Die Sünden des Prinzen Saradine

 

Als Flambeau sich seinen Monat Ferien von seinem Büro in Westminster nahm, nahm er ihn in einem kleinen Segelboot, so klein, daß es seine meiste Zeit als Ruderboot verbrachte. Er nahm ihn darüber hinaus auf kleinen Flüssen in den östlichen Grafschaften, so schmalen Flüssen, daß das Boot aussah wie ein Zauberboot, das über Land durch Weiden und Getreidefelder segelt. Das Schiffchen war für gerade zwei Personen bequem; es hatte Platz nur für das Notwendige, und Flambeau hatte es mit solchen Dingen beladen, die seine persönliche Philosophie als notwendig erachtete. Sie beschränkten sich allem Anschein nach auf vier Wesentlichkeiten: Büchsen mit Lachs, falls er essen wollte; geladene Revolver, falls er kämpfen wollte; eine Flasche Weinbrand, vermutlich für den Fall, daß er in Ohnmacht fallen sollte; und einen Priester, vermutlich für den Fall, daß er sterben sollte. Mit diesem leichten Gepäck kroch er die winzigen Flüsse Norfolks hinab in der Absicht, schließlich die Broads zu erreichen, aber in der Zwischenzeit erfreute er sich an den überhängenden Gärten und Weiden, den gespiegelten Herrenhäusern oder Dörfern, lungerte in Tümpeln und Ecken zum Fischen herum und nahm gewissermaßen das Ufer in die Arme.

Wie ein wahrer Philosoph hatte Flambeau während seiner Ferien kein Ziel; aber wie ein wahrer Philosoph hatte er eine Ausrede. Er hatte eine Art von Halbzweck, den er gerade wichtig genug nahm, daß Erfolg die Ferien krönen, doch wieder auch so leicht, daß Mißerfolg sie nicht stören würde. Vor vielen Jahren, als er noch König der Diebe und die berühmteste Erscheinung in Paris war, hatte er oft wilde Zuschriften der Zustimmung, der Verurteilung, selbst der Liebe erhalten; eine davon war auf irgendeine Weise in seiner Erinnerung haftengeblieben. Sie bestand einfach aus einer Visitenkarte in einem Umschlag mit englischer Briefmarke. Auf der Rückseite der Karte stand in Französisch und grüner Tinte geschrieben: »Falls Sie sich je zur Ruhe setzen und ehrbar werden, kommen Sie und besuchen Sie mich. Ich möchte Sie kennenlernen, denn ich habe alle anderen großen Männer meiner Zeit kennengelernt. Jener Trick von Ihnen, den einen Detektiv dazu zu bewegen, den anderen zu verhaften, war die herrlichste Szene der französischen Geschichte.« Auf der Vorderseite der Karte war in der formellen Art eingeprägt: »Prinz Saradine, Schilfhaus, Schilfinsel, Norfolk«.

Damals hatte er sich nicht viel um den Prinzen gekümmert, sondern nur festgestellt, daß er in Süditalien ein glänzender Weltmann gewesen war. In seiner Jugend, hieß es, war er mit einer verheirateten Frau hohen Standes durchgegangen; die Eskapade hatte in seinen Gesellschaftskreisen kaum Aufsehen erregt, aber sie war in der Erinnerung der Leute durch eine mit ihr verbundene Tragödie verblieben: den angeblichen Selbstmord des beleidigten Ehemannes, der sich offenbar in Sizilien eine steile Klippe hinuntergestürzt hatte. Danach lebte der Prinz einige Zeit lang in Wien, aber seine letzten Jahre schienen in ständigem und rastlosem Reisen vergangen zu sein. Nachdem Flambeau nun, wie der Prinz auch, den Ruhm Europas verlassen und sich in England niedergelassen hatte, war es ihm in den Sinn gekommen, daß er diesem hervorragenden Exilanten in den Broads von Norfolk einen Überraschungsbesuch abstatten könnte. Er hatte keine Ahnung, ob er den Ort finden würde; und wahrlich war er dazu klein und vergessen genug. Aber wie sich herausstellen sollte, fand er ihn viel früher als erwartet.

Eines Abends hatten sie ihr Boot unter einem Ufer festgemacht, das sich in langem Gras und kurzgekappten Bäumen verbarg. Schlaf war nach schwerem Rudern früh zu ihnen gekommen, und einem entsprechenden Zufall zufolge erwachten sie, bevor es hell war. Um genauer zu sein, sie erwachten vor Tagesanbruch; denn ein großer zitronengelber Mond versank gerade erst in dem Wald aus hohem Gras zu ihren Häuptern, und der Himmel war von einem lebendigen Blauviolett, nächtlich, aber hell. Beiden Männern kamen gleichzeitig Erinnerungen an ihre Kindheit, an die Zeit der Elfen und Abenteuer, als sich hohe Gräser über ihnen wie Wälder schlossen. So gegen den großen niedrigen Mond sahen die Gänseblümchen aus wie riesige Gänseblümchen, die Löwenzähne wie riesige Löwenzähne. Irgendwie erinnerte sie das an die Bilderstreifen auf den Kinderzimmertapeten. Die Ebbe im Flußbett reichte aus, sie unter die Wurzeln aller Büsche und Blumen sinken und zu den Gräsern aufschauen zu lassen.

»Bei Gott!« sagte Flambeau; »das ist wie im Märchenland.«

Father Brown setzte sich im Boot kerzengerade auf und bekreuzigte sich. Seine Bewegung war so jäh, daß sein Freund ihn mit einem milden Erstaunen fragte, was denn los sei.

»Die Leute, die die mittelalterlichen Balladen schrieben«, antwortete der Priester, »wußten mehr über Märchenwesen als Sie. Im Märchenland ereignen sich nicht nur nette Dinge.«

»Ach Unfug!« sagte Flambeau. »Unter so einem unschuldigen Mond können sich nur nette Dinge ereignen. Ich bin dafür, daß wir weiterfahren und nachsehen, was da wirklich ist. Wir könnten sterben und vermodern, ehe wir noch einmal einen solchen Mond oder eine solche Stimmung erleben.«

»In Ordnung«, sagte Father Brown. »Ich habe nie gesagt, daß es immer falsch ist, ins Märchenland zu gehen. Ich habe nur gesagt, daß es immer gefährlich ist.«

Langsam ruderten sie den erwachenden Fluß hinan; das glühende Violett des Himmels und das blasse Gold des Mondes wurden schwächer und schwächer und verblaßten in jenen weiten farblosen Kosmos, der den Farben der Morgendämmerung vorangeht. Als die ersten schwachen Streifen aus Rot und Gold und Grau den Horizont von einem Ende zum anderen spalteten, brachen sie sich an der schwarzen Masse einer Stadt oder eines Dorfes, die gerade vor ihnen über dem Fluß hockte. Es herrschte bereits ein leichtes Zwielicht, in dem alle Dinge sichtbar waren, als sie unter den überhängenden Dächern und den Brücken dieser Flußufersiedlung ankamen. Die Häuser mit ihren langen, niedrigen, krummen Dächern schienen wie große graue und rotbunte Kühe zum Fluß hinabzusteigen, um zu trinken. Das heller und weißer werdende Licht der Dämmerung hatte sich bereits in volles Tageslicht verwandelt, ehe sie das erste Lebewesen auf Ufern oder Brücken dieser schweigenden Stadt sahen. Schließlich sahen sie einen sehr gelassenen und behäbigen Mann in Hemdsärmeln, mit einem Antlitz so rund wie der jüngst versunkene Mond und mit rötlichen Bartstrahlen um seinen unteren Bogen, der sich auf einen Pfosten über der trägen Strömung stützte. Aus einem nicht erklärbaren Impuls heraus erhob Flambeau sich in dem schwankenden Boot zu seiner vollen Höhe und rief den Mann an, ob er die Schilfinsel oder das Schilfhaus kenne. Das Lächeln des behäbigen Mannes wuchs noch um einiges in die Breite, und er wies einfach den Fluß hinauf in Richtung seiner nächsten Krümmung. Flambeau fuhr ohne weitere Worte weiter.

Das Boot umrundete viele grasige Ecken und befuhr viele schilfige und schweigende Flußstrecken; ehe aber die Suche anfing langweilig zu werden, schwangen sie sich um eine besonders scharfe Krümmung und liefen in das Schweigen einer Art Teich oder See ein, dessen Anblick sie instinktiv anhalten ließ. Denn inmitten dieser weiten Wasserfläche, die ringsum von Binsen eingefaßt war, lag ein langes niedriges Inselchen, auf dem sich ein langes niedriges Haus hinzog, ein Bungalow aus Bambus erbaut, oder aus irgendeinem anderen zähen Tropenholz. Die senkrechten Bambusstangen, die die Wände bildeten, waren blaßgelb, die schrägen Stangen, die das Dach bildeten, waren von dunklerem Rot oder Braun, im übrigen war das lange Haus ein einförmiges und eintöniges Ding. Die frühe Morgenbrise raschelte im Ried rund um das Inselchen und sang auf dem sonderbar gerippten Haus wie auf einer riesigen Pansflöte.

»Bei Gott!« schrie Flambeau. »Endlich am Ziel! Das hier ist die Schilfinsel, wenn es je eine gegeben hat. Hier ist das Schilfhaus, wenn es das überhaupt irgendwo gibt. Ich glaube, der fette Mann mit der Bartkrause war eine Fee.«

»Vielleicht«, merkte Father Brown unparteiisch an. »Wenn er eine war, dann war er eine böse Fee.«

Aber während er noch sprach, hatte der ungeduldige Flambeau sein Boot im rauschenden Ried ans Ufer gelegt, und sie standen auf der langen sonderbaren Insel neben dem alten und schweigenden Haus.

Das Haus stand, wie sich ergab, mit der Rückseite zum Fluß und zum einzigen Landesteg; der Haupteingang war auf der anderen Seite und blickte auf den langen Inselgarten hinab. Die Besucher näherten sich ihm also auf einem schmalen Pfade, der nahezu drei Seiten des Hauses umrundete, dicht unter der niedrigen Dachrinne. Durch drei verschiedene Fenster auf drei verschiedenen Seiten blickten sie in den gleichen langen hellen Raum, getäfelt mit hellem Holz und vielen Spiegeln, und wie für ein elegantes Gabelfrühstück hergerichtet. Die Vordertür war, als sie sie endlich erreichten, von zwei türkisblauen Blumentöpfen flankiert. Sie wurde von einem Butler des griesgrämigen Typs – groß, mager, grau und schlaff – geöffnet, der murmelte, daß Prinz Saradine gegenwärtig nicht anwesend sei, aber stündlich erwartet werde; das Haus sei in Bereitschaft für ihn und seine Gäste. Die Vorweisung der Karte mit dem Gekritzel in grüner Tinte erweckte einen Lebensfunken im pergamentenen Gesicht dieses melancholischen Verwesers, und mit einer gewissen zittrigen Höflichkeit schlug er vor, daß die Fremden bleiben sollten. »Seine Hoheit kann jede Minute hier sein«, sagte er, »und würde betrübt sein, daß er einen Herrn verpaßt hätte, den er eingeladen hat. Wir haben Anweisung, immer eine kleine kalte Mahlzeit für ihn und seine Freunde bereitzuhalten, und ich bin sicher, er wünscht, daß sie jetzt angeboten wird.«

Neugierig auf den Weitergang dieses kleinen Abenteuers, nahm Flambeau mit Würde an und folgte dem alten Mann, der ihn zeremoniös in den langen, hell getäfelten Raum geleitete. Daran war nichts besonders Bemerkenswertes außer der ziemlich ungewöhnlichen Wechselfolge von vielen langen und tiefreichenden Fenstern mit vielen langen und tiefreichenden ovalen Spiegeln, was dem Raum etwas einzigartig Leichtes und Wesenloses verlieh. Es war irgendwie, als speiste man im Freien. Ein oder zwei ruhige Bilder hingen in den Ecken: eines eine große graue Photographie eines sehr jungen Mannes in Uniform, ein anderes eine Rötelskizze von zwei langhaarigen Knaben. Als Flambeau fragte, ob die soldatische Person der Prinz sei, verneinte der Butler kurz; das sei des Prinzen jüngerer Bruder, Hauptmann Stephen Saradine, sagte er. Und damit schien der alte Mann plötzlich einzutrocknen und jeden Geschmack an einer Unterhaltung zu verlieren.

Nachdem das Gabelfrühstück mit ausgezeichnetem Kaffee und ausgezeichneten Likören abgerundet war, ward den Gästen der Garten gezeigt, die Bibliothek und die Haushälterin – eine dunkle schöne Dame von nicht geringer Majestät, fast eine plutonische Madonna. Es schien, daß sie und der Butler die einzigen Überlebenden des ursprünglichen ausländischen Haushalts des Prinzen waren, da alle übrigen Dienstboten im Haus neu und von der Haushälterin in Norfolk zusammengeholt worden waren. Diese Dame hörte auf den Namen Frau Anthony, aber sie sprach mit einem leichten italienischen Akzent, und Flambeau hatte keinerlei Zweifel, daß Anthony die Norfolk-Version eines lateinischeren Namens war. Mr. Paul, der Butler, hatte ebenfalls ein leicht ausländisches Aussehen, war aber in Sprache und Ausbildung englisch, wie viele der vollkommensten Diener des kosmopolitischen Adels.

So reizvoll und eigenartig das Anwesen auch war, es war doch von einer merkwürdigen leuchtenden Traurigkeit umfangen. Stunden verrannen in ihm wie Tage. Die langen fensterreichen Räume waren von Tageslicht erfüllt, aber es schien wie totes Tageslicht. Und durch alle anderen zufälligen Geräusche hindurch, das Gemurmel des Gesprächs, das Klirren der Gläser, die vorübereilenden Füße der Dienerschaft, konnten sie rings um das Haus das melancholische Geräusch des Flusses hören.

»Wir haben eine falsche Biegung genommen und sind an einen falschen Platz gekommen«, sagte Father Brown und blickte aus dem Fenster auf das graugrüne Riedgras und die silberne Strömung. »Macht nichts, manchmal kann man Gutes bewirken, indem man die richtige Person am falschen Platz ist.«

Father Brown, obwohl im allgemeinen schweigsam, war ein ungewöhnlich einfühlsamer kleiner Mann, und so sank er in jenen wenigen aber endlosen Stunden unbewußt tiefer in die Geheimnisse des Schilfhauses ein als sein Freund, der Detektiv von Beruf. Er besaß jene Gabe des freundlichen Schweigens, die so wichtig für Klatsch ist; und indem er kaum ein Wort sprach, erfuhr er von seinen neuen Bekannten wahrscheinlich alles, was sie überhaupt zu erzählen bereit waren. Natürlich war der Butler nicht mitteilsam. Er verriet eine mürrische, fast animalische Anhänglichkeit an seinen Herrn, dem, wie er sagte, sehr übel mitgespielt worden sei. Der Hauptübeltäter schien Seiner Hoheit Bruder zu sein, dessen Name allein schon die hohlen Wangen des Alten länger werden und seine Papageiennase sich höhnisch verziehen ließ. Hauptmann Stephen war offenbar ein Tunichtgut und hatte seinen wohlwollenden Bruder um Hunderte und Tausende erleichtert; ihn gezwungen, aus dem mondänen Leben zu flüchten und ruhig in dieser Zurückgezogenheit zu leben. Das war alles, was Paul der Butler zu sagen bereit war, und Paul war offensichtlich Partei.

Die italienische Haushälterin ging etwas mehr aus sich heraus, vermutlich war sie, stellte Brown sich vor, etwas weniger zufrieden. In der Sprache über ihren Herrn war einige Schärfe, zugleich aber auch eine gewisse Ehrfurcht. Flambeau und sein Freund standen in dem Raum mit den Spiegeln und betrachteten die Rötelskizze der beiden Knaben, als die Haushälterin aus irgendwelchen häuslichen Gründen hereingeeilt kam. Es gehörte zu den Eigentümlichkeiten dieses glitzernden, spiegelgetäfelten Raumes, daß jeder, der ihn betrat, in vier oder fünf Spiegeln zugleich gespiegelt wurde; und Father Brown brach, ohne sich umzuwenden, mitten in einem Satz der Familienkritik ab. Aber Flambeau, der das Gesicht unmittelbar vor das Bild hielt, sagte gerade mit lauter Stimme: »Ich vermute, die Brüder Saradine. Beide sehen unschuldig genug aus. Es wäre schwer zu sagen, welcher der gute Bruder ist und welcher der böse.« Dann wurde ihm die Anwesenheit der Dame bewußt, und er gab dem Gespräch eine harmlose Wendung und schlenderte in den Garten hinaus. Father Brown aber blickte weiter mit ruhigem Blick auf die Rötelskizze; und Frau Anthony blickte weiter mit ruhigem Blick auf Father Brown.

Sie hatte große und tragische braune Augen, und ihr olivenes Gesicht glühte dunkel in einer merkwürdigen und peinlichen Verwunderung – wie bei jemandem, der über Identität und Absicht eines Fremden im Zweifel ist. Ob nun des kleinen Priesters Gewand und Glaube irgendwelche südlichen Beichterinnerungen in ihr berührten oder ob sie sich einbildete, er wisse mehr als er tat, jedenfalls sagte sie mit leiser Stimme zu ihm wie zu einem Mitverschworenen: »Auf seine Weise hat er schon recht, Ihr Freund. Er sagte, es wäre schwer, den guten und den bösen Bruder herauszufinden. Oh, es wäre schwer, es wäre sehr schwer, den guten Bruder herauszufinden.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Father Brown und begann, sich langsam abzuwenden.

Die Frau tat einen Schritt auf ihn zu, mit finsteren Augenbrauen und auf wilde Weise nach vorn gebeugt, wie ein Stier, der seine Hörner senkt.

»Es gibt keinen guten«, zischte sie. »Es war schlecht von dem Hauptmann, all das Geld zu nehmen, aber ich glaube nicht, daß es gut vom Prinzen war, es zu geben. Der Hauptmann ist nicht der einzige, der etwas auf dem Gewissen hat.«

Im abgewandten Gesicht des Klerikers begann ein Licht aufzuleuchten, und sein Mund formte schweigend das Wort »Erpressung«. Doch noch während er das tat, wandte die Frau ein plötzlich schneeweißes Gesicht über die Schulter und brach fast zusammen. Die Tür hatte sich geräuschlos geöffnet, und in ihr stand wie ein Geist der fahle Paul. Durch den unheimlichen Trick der Spiegelwände schien es, als seien fünf Pauls durch fünf Türen gleichzeitig eingetreten.

»Seine Hoheit«, sagte er, »ist soeben eingetroffen.«

Im gleichen Augenblick kam die Gestalt eines Mannes draußen an dem ersten Fenster vorbei und kreuzte die von der Sonne beschienene Scheibe wie eine beleuchtete Bühne. Einen Moment später kam er am zweiten Fenster vorbei, und die vielen Spiegel spiegelten in aufeinanderfolgenden Rahmen das gleiche Adlerprofil und die gleiche marschierende Gestalt. Er ging aufrecht und lebhaft, aber sein Haar war weiß und sein Teint von einem merkwürdigen Elfenbeingelb. Er hatte jene kurze gebogene römische Nase, die gewöhnlich hagere Wangen und hageres Kinn begleiten, aber die waren zum Teil von Schnurrbart und Zwickelbart bedeckt. Der Schnurrbart war viel dunkler als der Bart, was einen leicht theatralischen Effekt ergab, und auch seine Kleidung reichte ans Übertriebene, mit weißem Zylinder, einer Orchidee im Knopfloch, einer gelben Weste und gelben Handschuhen, die er im Gehen hin und her schwang und flappte. Als er zur Vordertür einbog, hörten sie den steifen Paul sie öffnen und hörten den Neuankömmling fröhlich sagen: »Alsdann, hier bin ich.« Der steife Paul verneigte sich und antwortete in seiner unhörbaren Art; während einiger Minuten konnte man ihre Unterhaltung nicht vernehmen. Dann sagte der Butler: »Alles steht zur Verfügung«; und der handschuhflappende Prinz Saradine kam heiter in den Raum, sie zu begrüßen. Und erneut erblickten sie die gespenstische Szene – fünf Prinzen betraten einen Raum mit fünf Türen.

Der Prinz legte den weißen Zylinder und die Handschuhe auf den Tisch und bot ihnen herzlich die Hand.

»Entzückt, Sie hier zu sehen, Mr. Flambeau«, sagte er. »Kenn Sie Ihrem Ruf nach sehr gut, wenn das keine taktlose Bemerkung ist.«

»Keineswegs«, antwortete Flambeau lachend. »Ich bin da nicht empfindlich. Nur selten wird ein Ruf durch unbefleckte Tugend erworben.«

Der Prinz warf ihm einen scharfen Blick zu, um zu sehen, ob diese Bemerkung eine persönliche Spitze berge; dann lachte er auch, bot allen Stühle an und nahm selbst Platz.

»Netter kleiner Platz hier«, sagte er mit unbekümmerter Miene. »Nicht viel zu tun leider; aber das Fischen ist wirklich gut.«

Den Priester, der ihn mit dem ernsten Blick eines Säuglings anstarrte, suchte irgendeine vage Ahnung heim, die sich jeder Beschreibung entzog. Er sah das graue, sorgfältig gekräuselte Haar an, das gelbweiße Gesicht, die schlanke, etwas stutzerhafte Gestalt. Alles das war nicht unnatürlich, wenngleich vielleicht etwas zu akzentuiert, wie die Ausstattung einer Gestalt hinter den Rampenlichtern. Das namenlose Interesse lag woanders, im Knochenbau des Gesichtes; Brown quälte die halbe Erinnerung daran, es irgendwo zuvor gesehen zu haben. Der Mann sah aus wie ein alter Bekannter, der sich verkleidet hat. Dann dachte er an die Spiegel und führte seine Ahnung auf irgendwelche psychologischen Effekte jener Multiplikation menschlicher Masken zurück.

Prinz Saradine verteilte seine gesellschaftlichen Aufmerksamkeiten zwischen seinen Gästen mit großer Fröhlichkeit und feinem Takt. Als er entdeckte, daß der Detektiv sportlichen Ehrgeiz hatte und seine Ferien gerne nutzen wollte, geleitete er Flambeau und Flambeaus Boot zum besten Fischplatz im Fluß und war in seinem eigenen Kanu zwanzig Minuten später zurück, um sich Father Brown in der Bibliothek anzuschließen und sich mit gleicher Höflichkeit in die mehr philosophischen Vergnügungen des Priesters zu stürzen. Er schien von beidem viel zu wissen, vom Fischen und von Büchern, wenngleich bei diesen nicht eben viel von den erbaulichen; er sprach fünf oder sechs Sprachen, wenngleich meist nur ihren Slang. Er hatte offenkundig in vielen Städten und vielerlei gemischter Gesellschaft gelebt, denn einige seiner amüsantesten Geschichten handelten von Spielhöllen und Opiumhöhlen, von australischen Buschräubern oder italienischen Banditen. Father Brown wußte, daß der einst gefeierte Saradine die letzten Jahre auf fast ununterbrochenen Reisen verbracht hatte, aber er hatte nicht geahnt, daß diese Reisen so unrühmlich oder so amüsant gewesen waren.

Und wirklich strahlte Prinz Saradine trotz all seiner weltmännischen Würde für einen so empfindsamen Beobachter wie den Priester eine gewisse Atmosphäre der Unruhe und selbst der Unzuverlässigkeit aus. Sein Gesicht war stolz, aber sein Blick ungezügelt; er hatte kleine nervöse Ticks wie ein von Drink oder Droge erschütterter Mann; und er hatte auch nicht, und gab es nicht einmal vor, die Hand am Steuer seines Haushaltes. Das überließ er seinen beiden alten Dienstboten, vor allem dem Butler, der offenkundig die tragende Säule des Hauses war. Mr. Paul war tatsächlich nicht so sehr ein Butler, als vielmehr eine Art Haushofmeister oder gar Großkämmerer; er speiste allein, aber mit fast dem gleichen Pomp wie sein Herr; er wurde von allen Dienstboten gefürchtet; und er verhandelte mit dem Prinzen zwar ehrerbietig, aber irgendwie unnachgiebig – eher so, als wäre er des Prinzen Rechtsanwalt. Die düstere Haushälterin war im Vergleich dazu nur ein Schatten; tatsächlich schien sie sich selbst auszulöschen und nur den Butler zu bedienen, und Brown hörte keines jener vulkanischen Geflüster mehr, die die halbe Geschichte des jüngeren Bruders erzählt hatten, der den älteren erpreßte. Ob der Prinz wirklich von dem abwesenden Hauptmann so ausgeblutet wurde, dessen konnte er nicht sicher sein, aber da war etwas Unsicheres und Heimliches um Saradine, das die Erzählung keineswegs unglaubhaft machte.

Als sie ein weiteres Mal in die lange Halle mit den Fenstern und den Spiegeln gingen, sank bereits goldener Abendschein auf das Wasser und die Weiden am Ufer, und eine Rohrdommel schlug in der Ferne wie ein Elf auf seiner Zwergentrommel. Und wieder durchzog jenes eigenartige Gefühl eines traurigen und bösen Märchenlandes die Seele des Priesters wie eine graue Wolke. »Ich wollte, Flambeau wäre zurück«, murmelte er.

»Glauben Sie an das Verhängnis?« fragte der ruhelose Prinz Saradine plötzlich.

»Nein«, antwortet sein Gast. »Ich glaube an das verhängte Jüngste Gericht.«

Der Prinz wandte sich vom Fenster ab und starrte ihn auf sonderbare Weise an, sein Gesicht im Schatten vor dem Sonnenuntergang. »Was meinen Sie damit?« fragte er.

»Ich meine, daß wir uns hier auf der falschen Seite der Tapete befinden«, sagte Father Brown. »Die Dinge, die sich hier ereignen, scheinen nichts zu bedeuten; sie bedeuten irgendwas irgendwoanders. Irgendwoanders trifft den wahren Schuldigen die Vergeltung. Hier scheint sie oft den Falschen zu treffen.«

Der Prinz gab ein unerklärliches Geräusch von sich wie ein Tier; in seinem verschatteten Gesicht leuchteten seine Augen seltsam. Eine neue und scharfsinnige Überlegung brach sich plötzlich im Geist des anderen Bahn. Gab es etwa eine andere Bedeutung für die Mischung von Glanz und Schroffheit in Saradine? War der Prinz – war er ganz gesund? Er wiederholte »Den Falschen – den Falschen« viel öfter, als es im Rahmen eines gesellschaftlichen Gespräches natürlich war.

Und dann erwachte Father Brown zögernd zu einer zweiten Wahrheit. In den Spiegeln vor ihm konnte er die lautlose Tür offenstehen und den lautlosen Mr. Paul in ihr stehen sehen mit seiner üblichen blassen Unempfindlichkeit.

»Es erschien mir richtig, sofort mitzuteilen«, sagte er mit der steifen Ehrerbietung eines alten Familienanwaltes, »daß ein von sechs Männern gerudertes Boot am Landesteg angelegt hat und daß ein Gentleman im Heck sitzt.«

»Ein Boot?« wiederholte der Prinz. »Ein Gentleman?«, und er stand auf.

Da war ein erschrecktes Schweigen, das nur von dem eigentümlichen Geräusch des Vogels in den Binsen durchlöchert wurde; und dann glitt, ehe noch jemand wieder sprechen konnte, ein neues Gesicht, eine neue Gestalt im Profil an den drei sonnendurchleuchteten Fenstern vorüber, wie der Prinz vor ein oder zwei Stunden. Aber abgesehen von dem Zufall, daß beide Profile adlerhaft geschnitten waren, hatten sie wenig Gemeinsames. An der Stelle von Saradines neuem weißem Zylinder befand sich ein schwarzer von antiquierter oder ausländischer Form; darunter war ein junges und sehr ernstes Gesicht, glattrasiert, bläulich um das entschlossene Kinn, und leise an den jungen Napoleon erinnernd. Diese Gedankenverbindung wurde noch dadurch gestützt, daß es etwas Altmodisches und Ausgefallenes in seiner ganzen Ausstattung gab, als habe der Mann sich niemals die Mühe gemacht, die Mode seines Vaters zu ändern. Er trug einen abgewetzten blauen Frack, eine rote soldatische Weste, eine weiße Hose aus grobem Stoff, wie sie bei den frühen Viktorianern üblich war, doch heutigentags seltsam unpassend ist. Aus diesem ganzen Altkleiderladen hob sich sein olivbraunes Gesicht seltsam jung und schrecklich aufrichtig heraus.

»Zum Teufel!« sagte der Prinz Saradine, stülpte sich seinen weißen Hut auf und ging selbst zur Eingangstür, die er zum Garten mit Sonnenuntergang hin aufstieß.

Zu diesem Zeitpunkt hatten sich der Neuankömmling und seine Begleitung auf dem Rasen aufgestellt wie ein kleines Bühnenheer. Die sechs Ruderer hatten ihr Boot weit aufs Ufer hinaufgezogen und bewachten es geradezu bedrohlich, indem sie ihre Ruder aufrecht hielten wie Speere. Es waren dunkelhäutige Männer, und manche von ihren trugen Ohrringe. Doch einer von ihnen war vorgetreten und stand neben dem olivgesichtigen jungen Mann in der roten Weste und trug einen großen Kasten von ungewöhnlicher Form.

»Ihr Name«, fragte der junge Mann, »ist Saradine?«

Saradine stimmte ziemlich gleichgültig zu.

Der Neuankömmling hatte stumpfe braune Hundeaugen, so unterschiedlich wie nur möglich von den rastlosen und glitzernden grauen Augen des Prinzen. Doch wieder wurde Father Brown von einem Gefühl gequält, er habe irgendwo schon einmal ein Ebenbild dieses Gesichtes gesehen; und wieder erinnerte er sich der Wiederholungen in dem spiegelgetäfelten Raum, und er führte den Zufall darauf zurück. »Zum Kuckuck mit diesem Kristallpalast!« murmelte er. »Man sieht alles zu oft. Wie in einem Traum.«

»Wenn Sie Prinz Saradine sind«, sagte der junge Mann, »darf ich Ihnen mitteilen, daß mein Name Antonelli ist.«

»Antonelli«, wiederholte der Prinz matt. »Irgendwoher erinnere ich mich an diesen Namen.«

»Erlauben Sie mir, mich vorzustellen«, sagte der junge Italiener.

Mit der Linken nahm er höflich seinen altmodischen Zylinder ab; mit der Rechten verpaßte er Prinz Saradine eine so schallende Ohrfeige, daß der weiße Zylinder die Treppenstufen hinabrollte und einer der blauen Blumentöpfe auf seinem Piedestal ins Wanken geriet.

Der Prinz, was immer sonst er war, war offensichtlich kein Feigling; er sprang seinem Gegner an die Gurgel und schleuderte ihn fast rücklings ins Gras. Aber sein Gegner befreite sich mit einer einzigartig unangemessenen Miene eilfertiger Höflichkeit.

»Schon recht«, sagte er, keuchend und in stockendem Englisch. »Ich habe beleidigt. Ich will Satisfaktion geben. Marco, öffne den Kasten.«

Der Mann neben ihm mit den Ohrringen und dem großen schwarzen Kasten machte sich daran, ihn aufzuschließen. Er entnahm ihm zwei lange italienische Stoßdegen mit herrlichen stählernen Griffen und Klingen, die er mit den Spitzen in den Rasen pflanzte. Der fremdartige junge Mann, der mit seinem gelben rachsüchtigen Gesicht zum Eingang hin stand, die beiden Degen, die im Rasen aufrecht wie zwei Kreuze auf dem Friedhof standen, und die Linie der aufgereihten Ruderer dahinter gaben dem allem den eigentümlichen Ausdruck einer barbarischen Gerichtsstätte. Aber alles andere war unverändert, so plötzlich war die Unterbrechung geschehen. Das Gold des Sonnenunterganges glühte noch auf dem Rasen, und die Rohrdommel dommelte noch immer, als ob sie ein kleines, aber schreckliches Schicksal ankündige.

»Prinz Saradine«, sagte der Mann namens Antonelli; »als ich ein Kind in der Wiege war, töteten Sie meinen Vater und stahlen meine Mutter; mein Vater war der Glücklichere. Sie haben ihn nicht in ehrlichem Kampfe getötet, wie ich Sie jetzt töten werde. Sie und meine lasterhafte Mutter fuhren mit ihm zu einem einsamen Paß auf Sizilien, stürzten ihn eine Klippe hinab und gingen Ihrer Wege. Ich hätte Sie nachahmen können, wenn ich wollte, aber Sie nachzuahmen ist zu verächtlich. Ich bin Ihnen um die ganze Welt gefolgt, und Sie sind immer wieder vor mir geflohen. Aber hier ist das Ende der Welt – und Ihres. Nun habe ich Sie, und ich biete Ihnen die Chance, die Sie meinem Vater nie gaben. Wählen Sie einen dieser Degen.«

Prinz Saradine schien mit zusammengezogenen Brauen einen Augenblick zu zögern, aber ihm klangen die Ohren immer noch von dem Schlag, und er sprang vor und packte einen der Griffe. Father Brown war ebenfalls vorgesprungen, bemüht, den Streit zu schlichten; aber bald erkannte er, daß seine Anwesenheit die Angelegenheit nur schlimmer machte. Saradine war französischer Freimaurer und glühender Atheist, und ein Priester bewegte ihn durch das Gesetz des Gegensatzes nur vorwärts. Und was den anderen Mann anging, so bewegte ihn weder Priester noch Laie. Dieser junge Mann mit dem napoleonischen Antlitz und den braunen Augen war etwas viel Strengeres als ein Puritaner – er war ein Heide. Er war ein einfacher Töter aus der Frühzeit der Erde; ein Mann der Steinzeit – ein Mann aus Stein.

Nur eine Hoffnung blieb noch, der Aufruf des Haushaltes; und Father Brown rannte zurück ins Haus. Dort aber entdeckte er, daß allen Unterbediensteten vom autokratischen Paul ein Ferientag auf dem Festland gegeben worden war und daß sich lediglich die düstere Frau Anthony ruhelos durch die langen Räume bewegte. In dem Augenblick aber, in dem sie ihm ihr geisterbleiches Gesicht zuwandte, löste er eines der Rätsel des Hauses der Spiegel. Die schweren braunen Augen Antonellis waren die schweren braunen Augen von Frau Anthony, und blitzartig erkannte er die Hälfte der Geschichte.

»Ihr Sohn ist draußen«, sagte er, ohne Worte zu verschwenden; »entweder wird er getötet, oder der Prinz. Wo ist Mr. Paul?«

»Er ist am Landungssteg«, sagte die Frau schwach. »Er ist – er ist – er signalisiert um Hilfe.«

»Frau Anthony«, sagte Father Brown tiefernst, »jetzt ist nicht die Zeit für Unsinn. Mein Freund ist mit seinem Boot den Fluß hinab zum Angeln. Ihres Sohnes Boot wird von Ihres Sohnes Männern bewacht. Da ist nur noch dieses eine Kanu; was macht Mr. Paul mit ihm?«

»Santa Maria! Ich weiß es nicht«, sagte sie; und brach bewußtlos der Länge nach auf den Boden nieder.

Father Brown hob sie auf ein Sofa, schüttete einen Topf Wasser über sie, rief nach Hilfe und rannte dann hinab zum Landungssteg der kleinen Insel. Aber das Kanu war schon inmitten des Flusses, und der alte Paul ruderte und stieß es flußauf mit einer für seine Jahre unglaublichen Energie.

»Ich will meinen Herrn retten«, schrie er, und seine Augen glommen wie die eines Wahnsinnigen. »Ich werde ihn noch retten!«

Father Brown konnte nicht mehr tun, als dem Boot nachzustarren, wie es sich flußauf kämpfte, und beten, daß der alte Mann die kleine Stadt noch rechtzeitig alarmieren könne.

»Ein Duell ist schlimm genug«, murmelte er und fuhr sich durch sein borstiges staubfarbenes Haar, »aber da ist etwas falsch mit diesem Duell, sogar als Duell. Ich spür es in den Knochen. Aber was kann das sein?«

Als er so dastand und ins Wasser starrte, in den wabernden Spiegel des Sonnenuntergangs, hörte er vom anderen Ende des Inselgartens ein leises aber unverkennbares Geräusch – das kalte Klirren von Stahl. Er wandte den Kopf.

Weit draußen an der fernsten Spitze der langen Insel hatten auf einem Rasenstreifen hinter der letzten Rosenreihe die Duellanten die Degen gekreuzt. Der Abend über ihnen war ein Dom aus jungfräulichem Gold, und so ferne sie auch waren, eine jede Einzelheit blieb klar erkennbar. Sie hatten ihre Röcke abgeworfen, aber die gelbe Weste und das weiße Haar Saradines, die rote Weste und die weißen Hosen Antonellis schimmerten im waagrechten Licht wie die Farben tanzender Aufziehpuppen. Die beiden Degenspitzen funkelten von der Spitze zum Knauf wie zwei Diamantnadeln. Es war etwas Fürchterliches an den beiden Gestalten, die da so klein erschienen und so fröhlich. Sie sahen aus wie zwei Schmetterlinge, die einander auf Korken zu spießen versuchten.

Father Brown rannte so schnell er nur konnte, seine kurzen Beine wirbelten wie Räder. Aber als er zum Kampfplatz kam, sah er, daß er zu spät und zu früh kam – zu spät, um den Kampf im Schatten der grimmen Sizilianer noch zu verhindern, die sich auf ihre Ruder lehnten, und zu früh, um den tödlichen Ausgang vorauszuerkennen. Denn beide Männer waren einander einzigartig ebenbürtig, wobei der Prinz seine Geschicklichkeit mit einer Art zynischen Vertrauens einsetzte, der Sizilianer die seine mit mörderischer Sorgfalt. Selten sah man feineres Fechten in vollen Amphitheatern als jenes, das hier auf dieser vergessenen Insel im schilfreichen Strom klirrte und funkelte. Der verwirrende Kampf verblieb so lange im Gleichgewicht, daß Hoffnung sich wieder im protestierenden Priester regte; nach aller gewöhnlichen Wahrscheinlichkeit mußte Paul bald mit der Polizei kommen. Es wäre auch schon eine Erleichterung, wenn Flambeau vom Angeln zurückkäme, denn Flambeau war, körperlich gesprochen, vier andere Männer wert. Aber da war kein Anzeichen von Flambeau und, was noch eigenartiger war, kein Anzeichen von Paul oder der Polizei. Kein Floß war da, kein Balken zurückgeblieben, darauf zu treiben; auf jener verlorenen Insel in jenem weiten namenlosen Teich waren sie so abgeschnitten wie auf einem Felsen im Pazifik.

Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, als das Klirren der Rapiere sich zu einem Rattern beschleunigte, die Arme des Prinzen hochflogen und die Spitze hinten zwischen seinen Schulterblättern hervorschoß. Er stürzte in einer großen wirbelnden Bewegung, ähnlich einem, der ein halbes Rad schlägt. Der Degen flog aus seiner Hand wie eine Sternschnuppe und tauchte in den fernen Fluß; und er selbst krachte mit so erderschütternder Masse zu Boden, daß er mit seinem Körper einen großen Rosenstock zerbrach und eine Wolke roten Erdenstaubs in den Himmel hochschoß – wie der Rauch eines heidnischen Opfers. Der Sizilianer hatte dem Geist seines Vaters das Blutopfer gebracht.

Der Priester war sofort auf seinen Knien bei der Leiche, aber nur, um festzustellen, daß es eine Leiche war. Und er versuchte immer noch einige letzte hoffnungslose Hilfen, als er zum erstenmal Stimmen höher den Fluß hinauf hörte und ein Polizeiboot mit Wachtmeistern und anderen bedeutenden Persönlichkeiten einschließlich des aufgeregten Paul an den Landungssteg heranschießen sah. Der kleine Priester erhob sich mit ausgesprochen zweifelnden Gesichtsausdruck.

»Warum in aller Welt«, murmelte er, »warum in aller Welt konnte er nicht früher kommen?«

Einige sieben Minuten später war die Insel von einer Invasion aus Stadtvolk und Polizei besetzt, und diese hatte ihre Hände auf den siegreichen Duellanten gelegt und ihn rituell ermahnt, daß alles, war er sage, gegen ihn verwendet werden könne.

»Ich werde nichts sagen«, sagte der Besessene mit einem wunderbaren und friedvollen Gesichtsausdruck. »Ich werde überhaupt nichts mehr sagen. Ich bin sehr glücklich, und ich wünsche mir nur noch, gehängt zu werden.«

Dann schloß er den Mund, während sie ihn abführten, und es ist die merkwürdige aber sichere Wahrheit, daß er ihn auf Erden nie mehr öffnete, außer um während des Prozesses »Schuldig« zu sagen.

Father Brown hatte auf den plötzlich übervölkerten Garten gestarrt, auf die Verhaftung des Mannes vom Blut, auf den Abtransport des Leichnams nach seiner Untersuchung durch den Arzt, so wie einer, der zusieht, wie ein häßlicher Traum sich auflöst; er war bewegungslos wie ein Mann in einer Nachtmahr. Er gab seinen Namen und seine Adresse als Zeuge an, aber lehnte das Angebot eines Bootes zum anderen Ufer ab, und blieb allein in dem Inselgarten, und bestarrte den zerbrochenen Rosenstock und die ganze grüne Bühne jener schnellen und unerklärlichen Tragödie. Das Licht erstarb entlang des Flusses; Nebel stieg aus den sumpfigen Ufern empor; einige späte Vögel flitzten im Zickzack dahin.

In seinem Unterbewußten (einem ungewöhnlich lebendigen) stak hartnäckig eine wortlose Gewißheit, daß es da immer noch irgendwas Unerklärtes gab. Dieses Gefühl, das ihn schon den ganzen Tag begleitete, konnte nicht wegerklärt werden durch seine Phantasie vom »Spiegelland«. Irgendwie hatte er nicht die wirkliche Geschichte gesehen, sondern ein Spiel oder eine Maskerade. Und doch werden Menschen nicht gehängt oder durch den Leib gestochen wegen einer Scharade.

Als er nachdenklich auf den Stufen des Landungssteges saß, ward er des großen dunklen Striches eines Segels inne, das schweigend den schimmernden Fluß hinabglitt, und er sprang auf in einem solchen Ausbruch von Gefühlen, daß er fast weinte.

»Flambeau!« schrie er und schüttelte seinem Freund immer und immer wieder beide Hände, sehr zum Erstaunen dieses Sportsmannes, der da mit seinem Angelzeug ans Ufer kam. »Flambeau«, sagte er, »sie haben Sie also nicht getötet?«

»Getötet!« wiederholte der Angler aus tiefstem Erstaunen. »Und warum hätte man mich töten sollen?«

»Nur weil fast alle anderen es sind«, sagte sein Gefährte ziemlich durcheinander. »Saradine wurde ermordet, und Antonelli will gehängt werden, und seine Mutter ist in Ohnmacht gefallen, und ich für mein Teil weiß nicht, ob ich mich noch in dieser Welt befinde oder in der anderen. Aber Gott sei Dank, Sie sind immer noch derselbe.« Und er hängte sich in den Arm des verblüfften Flambeau ein.

Als sie sich vom Landungssteg abwandten, kamen sie unter die Regenrinne des niedrigen Bambushauses und sahen durch eines der Fenster hinein, wie sie es bei ihrer ersten Ankunft getan hatten. Sie erblickten ein von Lampen hell erleuchtetes Inneres, wohl geeignet, ihren Blick zu fesseln. Der Tisch im langen Speiseraum war für das Abendessen vorbereitet gewesen, als Saradines Vernichter wie ein Donnerkeil auf die Insel gestürzt war. Und jetzt nahm das Abendessen seinen gelassenen Gang, denn Frau Anthony saß einigermaßen mürrisch am Fuß der Tafel, während Mr. Paul, der Majordomus, am Kopfende saß und aufs beste aß und trank; seine bläulichen Triefaugen quollen ihm seltsam aus dem Gesicht, sein hageres Gesicht war undurchsichtig, aber keineswegs ohne Zufriedenheit.

Mit einer Geste kraftvoller Ungeduld rüttelte Flambeau am Fenster, riß es auf und steckte einen empörten Kopf in den lampenhellen Raum.

»Genug!« schrie er. »Ich kann verstehen, daß Ihr einige Erfrischung braucht, aber daß Ihr Eures Herrn Essen stehlt, während er ermordet im Garten liegt – «

»Ich habe in einem langen und freudevollen Leben viele Dinge gestohlen«, erwiderte der sonderbare alte Herr gelassen; »dieses Abendessen aber ist eines von den wenigen Dingen, die ich nicht gestohlen habe. Dieses Abendessen und dieses Haus und dieser Garten gehören zufällig mir.«

Ein Gedanke schoß über Flambeaus Gesicht. »Sie wollen sagen«, begann er, »daß das Testament von Prinz Saradine – «

»Ich bin Prinz Saradine«, sagte der alte Mann und knabberte an einer Salzmandel.

Father Brown, der die Vögel im Freien beobachtete, fuhr zusammen, als sei er angeschossen, und schob sein Gesicht bleich wie eine Runkelrübe durch das Fenster.

»Sie sind wer?« fragte er mit schriller Stimme.

»Paul Prinz Saradine, à vos ordres«, sagte die verehrungswürdige Person höflich und erhob sein Glas mit Sherry. »Ich lebe hier sehr ruhig, da ich ein häuslicher Typ bin; und aus Gründen der Bescheidenheit lasse ich mich Mr. Paul nennen, um mich von meinem unglücklichen Bruder Mr. Stephen zu unterscheiden. Er starb, hörte ich, kürzlich – im Garten. Es ist natürlich nicht meine Schuld, daß ihn seine Feinde bis hierher verfolgen. Es ist die Folge der bedauerlichen Unregelmäßigkeiten seines Lebens. Er war kein häuslicher Typ.«

Er verfiel wieder in Schweigen und starrte weiter die Wand gegenüber an, unmittelbar über dem gebogenen und düsteren Haupt der Frau. Jetzt erkannten sie deutlich jene Familienähnlichkeit, die sie bei dem toten Mann heimgesucht hatte. Da begannen seine alten Schultern sich ein wenig zu heben und zu zucken, als ob er ersticke, aber sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht.

»Mein Gott!« schrie Flambeau nach einer Pause. »Der lacht ja!«

»Laß uns gehen«, sagte Father Brown, der schneeweiß war. »Laß uns von diesem Haus der Hölle fortgehen. Laß uns zurück in ein ehrliches Boot gehen.«

Bis sie von der Insel abgelegt hatten, war die Nacht auf Schilf und Strom gesunken, und sie fuhren im Dunkeln stromab und wärmten sich an zwei großen Zigarren, die hochrot glühten wie Schiffslaternen. Father Brown nahm die Zigarre aus dem Mund und sagte:

»Ich vermute, daß Sie jetzt die ganze Geschichte erraten können? Schließlich ist es eine einfache Geschichte. Ein Mann hatte zwei Feinde. Er war ein kluger Mann. Und so erkannte er, daß zwei Feinde besser sind als einer.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Flambeau.

»Ach, das ist wirklich ganz einfach«, fuhr sein Freund fort. »Einfach, obwohl alles andere als unschuldig. Beide Saradines waren Schurken, aber der Prinz, der ältere, gehörte zu jener Sorte Schurken, die ganz nach oben aufsteigt; und der jüngere, der Hauptmann, gehörte zu jener Sorte, die bis auf den tiefsten Grund absinkt. Dieser schuftige Offizier sank vom Bettler zum Erpresser hinab, und eines häßlichen Tages bekam er seinen Bruder, den Prinzen, in seine Klauen. Offensichtlich wegen keiner leichten Angelegenheit, denn Prinz Paul Saradine lebte ein wildes Leben und hatte in Sachen bloßer Gesellschaftssünden keinerlei Ruf mehr zu verlieren. In klaren Worten, es handelte sich um eine Sache fürs Schaffott, und Stephen hatte seinem Bruder buchstäblich die Schlinge um den Hals geworfen. Er hatte irgendwie die Wahrheit über die sizilianische Angelegenheit herausgefunden und konnte beweisen, daß Paul den alten Antonelli in den Bergen umgebracht hatte. Der Hauptmann schaufelte schweres Schweigegeld während zehn Jahren, bis selbst das glänzende Vermögen des Prinzen ein wenig armselig auszusehen begann.

Aber Prinz Saradine buckelte noch eine andere Bürde neben dem blutsaugerischen Bruder. Er wußte, daß der Sohn von Antonelli, ein Kind noch zur Zeit des Mordes, in jener wilden sizilianischen Treue auferzogen worden war und nur dafür lebte, seinen Vater zu rächen, nicht mit dem Galgen (denn dazu fehlten ihm Stephens gesetzliche Beweise), aber mit der alten Waffe der Blutrache. Der Jüngling hatte die Waffenkunst bis zur tödlichen Vollkommenheit geübt, und um die Zeit, da er alt genug war, sie auszuüben, begann Prinz Paul nach den Worten der Gesellschaftszeitungen zu reisen. In Wirklichkeit begann er, um sein Leben zu fliehen, indem er von Ort zu Ort hetzte wie der gejagte Verbrecher; aber ständig mit einem erbarmungslosen Mann auf den Fersen. Das war Prinz Pauls Position, und keine schöne. Je mehr Geld er ausgab, um Antonelli zu entkommen, desto weniger hatte er für Stephens Schweigen. Je mehr er ausgab für Stephens Schweigen, desto weniger Aussichten gab es, schließlich Antonelli doch noch zu entkommen. Da erwies er sich als wahrhaft großer Mann – ein Genie wie Napoleon.

Anstatt seinen beiden Widersachern zu widerstehen, ergab er sich plötzlich beiden. Er wich aus, wie ein japanischer Ringer, und seine Feinde stürzten hingestreckt vor ihn hin. Er gab das Rennen um die Erde auf, und dann gab er dem jungen Antonelli seine Adresse, und dann gab er seinem Bruder alles. Er schickte Stephen genügend Geld für elegante Kleidung und eine luxuriöse Reise und schrieb ihm ungefähr: ›Hier ist alles, was ich noch übrig habe. Du hast mich ausgeräumt. Ich habe noch ein kleines Haus in Norfolk, mit Dienerschaft und Keller, und wenn du noch mehr von mir haben willst, dann mußt du dir das nehmen. Komm her und nimm es in Besitz, wenn du willst, und ich werde dann hier ruhig leben als dein Freund oder Vertreter oder sonst was.‹ Er wußte, daß der Sizilianer die Brüder niemals gesehen hatte, außer vielleicht auf Bildern; er wußte, daß sie sich beide ähnelten mit ihren grauen Spitzbärten. Also rasierte er sich und wartete. Die Falle klappte. Der unselige Hauptmann kam in seinen neuen Kleidern und betrat das Haus triumphierend als Prinz, und lief in den Degen des Sizilianers.

Aber da gab es einen Haken, und der ehrt die menschliche Natur. Üble Geister wie Saradine stolpern oft, weil sie niemals mit menschlichen Tugenden rechnen. Er nahm als sicher an, daß der Schlag des Italieners, wenn er kam, dunkel und gewalttätig und namenlos sein würde wie der Schlag, den er rächte; daß das Opfer bei Nacht erstochen würde oder erschossen, hinter einer Hecke hervor, und also ohne weitere Worte stürbe. Es war ein schlimmer Augenblick für Prinz Paul, als Antonellis Ritterlichkeit ein förmliches Duell anbot mit allen Möglichkeiten der Erklärung. In diesem Augenblick fand ich ihn, wie er sich in seinem Boot mit wilden Augen davonmachte. Er floh barhäuptig in einem offenen Boot, ehe Antonelli erfahren konnte, wer er war.

Wie aufgeregt aber auch immer, war er doch nicht ohne Hoffnung. Er kannte den Abenteurer, und er kannte den Fanatiker. Es war sehr gut möglich, daß Stephen der Abenteurer seinen Mund halten würde, und sei es nur aus der Lust am theatralischen Spiel, aus seiner Gier, sein neues bequemes Quartier zu behalten, aus dem Vertrauen des Schurken auf sein Glück und seine Fechtkunst. Es war sicher, daß Antonelli der Fanatiker seinen Mund halten und sich hängen lassen würde, ohne seine Familiengeschichte auszuplaudern. Paul lungerte auf dem Fluß herum, bis er wußte, daß der Kampf zu Ende war. Dann scheuchte er die Stadt auf, brachte die Polizei her, sah seine beiden besiegten Gegner für immer abtransportiert und setzte sich lächelnd zum Abendessen nieder.«

»Lachend, Gott helfe uns!« sagte Flambeau mit mächtigem Schaudern. »Bekommt man solche Ideen vom Teufel?«

»Er hat diese Idee von Ihnen bekommen«, antwortete der Priester.

»Gott verhüte!« brach es aus Flambeau heraus. »Von mir? Wie meinen Sie das?«

Der Priester zog eine Visitenkarte aus seiner Tasche und hielt sie in der schwachen Glut seiner Zigarre hoch; sie war mit grüner Tinte bekritzelt.

»Erinnern Sie sich nicht an seine ursprüngliche Einladung?« fragte er. »Und an das Kompliment wegen Ihres kriminellen Glanzstücks? ›Jener Trick von Ihnen‹, sagte er, ›den einen Detektiv dazu zu bewegen, den anderen zu verhaften‹? Er hat einfach Ihren Trick nachgemacht. Mit einem Feind auf jeder Seite schlüpfte er schlicht aus dem Weg und ließ sie aufeinanderprallen und sich gegenseitig töten.«

Flambeau riß die Karte vom Prinzen Saradine aus den Händen des Priesters und zerriß sie wild in winzige Fetzen.

»Jetzt ist Schluß mit dem alten Totenschädel und den gekreuzten Knochen«, sagte er, während er die Fetzen auf die dunklen verschwindenden Wellen des Flusses streute; »aber ich fürchte, es wird die Fische vergiften.«

Der letzte Schimmer von weißem Karton und grüner Tinte versank und verschwand; eine schwache, zitternde Farbe des anbrechenden Tages verwandelte den Himmel, und der Mond hinter den Gräsern wurde bleicher. Sie trieben schweigend dahin.

»Father«, fragte Flambeau plötzlich, »glauben Sie, daß das alles ein Traum war?«

Der Priester schüttelte den Kopf, ob nun aus verneinenden oder agnostischen Gedanken, aber blieb stumm. Der Duft von Hagedorn und von Obstgärten kam zu ihnen durch die Dunkelheit und erzählte ihnen, daß ein Wind erwache; im nächsten Augenblick schaukelte er ihr kleines Boot und schwellte ihr Segel, und trug sie den sich windenden Fluß hinab zu glücklicheren Orten und den Heimen harmloser Menschen.