Weise verbirgt den Kiesel am Strand. Aber was macht er, wenn es da keinen Strand gibt? Haben Sie je von der großen St.-Clare-Affäre gehört?«

»Ich weiß nichts über englische Generäle, Father Brown«, antwortete der große Mann lachend, »obwohl ich einiges über englische Polizisten weiß. Ich weiß nur, daß Sie mich einen reichlich langen Tanz zu all den Schreinen dieses Burschen haben machen lassen, wer immer er war. Man sollte meinen, daß man ihn an sechs verschiedenen Orten begraben hat. Ich habe in der Westminster-Abtei ein Denkmal des Generals St. Clare gesehen; ich habe am Embankment ein sich aufbäumendes Reiterstandbild des Generals St. Clare gesehen; ich habe eine Gedenktafel in der Straße gesehen, in der er geboren wurde; und eine andere in der Straße, in der er gewohnt hat; und nun haben Sie mich in der Dunkelheit zu seinem Sarg auf dem Dorffriedhof geschleppt. Langsam habe ich genug von seiner großartigen Persönlichkeit, vor allem, da ich nicht die leiseste Ahnung habe, wer er war. Wonach jagen Sie in all diesen Krypten und Abbildungen?«

»Ich suche nach einem einzigen Wort«, sagte Father Brown. »Einem Wort, das nicht da ist.«

»Na schön«, sagte Flambeau, »wollen Sie mir was darüber erzählen?«

»Ich muß das in zwei Teile teilen«, bemerkte der Priester. »Einmal gibt es das, was alle Welt weiß; und dann gibt es das, was ich weiß. Nun ist das, was alle Welt weiß, kurz und einfach genug. Es ist außerdem absolut falsch.«

»Wie recht Sie haben«, sagte der große Mann namens Flambeau fröhlich. »Beginnen wir am falschen Ende. Beginnen wir mit dem, was alle wissen, was aber nicht wahr ist.«

»Wenn auch nicht ganz unwahr, so doch zumindest höchst unzureichend«, fuhr Brown fort; »denn was alle Welt weiß, ist nur folgendes: Alle Welt weiß, daß Arthur St. Clare ein großer und erfolgreicher englischer General war. Man weiß, daß er nach glänzenden, aber sorgfältig geführten Feldzügen in Indien und Afrika das Kommando gegen Brasilien hatte, als der große brasilianische Patriot Olivier sein Ultimatum stellte. Man weiß, daß bei jener Gelegenheit St. Clare mit sehr schwachen Kräften Olivier mit sehr starken Kräften angriff und nach heldenhaftem Widerstand gefangengenommen wurde. Und man weiß, daß nach seiner Gefangennahme St. Clare zum Entsetzen der gesamten zivilisierten Welt am nächsten Baum aufgehängt worden ist. Man fand ihn dort baumelnd, nachdem die Brasilianer sich zurück gezogen hatten, mit dem zerbrochenen Säbel um den Hals.«

»Und diese volkstümliche Geschichte ist unwahr?« regte Flambeau an.

»Nein«, sagte sein Freund ruhig; »die Geschichte ist wohl wahr, soweit sie reicht.«

»Na, ich meine, sie geht weit genug!« sagte Flambeau. »Aber wenn die volkstümliche Geschichte wahr ist, wo liegt dann das Geheimnis?«

Sie waren an vielen hundert weiteren grauen und geisterhaften Bäumen vorbeigekommen, ehe der kleine Priester antwortete. Dann kaute er nachdenklich auf seinem Finger herum und sagte: »Nun, das Geheimnis ist ein Geheimnis der Psychologie. Oder vielmehr, es ist ein Geheimnis von zwei Psychologien. In dieser brasilianischen Angelegenheit haben zwei der berühmtesten Männer der modernen Geschichte völlig gegen ihren Charakter gehandelt. Bedenken Sie – Olivier und St. Clare waren beides Helden – von der alten Art, damit da kein Zweifel entsteht; es war wie der Kampf zwischen Hektor und Achill. Und nun: Was würden Sie zu einem Treffen sagen, in dem Achill feige und Hektor verräterisch handelt?«

»Weiter«, sagte der große Mann ungeduldig, als der andere erneut auf seinem Finger herumbiß.

»Sir Arthur St. Clare war ein Soldat von der alten frommen Art – der Art, die uns während der Meuterei gerettet hat«, fuhr Brown fort. »Er war immer mehr für die Pflicht als für das Wagnis; und bei all seinem persönlichen Mut war er ein entschieden bedächtiger Befehlshaber, dem jedes sinnlose Aufopfern von Soldaten besonders zuwider war. Und doch versuchte er bei seiner letzten Schlacht etwas, von dem ein Säugling erkannt hätte, wie absurd es war. Man braucht kein Stratege zu sein, um zu erkennen, daß das so wild wie der Wind war; genausowenig braucht man ein Stratege zu sein, um einem Bus aus dem Wege zu gehen. Das also ist das erste Geheimnis: Was ging im Kopf des englischen Generals vor? Das zweite Rätsel ist, was ging im Herzen des brasilianischen Generals vor? Man kann Präsident Olivier einen Visionär oder eine Landplage nennen; aber selbst seine Feinde geben zu, daß er großmütig wie ein fahrender Ritter war. Nahezu jeden anderen Gefangenen, den er je gemacht hat, hat er wieder laufengelassen oder sogar mit Wohltaten überschüttet. Selbst Menschen, die ihm wirklich Unrecht zugefügt hatten, kamen zurück, gerührt von seiner Schlichtheit und Milde. Warum in aller Welt sollte er sich ein einziges Mal in seinem Leben so teuflisch rächen; und dann ausgerechnet wegen des einzigen Schlages, der ihn nicht verletzt haben kann? Da haben Sie es. Einer der klügsten Männer auf Erden handelte grundlos wie ein Idiot. Einer der gütigsten Männer auf Erden handelte grundlos wie ein Schurke. Das ist die ganze Geschichte; und nun sind Sie dran, mein Junge.«

»Nein, bin ich nicht«, sagte der andere mit einem Schnauben. »Sie sind dran; und Sie werden sie mir höchstselbst erzählen.«

»Na schön«, fuhr Father Brown fort, »es wäre nicht gerecht zu behaupten, daß die öffentliche Meinung so ist, wie ich eben gesagt habe, ohne hinzuzufügen, daß sich seither zwei Dinge ereignet haben. Ich kann nicht behaupten, daß sie ein neues Licht auf die Angelegenheit würfen, denn niemand kann sich einen Reim darauf machen. Aber sie warfen eine neue Dunkelheit, sie warfen die Dunkelheit in neue Richtungen. Das erste ist folgendes. Der Familienarzt der St. Clares bekam mit der Familie Streit und begann, eine Serie scharfer Artikel zu veröffentlichen, in denen er behauptete, der verblichene General sei von religiöser Manie besessen gewesen; aber soweit der Bericht reicht, scheint das kaum mehr zu bedeuten, als daß er ein religiöser Mann war. Auf alle Fälle hielt sich die Geschichte nicht lange. Jeder wußte natürlich, daß St. Clare einige der Exzentrizitäten puritanischer Frömmigkeit besaß. Der zweite Zwischenfall war sehr viel spannender. In jenem glücklosen Regiment, das den sinnlosen Angriff am Schwarzen Fluß unternahm, diente ein gewisser Hauptmann Keith, der damals mit St. Clares Tochter verlobt war und sie später auch heiratete. Er gehörte zu jenen, die Olivier gefangengenommen hatte und der wie alle übrigen außer dem General großzügig behandelt und umgehend wieder freigelassen worden war. Einige zwanzig Jahre später hat nun dieser Mann, inzwischen Oberstleutnant Keith, eine Art Autobiographie veröffentlicht mit dem Titel ›Ein britischer Offizier in Burma und Brasilien‹. An der Stelle, wo der Leser begierig nach einem Bericht über das Geheimnis um St. Clares Katastrophe sucht, findet er die folgenden Worte: ›Überall sonst in diesem Buch habe ich die Dinge genau so berichtet, wie sie sich ereignet haben, da ich der altmodischen Ansicht bin, daß der Ruhm Englands alt genug ist, um für sich selbst zu sorgen. Die Ausnahme mache ich in der Frage der Niederlage am Schwarzen Fluß; und meine Gründe dafür, obwohl privat, sind ehrenwert und zwingend. Ich will aber, um dem Gedächtnis zweier ausgezeichneter Männer Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, dieses hinzufügen. General St. Clare ist bei dieser Gelegenheit der Unfähigkeit bezichtigt worden; ich kann zum mindesten dies bezeugen, daß sein Unternehmen, richtig verstanden, eines der glänzendsten und klügsten seines Lebens war. Präsident Olivier ist durch ähnliche Berichte barbarischer Ungerechtigkeit bezichtigt worden. Ich halte es der Ehre eines Gegners gegenüber für meine Pflicht festzustellen, daß er bei dieser Gelegenheit mit noch größerer als seiner üblichen Hochherzigkeit handelte. Um das Ganze verständlicher auszudrücken: Ich kann meinen Landsleuten versichern, daß St. Clare keineswegs der Narr, noch Olivier die Bestie war, als die sie erscheinen. Das ist alles, was ich zu sagen habe; und nichts auf Erden wird mich dazu bewegen, dem noch ein Wort hinzuzufügen.‹«

Ein großer gefrorener Mond begann wie ein schimmernder Schneeball zwischen dem Gewirr der Zweige vor ihnen durchzuscheinen, und in seinem Licht hatte der Erzähler seine Erinnerung an Hauptmann Keith’ Text von einem Stück bedruckten Papiers auffrischen können. Als er es zusammenfaltete und wieder in die Tasche steckte, warf Flambeau die Hand in einer typisch französischen Geste hoch.

»Augenblick, Augenblick«, rief er aufgeregt. »Ich glaube, daß ich das auf Anhieb erraten kann.«

Er schritt schwer atmend voran, den schwarzen Kopf und den Stiernacken gebeugt wie ein Mann, der ein Geherrennen gewinnt. Der kleine Priester, erheitert und interessiert, hatte Mühe, sich an seiner Seite zu halten. Unmittelbar vor ihnen wichen die Bäume ein wenig nach links und rechts zurück, und die Straße schwang sich abwärts quer durch ein klares, monderleuchtetes Tal, bis sie wie ein Kaninchen in die Wand eines anderen Waldes tauchte. Der Eingang in diesen ferneren Wald erschien klein und rund wie das schwarze Loch eines entfernten Eisenbahntunnels. Ehe Flambeau aber wieder sprach, war er nur noch einige hundert Meter entfernt und gähnte wie eine Höhle.

»Ich hab’s«, schrie er schließlich und klatschte sich mit seiner großen Hand auf die Schenkel. »Vier Minuten Nachdenken, und ich kann Ihnen die ganze Geschichte erzählen.«

»Alsdann«, stimmte sein Freund zu. »Erzählen Sie sie.«

Flambeau hob den Kopf, aber senkte die Stimme. »General Sir Arthur St. Clare«, sagte er, »entstammte einer Familie, in der Wahnsinn erblich ist; und sein einziges Ziel war, das vor seiner Tochter und, wenn möglich, sogar vor seinem zukünftigen Schwiegersohn geheimzuhalten. Er bildete sich zu Recht oder zu Unrecht ein, daß der endgültige Zusammenbruch nahe sei, und entschloß sich zum Selbstmord. Doch ein gewöhnlicher Selbstmord würde gerade das herausposaunen, was er so fürchtete. Als der Feldzug näherrückte, verdichteten sich auch die Wolken in seinem Gehirn, und in einem wahnerfüllten Augenblick opferte er seine öffentlichen Pflichten seinen privaten auf. Er stürzte sich Hals über Kopf in die Schlacht und hoffte, beim ersten Schuß zu fallen. Als er feststellen mußte, daß er lediglich Gefangenschaft und Schande erreicht hatte, platzte die versiegelte Bombe in seinem Hirn, und er zerbrach seinen Säbel und hängte sich auf.«

Er starrte fest auf die graue Front des Waldes vor ihm, mit dem einen schwarzen Loch darin wie der Mund des Grabes, wohinein sich ihr Pfad stürzte. Vielleicht verstärkte etwas Bedrohliches an der so plötzlich verschlungenen Straße seine lebhafte Vision der Tragödie, denn er erschauerte. »Eine furchtbare Geschichte«, schloß er.

»Eine furchtbare Geschichte«, wiederholte der Priester mit gesenktem Kopf; »aber nicht die wahre Geschichte.«

Dann warf er den Kopf in einer Art Verzweiflung zurück und rief: »Oh, ich wünschte, sie wäre es.«

Der große Flambeau wandte sich um und starrte ihn an.

»Ihre Geschichte ist eine saubere«, rief Father Brown tief bewegt. »Eine gütige, reine, redliche Geschichte, so klar und weiß wie jener Mond. Wahnsinn und Verzweiflung sind unschuldig genug. Es gibt schlimmere Dinge, Flambeau.«

Flambeau blickte wild zu dem so angerufenen Mond auf; und von da aus, wo er stand, sah er einen schwarzen Baumast sich genau wie ein Teufelshorn über ihn krümmen.

»Father – Father«, rief er mit seiner französischen Geste und schritt noch schneller aus, »Sie meinen, es war noch schlimmer?«

»Noch schlimmer«, sagte der andere wie ein tiefes Echo. Und sie tauchten in den schwarzen Kreuzgang des Waldes, der sich neben ihnen als düstere Tapete aus Stämmen hinzog, wie einer der dunklen Korridore in einem Traum.

Bald befanden sie sich im geheimsten Inneren des Waldes und fühlten dicht über sich Laubwerk, das sie nicht sehen konnten, als der Priester wieder fragte:

»Wo verbirgt der Weise ein Blatt? Im Wald. Aber was tut er, wenn da kein Wald ist?«

»Gut, gut«, schrie Flambeau gereizt, »was also tut er?«

»Er läßt einen Wald wachsen, um es darin zu verbergen«, sagte der Priester mit undeutlicher Stimme. »Eine furchtbare Sünde.«

»Passen Sie auf«, rief sein Freund ungeduldig, denn der düstere Wald und die düstere Rede gingen ihm an die Nerven; »wollen Sie mir die Geschichte erzählen oder nicht? Was für andere Beweisstücke kann man denn noch heranziehen?«

»Es gibt noch drei weitere Stückchen Beweise«, sagte der andere, »die ich in Löchern und Ecken ausgegraben habe, und ich will sie in logischer statt in chronologischer Reihenfolge vorlegen. Zuallererst haben wir natürlich als Quelle für Verlauf und Ausgang der Schlacht Oliviers Meldungen, die klar genug sind. Er hatte sich mit zwei oder drei Regimentern auf der Höhe über dem Schwarzen Fluß verschanzt, auf dessen anderem Ufer sich niedrigerer und sumpfiger Grund erstreckte. Dahinter hob sich das Land wieder sanft, und darauf befand sich der erste englische Vorposten, unterstützt von anderen, die allerdings weiter zurück lagen. Die britischen Kräfte waren zahlenmäßig insgesamt längst überlegen; aber dieses eine britische Regiment war gerade so weit von seiner Basis entfernt, daß Olivier erwog, den Fluß zu überschreiten und es abzuschneiden. Bei Sonnenuntergang hatte er sich jedoch entschlossen, in seiner Stellung zu bleiben, die besonders stark war. Am nächsten Morgen war er bei Tagesanbruch wie vom Donner gerührt, als er sah, daß diese verirrte Handvoll Engländer, völlig ohne Unterstützung von der Hauptmacht, den Fluß überschritten hatten, die eine Hälfte über eine Brücke zur Rechten, die andere durch eine weiter oben gelegene Furt, und sich auf dem sumpfigen Ufer unter ihm sammelte.

Daß sie in so geringer Zahl einen Angriff gegen eine solche Stellung versuchen sollten, war unglaublich genug; aber Olivier bemerkte etwas noch Ungewöhnlicheres. Denn statt zu versuchen, festeren Boden zu gewinnen, unternahm dieses wahnsinnige Regiment, das den Fluß in einem einzigen wilden Ansturm hinter sich gebracht hatte, nichts weiter, sondern blieb da im Morast stecken wie Fliegen im Sirup. Selbstverständlich bliesen die Brasilianer riesige Löcher mit ihrer Artillerie hinein, der sie nur mit mutigem aber schnell schwächer werdendem Gewehrfeuer antworten konnten. Doch gaben sie nicht auf; und Oliviers knapper Bericht schließt mit einem kräftigen Ausdruck der Bewunderung für die geheimnisvolle Tapferkeit dieser Narren. ›Schließlich rückte unsere Linie vor‹, schrieb Olivier, ›und trieb sie in den Fluß; wir nahmen General St. Clare selbst und einige weitere Offiziere gefangen. Der Oberst und der Major waren beide im Gefecht gefallen. Ich kann mich nicht enthalten festzustellen, daß es in der Geschichte nur wenige großartigere Anblicke gegeben haben kann, wie den letzten Widerstand dieses außerordentlichen Regiments; verwundete Offiziere ergriffen die Gewehre toter Soldaten, und der General selbst warf sich uns zu Pferde entgegen, barhäuptig und mit zerbrochenem Säbel.‹ Über das, was danach mit dem General geschah, ist Olivier ebenso schweigsam wie Hauptmann Keith.«

»Na schön«, knurrte Flambeau, »weiter mit dem nächsten Beweisstück.«

»Das nächste Beweisstück«, sagte Father Brown, »mußte ich lange suchen, aber es wird nicht lange dauern, es zu erzählen. Schließlich fand ich in einem Armenhaus in den Lincolnshire Fens einen alten Soldaten, der nicht nur am Schwarzen Fluß verwundet wurde, sondern tatsächlich neben dem Oberst des Regimentes kniete, als der starb. Es war dies ein gewisser Oberst Clancy, ein mächtiger Bulle von Irländer; und es scheint, daß er ebenso an Zorn wie an Kugeln starb. Er jedenfalls war nicht verantwortlich für jenen lächerlichen Angriff; der General muß ihn dazu gezwungen haben. Seine letzten erbaulichen Worte waren meinem Informanten zufolge: ›Und da geht der verdammte alte Esel mit der Spitze des Säbels abgeschlagen. Ich wollte, es wäre sein Kopf.‹ Sie werden bemerkt haben, daß offenbar jeder diese Einzelheit mit der abgebrochenen Säbelspitze zur Kenntnis genommen hat, obwohl die meisten Menschen sie ehrfürchtiger betrachten, als der verblichene Oberst Clancy. Und nun zum dritten Bruchstück.«

Ihr Pfad durch das Waldland begann zu steigen, und der Sprecher pausierte ein bißchen, um wieder zu Atem zu kommen, bevor er fortfuhr. Dann machte er im gleichen geschäftsmäßigen Ton weiter:

»Vor kaum ein oder zwei Monaten starb in England ein brasilianischer Beamter, der mit Olivier Krach bekommen und sein Land verlassen hatte. Er war eine wohlbekannte Figur, sowohl hier wie auf dem Kontinent, ein Spanier namens Espado; ich habe ihn selbst gekannt, ein gelbgesichtiger alter Lebemann mit einer Hakennase. Aus unterschiedlichen privaten Gründen habe ich die Genehmigung erhalten, in die von ihm hinterlassenen Dokumente Einsicht zu nehmen; er war natürlich Katholik, und ich war bis zu seinem Ende bei ihm. Nichts gab es da, was irgendeine Ecke der dunklen St.-Clare-Affäre hätte erhellen können, mit Ausnahme einiger fünf oder sechs einfacher Hefte mit Tagebuchnotizen eines englischen Soldaten. Ich kann nur vermuten, daß sie von den Brasilianern bei einem Gefallenen gefunden wurden. Jedenfalls brechen sie am Abend unmittelbar vor der Schlacht ab.

Aber der Bericht über den letzten Tag im Leben dieses armen Teufels war wirklich lesenswert. Ich habe ihn bei mir; aber hier ist es zu dunkel, um ihn vorzulesen, und deshalb will ich Ihnen eine Zusammenfassung geben. Der erste Teil der Eintragung ist voller Witze über jemanden, den man Geier nannte, und die offenbar unter den Männern umliefen. Es hat nicht den Anschein, daß diese Person, wer immer es war, zu ihnen gehört hat oder auch nur ein Engländer war; aber es wird von ihm auch nicht ausdrücklich als von einem der Gegner gesprochen. Es hört sich fast so an, als ob er irgendein örtlicher Mittelsmann und Nichtkombattant gewesen sei; vielleicht ein Führer oder ein Journalist. Oft saß er mit dem alten Oberst Clancy zusammen; wird aber häufiger noch im Gespräch mit dem Major gesehen. Nun nimmt dieser Major in der Erzählung des Soldaten einen herausragenden Platz ein; allem Anschein nach ein hagerer, dunkelhaariger Mann mit Namen Murray – ein Mann aus Nordirland und ein Puritaner. Da gibt es ständig Witze über den Gegensatz zwischen der Strenge dieses Ulster-Mannes und der herzhaften Lebensfreude von Oberst Clancy. Es gibt da auch einige Witze über den Geier und seine grellfarbene Kleidung.

Doch all diese Nichtigkeiten werden durch etwas verscheucht, was man den Klang der Kriegstrompete nennen könnte. Hinter dem englischen Lager verlief fast parallel zum Fluß eine der wenigen großen Straßen des Gebietes. Nach Westen hin bog die Straße zum Fluß ab, den sie auf der schon erwähnten Brücke überquerte. Nach Osten hin schwang die Straße wieder zurück in die Wildnis, und einige zwei Meilen weiter lag an ihr der erste englische Vorposten. Aus dieser Richtung kam am Abend über die Straße das Blitzen und Klirren leichter Reiterei, in der sogar der einfache Tagebuchschreiber zu seinem Erstaunen den General mit seinem Stab erkennen konnte. Er ritt das große weiße Pferd, das Sie so oft in Illustrierten und auf akademischen Ölbildern gesehen haben; und Sie dürfen sicher sein, daß ihre Ehrenbezeugung vor ihm nicht nur formell geschah. Er aber verschwendete keine Zeit auf Zeremonien, sondern sprang sofort aus dem Sattel, mischte sich unter die Gruppe Offiziere und begann ein intensives wenngleich vertrauliches Gespräch. Was unseren Freund den Tagebuchschreiber am meisten überraschte, war seine besondere Neigung, sich mit Major Murray zu besprechen; nun war eine solche Auswahl, solange sie nicht besonders hervorgehoben wurde, keineswegs unnatürlich. Die beiden Männer waren für gegenseitige Sympathien wie geschaffen; beide waren Männer, die ›ihre Bibel lasen‹; beide gehörten zum alttestamentarischen Offizierstyp. Aber wie dem auch sein mag, sicher ist, daß, als der General wieder aufsaß, er immer noch ernsthaft mit Murray sprach; und daß, als er sein Roß langsam die Straße zum Fluß hinabgehen ließ, der große Ulster-Mann immer noch in ernsthaftem Gespräch neben seiner Zügelhand ging. Die Soldaten sahen den beiden nach, bis sie hinter einer Baumgruppe verschwanden, an der sich die Straße zum Fluß hin bog. Der Oberst war zurück zu seinem Zelt gegangen, und die Männer zu ihren Posten; der Mann mit dem Tagebuch lungerte noch einige vier Minuten herum und erblickte etwas Erstaunliches.

Das große weiße Pferd, das langsam die Straße hinabgeschritten war, wie es schon in so manchen Aufzügen geschritten war, kam zurückgeflogen, galoppierte über die Straße auf sie zu, als sei es wild darauf, ein Rennen zu gewinnen. Zuerst dachten sie, es sei mit dem Mann im Sattel durchgegangen; aber sie erkannten bald, daß der General, ein ausgezeichneter Reiter, es selbst zu höchster Geschwindigkeit anspornte. Pferd und Mann stürmten wie ein Wirbelwind auf sie hin; und dann wendete ihnen der General, während er das taumelnde Schlachtroß zügelte, ein Gesicht wie eine lodernde Flamme zu und brüllte nach dem Oberst wie die Posaune, die die Toten erweckt.

Ich stelle mir vor, daß all die erdbebenhaften Ereignisse jener Katastrophe im Geiste solcher Menschen wie unserem Tagebuchschreiber übereinanderstürzten wie Baumstämme. Mit der benommenen Erregung eines Traumes sahen sie sich in Reih und Glied stürzen – buchstäblich stürzen – und erfuhren, daß sofort ein Angriff über den Fluß zu führen sei. General und Major, wurde gemunkelt, hätten an der Brücke etwas herausgefunden, und nun bleibe gerade noch genug Zeit, ums Leben zu kämpfen. Der Major sei sofort zurückgegangen, um die Reserven weiter die Straße hinab heranzuführen; doch sei es zweifelhaft, ob selbst durch so prompten Hilferuf die Hilfe sie noch rechtzeitig erreichen könne. Auf jeden Fall aber müsse man den Fluß bei Nacht überqueren und die Höhe am Morgen angreifen. Und mit der Aufregung und dem Pulsieren des romantischen Nachtmarsches bricht das Tagebuch plötzlich ab.«

Father Brown schritt voran, denn der Waldweg wurde schmaler, steiler und gewundener, bis sie sich vorkamen, als stiegen sie eine Wendeltreppe hinan. Die Stimme des Priesters kam von oben aus der Dunkelheit.

»Da gab es noch einen anderen kleinen ungeheuerlichen Zwischenfall. Als der General sie zu ihrem ritterlichen Angriff drängte, zog er seinen Säbel halb aus der Scheide; und dann, als ob er sich der melodramatischen Geste schämte, stieß er ihn wieder hinein. Wieder der Säbel, sehen Sie.«

Halblicht brach durch das Netzwerk der Zweige über ihnen und warf ihnen den Geist eines Netzes vor die Füße; denn sie stiegen erneut in die schwache Helle der reinen Nacht hinein. Flambeau empfand um sich Wahrheit wie eine Stimmung, aber nicht wie eine Idee. Er antwortete aus verwirrtem Hirn: »Was ist das denn mit dem Säbel? Offiziere tragen gewöhnlich Säbel, oder nicht?«

»Sie werden in modernen Kriegen nicht oft erwähnt«, sagte der andere leidenschaftslos; »aber in dieser Affäre stolpert man überall über diesen gesegneten Säbel.«

»Und was ist damit?« grollte Flambeau; »das ist ein fadenscheiniger Zwischenfall; die Klinge des alten Mannes ist in seiner letzten Schlacht abgebrochen. Natürlich kann man darauf wetten, daß die Zeitungen sich auf so etwas stürzen, wie sie es auch getan haben. Auf all diesen Grabmälern und Dingern wird er an der Spitze abgebrochen gezeigt. Ich hoffe, Sie haben mich nicht auf diese Polarexpedition mitgeschleppt, weil zwei Männer mit einem Blick fürs Malerische St. Clares zerbrochenen Säbel gesehen haben.«

»Nein«, rief Father Brown mit einer Stimme scharf wie ein Pistolenschuß; »aber wer hat seinen unzerbrochenen Säbel gesehen?«

»Was meinen Sie damit?« schrie der andere und blieb unter den Sternen stehen. Jäh waren sie aus den grauen Toren des Waldes hinausgetreten.

»Ich frage, wer seinen unzerbrochenen Säbel gesehen hat«, wiederholte Father Brown hartnäckig. »Jedenfalls nicht der Schreiber des Tagebuches; der General stieß ihn rechtzeitig in die Scheide zurück.«

Flambeau starrte ihn im Mondenlicht an, wie ein Blinder in die Sonne starren mag; und zum erstenmal fuhr sein Freund lebhaft fort:

»Flambeau«, rief er, »ich kann es nicht beweisen, selbst nicht nach dieser Jagd durch die Gräber. Aber ich bin mir dessen sicher. Lassen Sie mich nur noch eine Kleinigkeit hinzufügen, die das ganze Ding aus dem Gleichgewicht bringt. Der Oberst war durch einen merkwürdigen Zufall einer der ersten, die von einer Kugel getroffen wurden. Er wurde getroffen, schon lange bevor die Truppen ins Handgemenge kamen. Aber er sah St. Clares Säbel zerbrochen. Warum war er zerbrochen? Wie war er zerbrochen? Mein Freund, er war bereits vor der Schlacht zerbrochen.«

»Oha!« sagte sein Freund in einer Art verlorener Heiterkeit; »und wo bitte befindet sich das abgebrochene Stück?«

»Das will ich Ihnen sagen«, erwiderte der Priester prompt. »In der nördlichsten Ecke des Friedhofes der protestantischen Kathedrale in Belfast.«

»Tatsächlich?« fragte der andere. »Haben Sie sich danach umgesehen?«

»Ich konnte nicht«, erwiderte Brown mit offenkundigem Bedauern. »Über ihm erhebt sich ein großes Marmordenkmal; ein Denkmal zur Erinnerung an den heroischen Major Murray, der ruhmvoll kämpfend in der berühmten Schlacht am Schwarzen Fluß fiel.«

Flambeau schien plötzlich wieder ins Leben elektrisiert. »Sie meinen«, rief er rauh, »daß General St. Clare Murray haßte und ihn auf dem Schlachtfeld ermordete, weil – «

»Sie sind immer noch voller gütiger und reiner Gedanken«, sagte der andere. »Es war schlimmer als das.«

»Nun gut«, sagte der große Mann, »mein Vorrat an üblen Vorstellungen ist aufgebraucht.«

Der Priester schien wirklich im Zweifel, wo anzufangen, und schließlich sagte er:

»Wo würde ein Weiser ein Blatt verbergen? Im Wald.«

Der andere antwortete nicht.

»Wenn es keinen Wald gibt, muß er einen Wald erschaffen. Und wenn er ein totes Blatt verbergen will, muß er einen toten Wald erschaffen.«

Da war immer noch keine Antwort, und der Priester fügte noch sanfter und leiser hinzu:

»Und wenn ein Mann eine Leiche zu verbergen hat, dann schafft er ein Feld von Leichen, sie darin zu verbergen.«

Flambeau begann voranzustapfen, als könne er keinen Verzug in Zeit oder Raum mehr vertragen; aber Father Brown fuhr fort, als führe er den letzten Satz weiter:

»Sir Arthur St. Clare war, wie ich schon sagte, ein Mann, der seine Bibel las. Das war es, was mit ihm los war. Wann werden die Menschen begreifen, daß es für einen Mann nutzlos ist, seine Bibel zu lesen, wenn er nicht auch aller anderen Bibel liest? Ein Drucker liest eine Bibel auf Setzfehler hin. Ein Mormone liest seine Bibel und findet darin Vielweiberei; ein Christian Scientist liest die seine und findet darin, daß wir keine Arme und Beine haben. St. Clare war ein alter protestantischer Angloindien-Soldat. Nun überlegen Sie mal, was das bedeutet; und lassen Sie um des Himmels willen alle Scheinheiligkeit beiseite. Es könnte einen körperlich eindrucksvollen Mann bedeuten, der unter tropischer Sonne in einer orientalischen Gesellschaft lebt und sich ohne Vernunft und Anleitung in ein orientalisches Buch verliert. Denn natürlich wird er eher das Alte als das Neue Testament lesen. Und natürlich findet er im Alten Testament alles, was er sich wünscht – Wollust, Tyrannei, Verrat. O ja, natürlich war er ein Ehrenmann, wie Sie das nennen. Aber welchen Wert hat es, wenn ein Mann in seiner Verehrung der Ehrlosigkeit Ehrenmann ist?

In jedem der glühenden und verschwiegenen Länder, in die dieser Mann kam, hielt er sich einen Harem, folterte Zeugen, häufte schändliches Gold; aber dazu würde er sicherlich ruhigen Blickes gesagt haben, daß er es zur höheren Ehre Gottes tue. Meine eigene Theologie ist ausreichend ausgedrückt durch die Frage: welchen Gottes? Wie auch immer: Mit solch Bösem ist es so, daß es Tür um Tür in die Hölle öffnet, und in immer kleinere und kleinere Räume. Das ist die wahre Anklage gegen das Verbrechen, daß ein Mann nicht wilder und wilder wird, sondern gemeiner und gemeiner. Bald erstickte St. Clare in Schwierigkeiten aus Bestechungen und Erpressungen; und er brauchte mehr und mehr Bargeld. Und zur Zeit der Schlacht am Schwarzen Fluß war er von Welt zu Welt herabgestürzt an jenen Ort, den Dante als die allerunterste Stufe des Universums beschreibt.«

»Was meinen Sie damit?« fragte sein Freund wiederum.

»Ich meine das«, erwiderte der Kleriker und wies jäh auf eine vom Eis versiegelte Pfütze, die im Mondschein schimmerte. »Erinnern Sie sich, wen Dante in den Kreis aus Eis versetzte?«

»Die Verräter«, sagte Flambeau und erschauerte. Als er sich in der unmenschlichen Landschaft der Bäume mit ihren verhöhnenden und fast obszönen Umrissen umblickte, konnte er sich fast vorstellen, er sei Dante, und der Priester mit der strömenden Stimme war wirklich ein Vergil, der ihn durch ein Land der ewigen Sünden geleitete.

Die Stimme fuhr fort: »Olivier war, wie Sie wissen, eine Don-Quijote-Natur und gestattete weder Geheimdienst noch Spione. Es wurde das also, wie viele andere Dinge, hinter seinem Rücken erledigt. Dafür war mein alter Freund Espado zuständig; er war der grellfarben gekleidete Geck, dem seine Hakennase den Beinamen Geier eintrug. An der Front spielte er den Philantropen, ertastete sich seinen Weg durch die englische Armee und bekam schließlich – o Gott! – ihren einzigen korrupten Mann zu fassen, und das war der Mann an der Spitze. St. Clare brauchte verzweifelt Geld, und zwar ganze Gebirge. Der in Mißkredit geratene Familienarzt drohte mit jenen unerhörten Bloßstellungen, die später begannen und wieder abgebrochen wurden; Geschichten von ungeheuerlichen und vorgeschichtlichen Vorgängen in Park Lane; von Dingen, die ein englischer Protestant tat und die nach Menschenopfern und Sklavenhorden rochen. Geld wurde auch für die Mitgift seiner Tochter benötigt; denn für ihn war der Ruf des Reichtums so süß wie der Reichtum selbst. Er griff nach einem letzten Strohhalm, ließ Brasilien Nachrichten zukommen, und Reichtum strömte ihm zu von den Feinden Englands. Aber außer ihm sprach noch ein anderer Mann mit Espado dem Geier. Irgendwie hatte der dunkle grimme junge Major aus Ulster die scheußliche Wahrheit erraten; und als sie gemeinsam jene Straße hinab zur Brücke hinschritten, erklärte Murray dem General, daß er entweder sofort den Dienst quittieren müsse oder vor ein Kriegsgericht gestellt und erschossen werde. Der General sträubte sich, um Zeit zu gewinnen, bis sie zu dem Saum tropischer Bäume bei der Brücke kamen; und da, am rauschenden Fluß unter sonnenbeschienenen Palmen (ich kann das Bild vor mir sehen), zog der General seinen Säbel und stieß ihn dem Major durch den Leib.«

Die winterliche Straße bog in schneidendem Frost über einen mit grausamen Formen von Buschwerk und Dickicht bestandenen Hang; Flambeau aber kam es vor, als sehe er weit jenseits einen schwachen Schimmer, der nicht von Sternenlicht und Mondenlicht stammte, sondern von einem Feuer, wie es von Menschen gemacht wird. Er beobachtete es weiter, während die Erzählung sich ihrem Ende zuneigte.

»St. Clare war ein Höllenhund, aber er war ein Hund von Rasse. Niemals, das schwöre ich, war er so scharfsichtig und tatkräftig wie damals, da der arme Murray ihm als kalter Klumpen vor den Füßen lag. Niemals war, wie Hauptmann Keith richtig feststellte, der große Mann bei all seinen Triumphen so groß wie in jener letzten, von der Welt verachteten Niederlage. Er sah kalt nach seiner Waffe, um das Blut abzuwischen; er sah, daß die Säbelspitze, die er seinem Opfer zwischen die Schultern gepflanzt hatte, in dessen Körper abgebrochen war. Er sah ganz gelassen, wie durch das Fenster eines Clubs, alles, was folgen mußte. Er sah, daß man den unerklärlichen Leichnam finden mußte; die unerklärliche Säbelspitze herausholen mußte; den unerklärlichen abgebrochenen Säbel bemerken mußte – oder die Abwesenheit eines Säbels. Er hatte getötet, aber nicht Schweigen gewonnen. Doch sein herrischer Geist bäumte sich gegen diesen Schlag ins Gesicht auf – noch gab es einen Ausweg. Er konnte den Leichnam weniger unerklärlich machen. Er konnte einen Hügel Leichname schaffen, um diesen einen zu bedecken. 20 Minuten danach marschierten 800 englische Soldaten in ihren Tod.«

Der wärmere Glanz hinter dem schwarzen Winterwald wurde stärker und heller, und Flambeau schritt aus, um ihn zu erreichen. Auch Father Brown beschleunigte seine Schritte; aber vor allem schien er in seine Geschichte versunken.

»So groß war die Tapferkeit dieses englischen Tausends, und so groß das Genie ihres Befehlshabers, daß, wenn sie sofort den Hügel angegriffen hätten, sogar ihr Wahnsinnsmarsch hätte Erfolg haben können. Aber der böse Geist, der mit ihnen wie mit Bauern spielte, hatte andere Ziele und Gründe. Sie mußten wenigstens so lange in den Sümpfen bei der Brücke bleiben, bis britische Leichname dort ein gewöhnlicher Anblick waren. Und dann die letzte große Szene: der silberhaarige Heilige Soldat, der sein zerbrochenes Schwert übergibt, um weiteres Schlachten zu verhindern. Oh, für ein Stegreifstück war es ausgezeichnet inszeniert. Aber ich glaube (ich kann es nicht beweisen), ich glaube, daß dort in den blutigen Sümpfen jemand zu zweifeln begann – und jemand erriet.«

Er schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Eine Stimme aus dem Nichts flüstert mir zu, daß dieser Mann der Liebhaber war… der Mann, der das Kind des alten Mannes heiraten sollte.«

»Aber was ist mit Olivier und dem Aufhängen?« fragte Flambeau.

»Olivier pflegte seinen Marsch teils aus Ritterlichkeit, teils aus Politik selten mit Gefangenen zu beschweren«, erklärte der Erzähler. »Er ließ meistens alle frei. Er ließ in diesem Fall alle frei.«

»Alle bis auf den General«, sagte der große Mann.

»Alle«, sagte der Priester.

Flambeau runzelte seine schwarzen Brauen. »Ich verstehe immer noch nicht ganz«, sagte er.

»Es gibt noch ein anderes Bild, Flambeau«, sagte Brown mit geheimnisvollem Unterton. »Ich kann es nicht beweisen; aber ich kann mehr tun – ich kann es sehen. Ich sehe, wie am Morgen auf den kahlen sengenden Hügeln das Lager abgebrochen wird und brasilianische Uniformen sich zu Blöcken und Marschkolonnen massieren. Ich sehe das rote Hemd und den langen schwarzen Bart von Olivier, wie er im Winde weht, als der dasteht mit dem breitkrempigen Hut in der Hand. Er sagt dem großen Gegner, den er freiläßt, Lebewohl – dem einfachen, weißköpfigen englischen Veteranen, der ihm im Namen seiner Männer dankt. Die englischen Überreste stehen hinter ihm angetreten; neben ihnen Vorräte und Fahrzeuge für den Rückmarsch. Die Trommeln rollen; die Brasilianer ziehen ab; die Engländer stehen noch wie Statuen und bleiben so, bis das letzte Brummen und Blitzen des Feindes vom tropischen Horizont verschwunden ist. Dann plötzlich ändert sich ihre Haltung, als ob tote Männer zum Leben erwachten; sie wenden ihre 50 Gesichter dem General zu – Gesichter, die unvergeßlich sind.«

Flambeau fuhr zusammen. »Ah«, schrie er. »Sie meinen doch nicht etwa – «

»Ja«, sagte Father Brown mit tiefer und bewegender Stimme.

»Es war eine englische Hand, die den Strick um St. Clares Hals legte; ich glaube, es war die Hand, die den Ring auf seiner Tochter Finger schob. Es waren englische Hände, die ihn zum Baum der Schande schleiften; die Hände von Männern, die ihn angebetet hatten und ihm zum Sieg gefolgt waren. Und es waren englische Seelen (Gott vergebe uns allen und erbarme sich unser!), die auf ihn starrten, wie er da unter der fremden Sonne am grünen Galgen der Palme schwang, und die in ihrem Haß beteten, daß er von ihr in die Hölle stürzen möge.«

Als die beiden den Kamm überquert hatten, brach ihnen das starke rote Licht eines englischen Gasthauses mit roten Vorhängen entgegen. Es stand beiseite der Straße, als sei es in einem Übermaß an Gastfreundlichkeit beiseite getreten. Seine drei Türen standen einladend offen; und selbst da, wo sie standen, konnten sie das Murmeln und Lachen der für eine Nacht glücklichen Menschheit hören.

»Ich brauche Ihnen nicht mehr zu erzählen«, sagte Father Brown. »Sie verurteilten ihn in der Wildnis und vernichteten ihn; und dann, um der Ehre Englands und um seiner Tochter willen, versiegelten sie die Geschichte von der Geldbörse des Verräters und der Säbelspitze des Mörders durch Eid auf ewig. Vielleicht – Gott helfe ihnen – versuchten sie, zu vergessen. Wir jedenfalls wollen versuchen, es irgendwie zu vergessen; hier ist unser Gasthaus.«

»Aus ganzem Herzen«, sagte Flambeau und war gerade dabei, mit langen Schritten in die hellerleuchtete lärmige Bar zu treten, als er zurückfuhr und fast auf die Straße stürzte.

»Sehn Sie sich das an, zum Teufel!« schrie er und wies starr auf das viereckige hölzerne Wirtshausschild, das über der Straße hing. Es zeigte undeutlich den groben Umriß eines Säbels mit verkürzter Klinge; und es war mit falschen altertümlichen Buchstaben beschrieben: »Das Zeichen des zerbrochenen Säbels«.

»Waren Sie darauf nicht vorbereitet?« fragte Father Brown milde. »Er ist der Abgott dieser Landschaft; die Hälfte aller Wirtshäuser und Parks und Straßen sind nach ihm und seiner Geschichte benannt.«

»Ich dachte, wir wären mit diesem Ungeheuer fertig«, rief Flambeau und spie auf die Straße.

»In England wird man nie mit ihm fertig sein«, sagte der Priester und blickte zu Boden, »solange Erz stark bleibt und Stein fortdauert. Seine Marmorstatuen werden die Herzen stolzer, unschuldiger Jungen für Jahrhunderte aufrichten, sein Grab auf dem Dorffriedhof wird nach Loyalität wie nach Lilien duften. Millionen, die ihn nie gekannt haben, werden ihn wie einen Vater lieben – diesen Mann, den die wenigen letzten, die ihn kannten, wie Mist behandelten. Er wird ein Heiliger sein; und die Wahrheit über ihn wird nie erzählt werden, denn ich habe mich endlich entschlossen. Es liegt soviel Gutes wie Böses im Enthüllen von Geheimnissen, daß ich mein Verhalten von einem Versuch abhängig gemacht habe. Alle diese Zeitungen werden untergehen; die Anti-Brasilien-Gesinnung ist schon vorüber; Olivier wird überall sonst geehrt. Aber ich hatte mir vorgenommen, daß wenn irgendwo mit Namen in Metall oder Marmor, die wie die Pyramiden Bestand haben, Oberst Clancy oder Hauptmann Keith oder Präsident Olivier oder sonst ein unschuldiger Mann fälschlich bezichtigt wäre, ich sprechen würde. Wenn aber lediglich St. Clare falsch gepriesen würde, wollte ich schweigen. Und ich werde schweigen.«

Sie tauchten in die Taverne mit den roten Vorhängen ein, die innen nicht nur angenehm, sondern geradezu luxuriös war. Auf einem Tisch stand ein Silbermodell des Grabes von St. Clare, das silberne Haupt gebeugt, der silberne Säbel zerbrochen. An den Wänden waren kolorierte Photographien der gleichen Szene und von den Wagenschlangen, die Touristen zu ihrer Besichtigung herbeischafften. Sie ließen sich auf den bequem gepolsterten Bänken nieder.

»Kommen Sie, es ist kalt«, rief Father Brown; »wir wollen Wein oder Bier trinken.«

»Oder Brandy«, sagte Flambeau.