Das Wunder von Moon Crescent

 

Moon Crescent war in einem gewissen Sinne so romantisch gedacht wie sein Name; und die Ereignisse, die sich da begaben, waren auf ihre Weise romantisch genug. Zumindest war es ein Ausdruck jenes ehrlichen Elementes von Gefühl – historischem und fast heroischem –, das es schafft, sich in den älteren Städten an der Ostküste Amerikas Seite an Seite mit dem Kommerzialismus zu behaupten. Ursprünglich war es ein gebogener Gebäudekomplex klassizistischer Architektur, der wirklich noch die Atmosphäre jenes 18. Jahrhunderts heraufbeschwor, in dem Männer wie Washington und Jefferson als um so bessere Republikaner erschienen, weil sie Aristokraten waren. Von Reisenden, denen man immer wieder die Frage stellte, was sie denn von unserer Stadt dächten, erwartete man, daß sie sich insbesondere über unser Moon Crescent äußerten. Gerade die Gegensätze, die seine ursprüngliche Harmonie störten, waren charakteristisch für sein Überleben. Am einen Ende oder Horn der Halbmondform blickten die letzten Fenster über eine zu einem Herrenhaus passende parkähnliche Anlage, deren Bäume und Hecken so förmlich ausgerichtet waren wie in einem Garten zu Queen Annes Zeiten. Aber unmittelbar um die Ecke blickten die anderen Fenster der gleichen Zimmer oder eher »Apartments« auf die kahle unansehnliche Mauer eines riesigen Lagerhauses, das zu einem häßlichen Industriebetrieb gehörte. Die Wohnungen im Moon Crescent selbst waren an jenem Ende nach dem monotonen Muster eines amerikanischen Hotels umgebaut und erhoben sich bis in eine Höhe, die man, obzwar niedriger als das riesige Lagerhaus, in London doch einen Wolkenkratzer genannt haben würde. Der Säulengang aber, der die ganze Straßenfront entlanglief, trug eine solch graue und verwitterte Stattlichkeit zur Schau, als wanderten die Geister der Gründerväter dieser Republik noch immer in ihm auf und nieder. Das Innere der Zimmer war hingegen so sauber und neu, wie die modernste New Yorker Innenausstattung sie nur gestalten konnte, vor allem am nördlichen Ende zwischen dem ordentlichen Garten und der nackten Lagerhauswand. Sie bildeten zusammen ein System sehr kleiner Wohnungen, wie wir in England sagen würden, von denen jede aus Wohnzimmer, Schlafzimmer und Badezimmer bestand, einander jeweils so gleich wie die hundert Zellen einer Bienenwabe. In einer davon saß der berühmte Warren Wynd an seinem Schreibtisch, sortierte Briefe und streute Befehle mit wunderbarer Schnelligkeit und Genauigkeit um sich. Man konnte ihn nur mit einem Ordnung schaffenden Wirbelwind vergleichen. Warren Wynd war ein sehr kleiner Mann mit schütterem grauem Haar und einem Spitzbart, dem Anschein nach zart, doch von hitzigster Tätigkeit. Er hatte herrliche Augen, heller als Sterne und stärker als Magneten, die niemand, der sie je gesehen hatte, jemals vergessen konnte. Und tatsächlich hatte er bei seiner Arbeit als Reformer und Organisator von vielerlei Wohltätigkeiten bewiesen, daß er zumindest Augen im Kopf hatte. Es wurden allerlei Arten von Geschichten und sogar Legenden über die wundersame Geschwindigkeit erzählt, mit der er sich ein gesundes Urteil bilden konnte, besonders über den Charakter von Menschen. Es wurde behauptet, daß er sich seine Frau, die mit ihm so lange auf so wohltätige Art zusammengearbeitet hatte, aus einem ganzen Regiment uniformierter Frauen herausgepickt habe, die während irgendeiner offiziellen Veranstaltung vorbeimarschierten, Pfadfinderinnen sagen die einen, Polizistinnen andere. Und eine weitere Geschichte wird erzählt, wie drei Landstreicher, untereinander ob der Gemeinsamkeit von Schmutz und Lumpen nicht zu unterscheiden, ihn um ein Almosen angegangen waren. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, schickte er den einen in ein spezielles Krankenhaus für gewisse Nervenkrankheiten, empfahl dem anderen eine Entziehungsanstalt und stellte den dritten für ein sehr anständiges Gehalt als seinen privaten Diener ein, eine Stellung, die er in den folgenden Jahren erfolgreich ausfüllte. Natürlich gab es auch jene unvermeidlichen Anekdoten über seine prompte Kritik und seine schlagfertigen Antworten bei Begegnungen mit Roosevelt, mit Henry Ford und mit Mrs. Asquith und all jenen anderen Persönlichkeiten, mit denen ein Mann der amerikanischen Öffentlichkeit ein historisches Gespräch führen sollte, wenn auch nur in den Zeitungen. Mit Sicherheit ließ er sich von solchen Persönlichkeiten nicht einschüchtern; und in diesem Augenblick fuhr er gelassen mit seinem zentrifugalen Papiergewirbel fort, obwohl der Mann ihm gegenüber eine Persönlichkeit von annähernd gleicher Bedeutung war.

Silas T. Vandam, der Millionär und Erdölmagnat, war ein hagerer Mann mit einem langen gelblichen Gesicht und blauschwarzem Haar, Farben, die weniger auffällig, aber dafür um so bedrohlicher wirkten, als sich Gesicht und Gestalt dunkel vor dem Fenster und der weißen Lagerhauswand dahinter abhoben; er trug einen enggeknöpften eleganten Mantel mit Astrachanbesatz. Das eifrige Gesicht und die strahlenden Augen von Wynd andererseits befanden sich im hellen Licht des anderen Fensters, das den kleinen Garten überschaute, denn Stuhl und Schreibtisch standen ihm gegenüber; und obwohl das Gesicht beschäftigt erschien, erschien es nicht besonders mit dem Millionär beschäftigt. Wynds Lakai oder persönlicher Diener, ein großer kraftvoller Mann mit glattem blondem Haar, stand hinter dem Tisch seines Herrn und hielt ein Bündel Briefe; und Wynds Privatsekretär, ein adretter rothaariger junger Mann mit einem harten Gesicht, hatte seine Hand schon auf der Türklinke, als ob er einen Auftrag errate oder einer Geste seines Arbeitgebers gehorche. Das Zimmer war nicht nur ordentlich, sondern bis an den Rand der Leere karg; denn Wynd hatte mit charakteristischer Gründlichkeit die ganze Wohnung darüber gemietet und daraus eine Art Lager- und Archivraum gemacht, wo alle seine anderen Papiere und Besitztümer in Kästen und verschnürten Ballen lagerten.

»Gib das dem Etagendiener, Wilson«, sagte Wynd zu dem Diener, der die Briefe hielt, »und dann hol mir die Flugschrift über die Nachtclubs in Minneapolis; du findest sie in dem Ballen mit dem Buchstaben ›G‹. Ich brauche sie in einer halben Stunde, aber bis dahin stör mich nicht. Nun, Mr. Vandam, ich glaube, daß Ihr Vorschlag vielversprechend ist; aber ich kann eine endgültige Antwort erst geben, wenn ich den Bericht gelesen habe. Der sollte mich morgen nachmittag erreichen, und dann werde ich Sie sofort anrufen. Tut mir leid, daß ich im Augenblick nichts Definitiveres sagen kann.«

Mr. Vandam empfand das als eine Art höflicher Verabschiedung; und sein blasses melancholisches Gesicht ließ erkennen, daß er darin eine gewisse Ironie sah.

»Na, dann werde ich wohl gehen müssen«, sagte er.

»Sehr freundlich, Mr. Vandam, daß Sie vorbeigekommen sind«, sagte Wynd höflich; »Sie werden verzeihen, daß ich Sie nicht hinausbegleite, aber ich muß hier sofort etwas erledigen. Fenner«, setzte er zum Sekretär gewandt hinzu, »begleiten Sie Mr. Vandam zu seinem Wagen und kommen Sie während der nächsten halben Stunde nicht zurück. Ich habe hier was, das ich selbst ausarbeiten muß; danach aber werde ich Sie wieder brauchen.«

Die drei Männer gingen zusammen in den Korridor hinaus und schlossen die Türe hinter sich. Der große Diener Wilson ging den Korridor hinab zum Etagendiener, und die beiden anderen begaben sich in die entgegengesetzte Richtung zum Aufzug; denn Wynds Apartment befand sich hoch oben im 14. Stock. Sie hatten sich noch kaum einen Meter von der geschlossenen Tür entfernt, als ihnen bewußt wurde, daß den Korridor eine heranschreitende, ja majestätische Gestalt ausfüllte. Der Mann war sehr groß und breitschultrig, und seine Massigkeit war um so auffälliger, als er in Weiß gekleidet war, oder in ein helles Grau, das wie Weiß wirkte, mit einem sehr weitkrempigen weißen Panamahut und einem fast ebenso weiten Heiligenschein von fast ebenso weißem Haar. In dieser Aureole wirkte sein Gesicht stark und schön wie das eines römischen Kaisers, nur lag da etwas mehr als nur Jungenhaftes, etwas fast Kindliches um den Glanz seiner Augen und die Glückseligkeit seines Lächelns.

»Ist Mr. Warren Wynd da?« fragte er mit herzlicher Stimme.

»Mr. Warren Wynd ist beschäftigt«, sagte Fenner; »er kann unter keinen Umständen gestört werden. Ich bin sein Sekretär und kann jede Botschaft entgegennehmen.«

»Mr. Warren Wynd ist weder für den Papst noch für gekrönte Häupter anwesend«, sagte Vandam, der Erdölmagnat, mit saurem Sarkasmus. »Mr. Warren Wynd ist sehr eigen. Ich bin hergekommen, um ihm die Kleinigkeit von 20000 Dollar unter bestimmten Bedingungen zu übergeben, und er hat mir gesagt, ich solle wieder vorbeikommen, als wäre ich ein Botenjunge.«

»Es ist schön, ein Junge zu sein«, sagte der Fremde, »und noch schöner, eine Botschaft zu haben; und ich habe eine Botschaft, die er einfach anzuhören hat. Es ist eine Botschaft aus dem großen guten Land im Westen, wo der wirkliche Amerikaner entsteht, während ihr alle schnarcht. Sagen Sie ihm, daß Art Alboin aus der Stadt Oklahoma gekommen ist, um ihn zu bekehren.«

»Ich sagte Ihnen doch, daß niemand ihn sprechen kann«, sagte der rothaarige Sekretär scharf. »Er hat Anweisungen gegeben, daß er für eine halbe Stunde nicht gestört werden darf.«

»Ihr Leutchen hier im Osten wollt euch alle nicht stören lassen«, sagte der lärmige Mr. Alboin, »aber ich schätze, daß da im Westen ein großer Lärm entsteht, der euch schon aufstören wird. Er rechnet herum, wieviel Geld er der einen oder anderen verstaubten alten Religion geben soll; ich aber sage Ihnen, daß jede Verteilung, die die neue Großer-Geist-Bewegung draußen in Texas und Oklahoma außer acht läßt, die Religion der Zukunft außer acht läßt.«

»Oha; ich hab mir all diese Religionen der Zukunft genau angesehen«, sagte der Millionär verächtlich. »Ich bin sie mit dem Läusekamm durchgegangen, und sie sind alle so räudig wie gelbe Hunde. Da war die Frau, die sich Sophia nannte: die hätte sich besser Saphira genannt, schätze ich. Nichts als plumper Schwindel. Überall Fäden an Tischen und Tamburinen. Dann war da der Haufen vom Unsichtbaren Leben; sie behaupteten, sie könnten nach Willen verschwinden, und verschwinden taten sie, und 100000 meiner Dollars verschwanden mit ihnen. Ich kannte Jupiter Jesus drüben in Denver; war wochenlang mit ihm zusammen; und er war doch nur ein gewöhnlicher Gauner. Ebenso der Patagonische Prophet; Sie können drauf wetten, daß er sich nach Patagonien davongemacht hat. Nein, mit all dem bin ich durch; von jetzt an glaube ich nur noch, was ich sehe. Ich nehme an, das nennt man einen Atheisten.«

»Ich schätze, Sie haben mich falsch verstanden«, sagte der Mann aus Oklahoma eifrig. »Ich schätze, ich bin ebensosehr Atheist wie Sie. In unserer Bewegung gibt es keinen übernatürlichen oder abergläubischen Quatsch; nur reine Wissenschaft. Die einzige wirkliche Wissenschaft heißt ganz einfach Gesundheit, und die einzige wirkliche Gesundheit heißt ganz einfach Atmen. Füllen Sie sich Ihre Lungen mit der freien Luft der Prärie, und Sie können alle Ihre alten Städte des Ostens ins Meer pusten. Sie können Ihre größten Männer wegpusten wie Pusteblumen. Das tun wir in der neuen Bewegung draußen zu Hause: Wir atmen. Wir beten nicht; wir atmen.«

»Ja, das nehme ich an«, sagte der Sekretär gelangweilt. Er hatte ein scharfes intelligentes Gesicht, das die Langeweile kaum verbergen konnte; aber er hatte den beiden Monologen mit jener bewunderungswürdigen Geduld und Höflichkeit (so sehr im Widerspruch zu den Legenden über Ungeduld und Unverfrorenheit) gelauscht, mit denen man in Amerika solchen Monologen lauscht.

»Nichts Übernatürliches«, fuhr Alboin fort, »nur die große natürliche Wahrheit hinter all den übernatürlichen Phantasien. Wofür brauchten die Juden einen Gott, außer daß er dem Menschen den Odem des Lebens in die Nüstern blase? Wir betreiben draußen in Oklahoma das Blasen in unsere Nüstern selbst. Was bedeutet denn das Wort ›spiritus‹ genau? Es ist griechisch und bedeutet Atemübung. Leben, Fortschritt, Prophetien; alles ist Atmen.«

»Manche würden auch sagen, es sei Wind«, sagte Vandam, »aber ich bin froh, daß Sie von dem Göttlichkeitshumbug losgekommen sind.«

Das scharfe Gesicht des Sekretärs, ziemlich blaß unter seinem roten Haar, zeigte das Flackern eines eigenartigen Gefühls, das auf eine heimliche Bitternis hinwies.

»Ich bin nicht froh«, sagte er, »ich bin nur sicher. Sie scheinen gerne Atheisten zu sein; da können Sie glauben, was Sie glauben wollen. Aber ich wünschte bei Gott, es gäbe einen Gott; doch da ist keiner. Mein Pech.«

Und in diesem Augenblick wurden sie sich fast mit einer Gänsehaut bewußt, daß die Gruppe, die da vor Wynds Tür stand, ohne ein Geräusch oder eine Bewegung von drei auf vier Menschen angewachsen war. Wie lange die vierte Gestalt bereits da gestanden hatte, konnte keiner der drei ernsthaften Disputanten sagen, aber es schien ganz so, als stünde sie da und warte respektvoll und sogar schüchtern auf die Gelegenheit, etwas Dringliches zu sagen. Für ihre nervöse Empfindsamkeit aber schien sie plötzlich und schweigend emporgeschossen zu sein wie ein Pilz. Und sie sah tatsächlich einem großen schwarzen Pilz ähnlich, denn sie war sehr klein, und die untersetzte Figur verschwand im Schatten ihres großen schwarzen klerikalen Hutes; die Ähnlichkeit wäre noch vollständiger gewesen, wenn Pilze die Angewohnheit hätten, Regenschirme von einer schäbigen und unförmigen Art bei sich zu haben.

Fenner, der Sekretär, wurde sich einer eigenartigen zusätzlichen Überraschung bewußt, als er die Gestalt eines Priesters erkannte; als aber der Priester unter dem runden Hut sein rundes Gesicht aufwärts wandte und unschuldig nach Mr. Warren Wynd fragte, gab er die übliche negative Antwort fast noch schroffer als zuvor. Doch der Priester ließ sich nicht abschrecken.

»Ich möchte aber wirklich Mr. Wynd sehen«, sagte er. »Das mag merkwürdig erscheinen, aber genau das möchte ich tun. Ich will nicht mit ihm sprechen. Ich will ihn nur sehen. Ich will nur sehen, ob er zu sehen ist.«

»Also, ich sage Ihnen, daß er da ist, daß man ihn aber nicht sehen kann«, sagte Fenner zunehmend gereizt. »Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, Sie wollten nur sehen, ob er zu sehen ist? Natürlich ist er da. Wir haben ihn alle vor 5 Minuten verlassen, und seither haben wir hier vor der Tür gestanden.«

»Nun, dann möchte ich sehen, ob er in Ordnung ist«, sagte der Priester.

»Warum?« fragte der Sekretär verärgert.

»Weil ich einen gewichtigen, ich möchte fast sagen feierlichen Grund habe«, sagte der Kleriker sehr ernst, »daran zu zweifeln, daß er in Ordnung ist.«

»O Gott!« rief Vandam fast wütend, »nicht noch mehr Aberglaube.«

»Ich sehe schon, daß ich Ihnen meine Gründe angeben muß«, bemerkte der kleine Kleriker sehr ernst. »Ich nehme an, ich kann nicht einmal erwarten, daß Sie mich durch einen Türspalt schauen lassen, ehe ich Ihnen nicht die ganze Geschichte erzählt habe.«

Er schwieg einen Augenblick lang nachdenklich und fuhr dann fort, ohne die verwunderten Gesichter um ihn herum zu beachten. »Ich ging da unten am Säulengang entlang, als ich einen reichlich zerlumpten Mann schnell um die Ecke am Ende des Halbmondbogens rennen sah. Er raste über das Pflaster auf mich zu und ließ mich eine große grobknochige Gestalt und ein Gesicht sehen, das ich erkannte. Es war das Gesicht eines wilden Iren, dem ich früher mal ein bißchen geholfen habe; seinen Namen werde ich Ihnen nicht sagen. Als er mich sah, taumelte er, rief meinen Namen und sagte: ›Bei allen Heiligen, das ist Father Brown; Sie sind der einzige Mann, dessen Gesicht mir heute Angst machen kann.‹ Da wußte ich, er meinte, daß er heute etwas Übles angestellt hatte, und ich glaube nicht, daß ihm mein Gesicht wirklich Angst gemacht hat, denn sofort danach erzählte er mir davon. Und das war eine sehr merkwürdige Geschichte. Er fragte mich, ob ich Warren Wynd kenne, und ich sagte nein, obwohl ich wußte, daß er ziemlich hoch oben in diesem Gebäudekomplex wohnt. Er sagte: ›Das ist ein Mann, der sich einbildet, ein Heiliger Gottes zu sein; aber wenn er wüßte, was ich von ihm sage, dann wäre er bereit, sich selbst aufzuhängen.‹ Und hysterisch wiederholte er mehrere Male: ›Ja, bereit, sich selbst aufzuhängen.‹ Ich fragte ihn, ob er Wynd irgendein Leid angetan habe, und seine Antwort war reichlich sonderbar. Er sagte: ›Ich habe mir eine Pistole genommen und sie weder mit Kugel noch mit Schrot geladen, sondern mit einem Fluch.‹ Soweit ich verstanden habe, war alles, was er getan hat, daß er die kleine Straße zwischen diesem Gebäude und dem großen Lagerhaus hinabgegangen ist mit einer alten Pistole, die mit einer Platzpatrone geladen war, und daß er damit gegen die Mauer geschossen hat, als könne dies das Gebäude zum Einsturz bringen. ›Aber als ich das getan habe‹, sagte er, ›verfluchte ich ihn mit dem großen Fluch, daß die Gerechtigkeit Gottes ihn beim Schopf ergreifen solle und die Rache der Hölle bei den Fersen und daß er auseinandergerissen werden solle wie Judas, auf daß die Welt ihn nicht mehr kenne.‹ Nun, es spielt jetzt keine Rolle, was ich dem armen verrückten Kerl sonst noch gesagt habe; jedenfalls ging er ein bißchen beruhigter davon, und ich ging zur Rückseite des Gebäudes, um mir die Sache anzusehen. Und tatsächlich lag da in der kleinen Straße am Fuß dieser Mauer eine verrostete uralte Pistole; ich weiß genug von Pistolen, um zu wissen, daß sie nur mit ein bißchen Pulver geladen war; denn an der Mauer fanden sich die schwarzen Spuren von Pulver und Rauch und sogar der Abdruck der Mündung, aber nicht die geringste Vertiefung durch eine Kugel. Er hatte keine Spur der Zerstörung hinterlassen; er hatte überhaupt keine Spur hinterlassen, abgesehen von jenen schwarzen Spuren und dem schwarzen Fluch, den er in den Himmel geschleudert hatte. Also kam ich hierher zurück, um mich nach Warren Wynd zu erkundigen und herauszufinden, ob er in Ordnung ist.«

Fenner, der Sekretär, lachte. »Die kleine Schwierigkeit kann ich bald für Sie aus der Welt schaffen. Ich versichere Ihnen, daß er völlig in Ordnung ist; wir haben ihn vor wenigen Minuten verlassen, wie er an seinem Schreibtisch saß und schrieb. Er war allein in der Wohnung; sie liegt hundert Fuß über der Straße und hat eine solche Lage, daß kein Schuß ihn hätte treffen können, selbst wenn ihr Freund nicht mit einer Platzpatrone geschossen hätte. Es gibt zu dieser Wohnung keinen anderen Eingang als diese Tür, und wir haben die ganze Zeit vor ihr gestanden.«

»Dennoch«, sagte Father Brown sehr ernst, »würde ich gerne hineinblicken und selbst sehen.«

»Das können Sie nicht«, erwiderte der andere. »Guter Gott, Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, daß Sie an den Fluch glauben.«

»Sie vergessen«, sagte der Millionär mit leichtem Spott, »daß das Geschäft von Hochwürden aus Segnen und Fluchen besteht. Na los doch, Sir, wenn man ihn in die Hölle verflucht hat, warum segnen Sie ihn denn nicht wieder her? Was hat Ihr Segen denn für einen Wert, wenn er nicht einmal den Fluch eines irischen Rowdys schlagen kann?«

»Glaubt denn heute noch jemand an so etwas?« protestierte der Westmann.

»Ich nehme an, daß Father Brown an eine ganze Menge Dinge glaubt«, sagte Vandam, dessen Laune unter der knappen Abfertigung vorhin ebenso wie unter dem jetzigen Zank litt. »Father Brown glaubt an einen Einsiedler, der auf einem Krokodil über einen Fluß setzte, das er zuerst aus dem Nichts herbeigezaubert hatte und dem er dann sagte, jetzt solle es sterben, was es auch prompt tat. Father Brown glaubt, daß irgendein gesegneter Heiliger starb und dann seine Leiche in drei Leichen verwandelte, damit drei Gemeinden gedient sei, die alle drauf aus waren, als seine Vaterstadt zu gelten. Father Brown glaubt, daß der eine Heilige seinen Mantel an einem Sonnenstrahl aufhängte und daß ein anderer den seinen als Boot benutzte, um den Atlantik zu überqueren. Father Brown glaubt, daß der heilige Esel 6 Beine hatte und daß das Haus von Loreto durch die Luft geflogen ist. Er glaubt an Hunderte von steinernen Jungfrauen, die den ganzen Tag lang blinzeln und weinen. Ihm ist es ein leichtes zu glauben, daß ein Mann durch ein Schlüsselloch entkommt oder aus einem verschlossenen Zimmer verschwindet. Ich schätze, er mißt den Naturgesetzen wenig Bedeutung bei.«

»Ich hingegen muß den Gesetzen von Warren Wynd große Bedeutung beimessen«, sagte der Sekretär erschöpft, »und sein Gesetz lautet, daß man ihn allein zu lassen hat, wenn er das so will. Wilson wird Ihnen das Gleiche sagen«, denn der große Diener, der nach der Flugschrift ausgeschickt worden war, kam in diesem Augenblick gelassen den Korridor herab und trug die Flugschrift mit sich, ging aber unbekümmert an der Tür vorüber. »Er wird sich da hinten auf die Bank beim Etagendiener setzen und Däumchen drehen, bis er gewünscht wird; vorher aber wird er keinesfalls hineingehen; und ich auch nicht. Ich schätze, wir wissen beide, auf welcher Seite unser Brot gebuttert ist, und es würde eine ganze Menge von Father Browns Heiligen und Engeln nötig sein, uns das vergessen zu machen.«

»Was die Heiligen und die Engel angeht – «, begann der Priester.

»Alles Unfug«, sagte Fenner. »Ich möchte nichts Beleidigendes sagen, aber all dieses Zeugs paßt nur gut zu Krypten und Klöstern und anderen mondbeglänzten Bauten. Doch durch eine geschlossene Tür in einem amerikanischen Hotel können Geister nicht gehen.«

»Aber Menschen können eine Tür öffnen, sogar in einem amerikanischen Hotel«, sagte Father Brown geduldig. »Und mir will scheinen, die einfachste Sache wäre, sie zu öffnen.«

»Das wäre einfach genug, um mich meinen Job zu kosten«, antwortete der Sekretär, »und Warren Wynd wünscht sich so einfache Sekretäre nicht. Nicht einfach genug, um an die Art von Märchen zu glauben, an die Sie zu glauben scheinen.«

»Nun«, sagte der Priester ernst, »es ist sicherlich wahr, daß ich an viele Dinge glaube, an die Sie wahrscheinlich nicht glauben. Aber es würde lange Zeit dauern, um all die Dinge zu erklären, an die ich glaube, und all die Gründe, weshalb ich annehme, daß ich damit recht habe. Es würde etwa 2 Sekunden dauern, diese Tür zu öffnen und mir zu beweisen, daß ich unrecht habe.«

Irgend etwas in diesem Satz schien dem ungezügelteren und ruhelosen Geist des Mannes aus dem Westen zu gefallen.

»Ich geb’ zu, ich würd’ Ihnen gern beweisen, wie unrecht Sie haben«, sagte Alboin und schritt plötzlich an ihnen vorüber, »und ich werde es tun.«

Er öffnete die Tür zur Wohnung weit und blickte hinein. Der erste Blick zeigte, daß Warren Wynds Stuhl leer war. Der zweite Blick zeigte, daß auch sein Zimmer leer war.

Fenner wurde seinerseits durch Energie elektrifiziert und stürzte an den anderen vorbei ins Apartment.

»Er ist im Schlafzimmer«, sagte er kurz, »er muß da sein.« Als er in dem inneren Zimmer verschwand, standen die anderen Männer im leeren äußeren Zimmer und starrten um sich. Die Kargheit und Einfachheit der Einrichtung, die bereits zuvor bemerkt worden war, wandte sich mit kalter Herausforderung wider sie. In diesem Zimmer hätte sich sicherlich nicht einmal eine Maus verbergen können, geschweige denn ein Mann. Es gab keine Vorhänge und, was bei amerikanischen Einrichtungen selten ist, keine Wandschränke. Selbst der Schreibtisch war nicht mehr als ein einfacher Tisch mit einer flachen Schublade und einer hochgestellten Platte. Die Stühle waren harte und hochrückige Skelette. Einen Augenblick später erschien der Sekretär wieder an der inneren Tür, nachdem er die beiden inneren Zimmer durchsucht hatte. In seinen Augen stand starrende Verneinung, und sein Mund schien sich selbständig zu bewegen, als er scharf fragte: »Hier ist er wohl nicht herausgekommen?«

Den anderen erschien es offenbar nicht einmal nötig, der Verneinung verneinend zu antworten. Ihr Geist war gegen etwas geraten wie die kahle Wand des Lagerhauses, die durch das gegenüberliegende Fenster hereinstarrte und nach und nach von Weiß zu Grau wechselte, als mit dem voranschreitenden Nachmittag die Dämmerung langsam sank. Vandam schritt hinüber zu dem Fensterbrett, gegen das er sich eine halbe Stunde zuvor gelehnt hatte, und sah aus dem offenen Fenster. Da gab es keine Röhren oder Feuerleitern, keine Gesimse oder Fußhalte irgendeiner Art an der glatten Mauer, die zu der kleinen Nebenstraße unten hinabfiel, und nichts war da an derselben Erstreckung der Wand aufwärts, die sich noch viele Stockwerke höher erhob. Und noch weniger Abwechslung gab es auf der anderen Straßenseite; da gab es nichts außer der ermüdenden Erstreckung der weiß gekalkten Wand. Er starrte nach unten, als erwarte er, den verschwundenen Philantropen als selbstmörderisches Wrack auf dem Fußsteig liegen zu sehen. Er konnte aber nichts erblicken außer einem kleinen dunklen Gegenstand, der, obwohl durch die Entfernung verkleinert, sehr wohl jene Pistole sein mochte, die der Priester dort gefunden hatte. Inzwischen war Fenner zu dem anderen Fenster gegangen, das aus einer ebenso kahlen und unbesteigbaren Mauer hinausschaute, aber über einen kleinen kunstreichen Park statt über eine Seitenstraße hinblickte. Eine Gruppe von Bäumen unterbrach dort die tatsächliche Sicht hinab auf die Erde; aber sie reichten nur einen kleinen Weg die riesige, von Menschen erbaute Klippe hinan. Beide wandten sich in das Zimmer zurück und sahen einander in dem zunehmenden Zwielicht an, während die letzten Silberstrahlen des Tageslichtes auf den schimmernden Platten von Pulten und Tischen schnell grau wurden. Fenner drückte den Schalter, und die Szene sprang in die erschreckende Deutlichkeit des elektrischen Lichtes.

»Wie Sie eben sagten«, sagte Vandam grimmig, »kein Schuß von da unten hätte ihn treffen können, auch wenn eine Kugel im Lauf gesteckt hätte. Aber selbst wenn ihn eine Kugel getroffen hätte, würde er nicht einfach wie eine Seifenblase zerplatzt sein.«

Der Sekretär, der bleicher denn je war, blickte zornig in das gallenbittere Gesicht des Millionärs.

»Was hat Sie denn auf so morbide Gedanken gebracht? Wer redet denn von Kugeln und Seifenblasen? Warum sollte er denn nicht mehr am Leben sein?«

»Ja, warum nicht?« erwiderte Vandam glatt. »Wenn Sie mir sagen, wo er ist, werde ich Ihnen sagen, wie er dahin gekommen ist.«

Nach einer Pause murmelte der Sekretär verdrießlich: »Ich nehme an, daß Sie recht haben. Wir stehen da genau vor der Frage, über die wir gesprochen haben. War schon ‘ne komische Sache, wenn Sie oder ich je zu der Überzeugung kommen sollten, daß es mit Verfluchungen etwas auf sich hat. Wer aber könnte Wynd, der hier drinnen eingeschlossen war, etwas Böses zugefügt haben?«

Mr. Alboin aus Oklahoma stand spreizbeinig in der Mitte des Zimmers, und sein weißer haariger Heiligenschein schien ebenso wie seine runden Augen Erstaunen auszustrahlen. An dieser Stelle sagte er etwas abwesend mit der unaufmerksamen Unverschämtheit eines »enfant terrible«:

»Sie hatten wohl nicht viel für ihn übrig, oder, Mr. Vandam?«

Mr. Vandams langes gelbliches Gesicht schien im selben Maße noch länger zu werden, in dem es noch finsterer wurde, während er lächelte und ruhig antwortete:

»Wenn wir denn von diesen Zufällen reden, so waren Sie es, glaube ich, der sagte, daß ein Wind aus dem Westen unsere großen Männer wegpusten würde wie Pusteblumen.«

»Ich weiß, daß ich das gesagt habe«, sagte der Westmann offenherzig; »aber wie zum Teufel könnte er denn?«

Das Schweigen brach Fenner, der mit einer Plötzlichkeit, die an Gewalttätigkeit grenzte, sagte:

»Hierzu kann ich nur eins sagen. Es hat einfach nicht stattgefunden. Es kann nicht stattgefunden haben.«

»O doch«, sagte Father Brown aus seiner Ecke, »es hat wirklich stattgefunden.«

Sie fuhren alle zusammen; denn sie hatten tatsächlich alle den unbedeutenden kleinen Mann vergessen, der sie ursprünglich dazu veranlaßt hatte, die Tür zu öffnen. Und die Wiederkehr der Erinnerung ging einher mit einem jähen Umschwung der Stimmung; ihnen allen fiel plötzlich wieder ein, daß sie ihn als abergläubischen Träumer zurückgewiesen hatten, als er auf genau das anspielte, was sich seither unter ihren Augen abgespielt hatte.

»Donnerwetter!« schrie der impulsive Westmensch wie einer, der spricht, ehe er sich zügeln kann; »angenommen, da ist doch etwas dran!«

»Ich muß gestehen«, sagte Fenner und starrte stirnrunzelnd auf den Tisch, »daß die Vorahnungen von Hochwürden offenbar wohlbegründet waren. Ich weiß nicht, ob er uns noch etwas anderes zu sagen hat.«

»Er könnte uns möglicherweise sagen«, sagte Vandam sardonisch, »was zum Teufel wir jetzt machen sollen.«

Der kleine Priester nahm diese Stellung auf bescheidene, aber sachliche Weise ein. »Das einzige, woran ich jetzt denken kann«, sagte er, »ist, daß wir die Verwaltung des Gebäudes unterrichten und nachsehen, ob es irgendwelche weiteren Spuren von dem Mann gibt, der die Pistole abfeuerte. Er verschwand am anderen Ende des Crescent, wo sich der kleine Park befindet. Dort gibt es Bänke, ein bei Landstreichern beliebter Ort.«

Direkte Konsultationen mit der Gebäudeverwaltung, die zu indirekten Konsultationen mit den Polizeibehörden führten, beschäftigten sie eine beträchtliche Zeit; und die Nacht brach bereits herein, als sie unter den langen klassizistischen Bogen des Säulenganges hinaustraten. Das crescentische Halbrund sah so kalt und hohl aus wie der Mond, nach dem es benannt war, und der Mond selbst stieg leuchtend, aber gespenstisch hinter den schwarzen Baumwipfeln auf, als sie um die Ecke bei der kleinen öffentlichen Gartenanlage bogen. Die Nacht verhüllte viel von dem, was an ihr nur städtisch und künstlich war; und als sie in den Schatten der Bäume tauchten, hatten sie ein eigenartiges Gefühl, so als seien sie plötzlich viele hundert Meilen von zu Hause fort. Als sie schweigend ein Weilchen dahingeschritten waren, ging Alboin, der etwas Elementares an sich hatte, plötzlich in die Luft.

»Ich geb’s auf«, schrie er, »ich bin geschlagen. Ich hab nie geglaubt, daß ich eines Tages an solche Dinge geriete; aber was geschieht, wenn solche Dinge an einen geraten? Um Vergebung, Father Brown; schätze, ich geb’ klein bei, was Sie und Ihre Märchen angeht. Ab jetzt bin ich auch für Märchen. Und Sie, Mr. Vandam, Sie haben selbst gesagt, daß Sie Atheist sind und nur glauben, was Sie sehen. Also los, was haben Sie gesehen? Oder vielmehr, was haben Sie nicht gesehen?«

»Ich weiß«, sagte Vandam und nickte düster.

»Ach, teilweise sind das dieser Mond und diese Bäume, die einem an die Nerven gehen«, sagte Fenner hartnäckig. »Bäume sehen im Mondschein immer sonderbar aus mit ihren umherkriechenden Zweigen. Sehen Sie sich nur – «

»Ja«, sagte Father Brown, der stehengeblieben war und durch ein Gewirr von Bäumen nach dem Monde starrte. »Das da oben ist ein sehr eigenartiger Ast.«

Und als er wieder sprach, sagte er nur: »Ich glaubte, es sei ein gebrochener Ast.«

Aber dieses Mal war da ein Bruch in seiner Stimme, die seine Zuhörer unerklärlich erstarren ließ. Etwas, das tatsächlich einem toten Ast ähnlich sah, hing schlaff von dem Baum herab, der sich dunkel vor dem Mond abzeichnete; aber es war kein toter Ast. Als sie nahe genug waren, um zu erkennen, was es war, sprang Fenner mit einem hallenden Fluch zurück. Dann eilte er wieder herbei und löste eine Schlinge vom Hals des schmutzigbraunen kleinen Körpers, der da mit herabhängenden Federn grauer Haare baumelte. Irgendwie wußte er, daß der Körper ein toter Körper war, noch ehe er ihn aus dem Baum hatte herabheben können. Ein sehr langes Stück Seil war um die Äste geschlungen, und ein sehr kurzes Stück davon führte von der Astgabel zu dem Körper. Ein großer Gartenbottich war etwa einen Meter unter den Füßen weggerollt, wie ein Stuhl, den die Füße eines Selbstmörders weggetreten haben.

»O mein Gott!« sagte Alboin, und es klang wie ein Gebet und ein Fluch. »Was hat noch der Mann über ihn gesagt? – ›Wenn er wüßte, wäre er bereit, sich selbst aufzuhängen!‹ Hat er das nicht gesagt, Father Brown?«

»Ja«, sagte Father Brown.

»Nun«, sagte Vandam mit hohler Stimme, »ich habe nie geglaubt, so etwas zu sehen oder zu sagen. Was aber könnte man sagen, außer daß der Fluch gewirkt hat?«

Fenner stand da und bedeckte sein Gesicht mit den Händen; und der Priester legte ihm eine Hand auf den Arm und sagte sanft: »Haben Sie ihn sehr gemocht?«

Der Sekretär ließ die Hände sinken, und sein weißes Gesicht sah unterm Mond gespenstisch aus.

»Ich habe ihn gehaßt wie die Hölle«, sagte er, »und wenn er durch einen Fluch gestorben ist, dann könnte es meiner gewesen sein.«

Der Druck der Hand des Priesters auf seinem Arm verstärkte sich; und der Priester sagte mit einem so tiefen Ernst, wie er ihn bisher noch kaum gezeigt hatte:

»Es war nicht Ihr Fluch; seien Sie dessen gewiß.«

Die Bezirkspolizei hatte erhebliche Schwierigkeiten im Umgang mit den vier Zeugen, die in den Fall verwickelt waren. Alle von ihnen waren ehrbare und im üblichen Sinne sogar verläßliche Menschen; und einer von ihnen war eine Persönlichkeit von erheblicher Macht und Bedeutung: Silas Vandam von der Oil Trust. Der erste Polizeibeamte, der versuchte, seiner Geschichte gegenüber Skepsis zu zeigen, schlug sehr schnell Funken aus dem Stahl des Geistes jenes Magnaten.

»Hören Sie auf damit, mir vorzuschwafeln, ich solle mich an die Fakten halten«, sagte der Millionär harsch. »Ich hab’ mich an eine ganze Menge Fakten gehalten, bevor Sie geboren waren, und ein paar Fakten haben sich an mich gehalten. Ich geb’ Ihnen die Fakten schon richtig an, wenn Sie nur auch genügend Verstand haben, sie korrekt aufzuschreiben.«

Der fragliche Polizist war noch jung und untergeordnet und hatte die undeutliche Vorstellung, daß der Millionär politisch zu bedeutend war, um wie ein gewöhnlicher Bürger behandelt zu werden; also reichte er ihn zunebst seinen Gefährten an einen unerschütterlicheren Vorgesetzten weiter, einen Inspektor Collins, einen ergrauten Mann mit einer grimmig behaglichen Redeweise; an einen, der zwar freundlich war, sich aber keinen Unsinn bieten lassen würde.

»Soso«, sagte er und sah sich die drei Gestalten vor ihm mit zwinkernden Augen an, »das scheint mir eine merkwürdige Geschichte zu sein.«

Father Brown war bereits wieder in seinen täglichen Geschäften unterwegs; aber Silas Vandam ließ sogar seine gigantischen Geschäfte auf den Finanzmärkten für eine Stunde oder so allein, um seine bemerkenswerten Erlebnisse zu bezeugen. Fenners Geschäfte als Sekretär waren in gewisser Weise mit dem Leben seines Arbeitgebers zu Ende gegangen; und der große Art Alboin, der weder in New York noch sonstwo irgendwelche Geschäfte hatte außer der Verbreitung der Atem-des-Lebens- oder Großer-Geist-Religion, hatte nichts, das ihn im Augenblick von der anliegenden Angelegenheit fortgezogen hätte. So standen sie denn in des Inspektors Zimmer in einer Reihe, bereit, einander zu bestätigen.

»Nun sollte ich Ihnen wohl zunächst einmal klarmachen«, sagte der Inspektor fröhlich, »daß es keinem guttut, wenn er mir mit irgendwelchem Wunderquatsch kommt. Ich bin ein praktischer Mann und ein Polizist, und die Sorte Zeugs ist höchstens gut für Priester und Pastöre. Dieser Ihr Priester scheint Sie alle mit einer Geschichte über einen furchtbaren Tod und einen Urteilsspruch verrückt gemacht zu haben; ich werde ihn aber mitsamt seiner Religion ganz raushalten. Wenn Wynd aus jenem Zimmer rausgekommen ist, dann hat ihn jemand rausgelassen. Und wenn man Wynd in einem Baum hängend vorgefunden hat, dann hat ihn jemand dahin gehängt.«

»So ist es«, sagte Fenner, »da aber unsere Aussagen beweisen, daß niemand ihn herausgelassen hat, bleibt die Frage, wie irgendwer ihn dahin gehängt haben kann?«

»Wie kann jemand eine Nase im Gesicht haben?« fragte der Inspektor. »Er hatte eine Nase im Gesicht und eine Schlinge um den Hals. Das sind die Tatsachen; und da ich, wie gesagt, ein praktischer Mann bin, halte ich mich an die Tatsachen. Es kann nicht durch ein Wunder getan worden sein, also muß es ein Mensch getan haben.«

Alboin hatte mehr im Hintergrund gestanden; und seine breite Gestalt schien tatsächlich den natürlichen Hintergrund für die schlankeren und beweglicheren Männer vor ihm zu bilden. Sein weißer Kopf war mit einer gewissen Selbstvergessenheit niedergebeugt; als aber der Inspektor seinen letzten Satz gesprochen hatte, hob er ihn, schüttelte seine haarige Mähne wie ein Löwe und sah verdutzt, aber wach um sich. Er bewegte sich vorwärts in die Mitte der Gruppe, und sie hatten den vagen Eindruck, daß er noch massiger als zuvor war. Sie waren nur zu bereit gewesen, ihn als einen Narren oder einen Scharlatan abzutun; aber es war nicht ganz falsch gewesen, als er von sich sagte, in ihm befänden sich gewisse Tiefen an Lunge und Leben, wie ein Westwind, der seine Stärke in sich birgt und eines Tages leichtere Dinge hinwegpusten mag.

»Sie also sind ein praktischer Mann, Mr. Collins«, sagte er in einer Stimme, die zugleich weich und schwer war. »Sie haben in unserer kleinen Unterhaltung bisher mindestens schon zwei- oder dreimal gesagt, daß Sie ein praktischer Mann sind; also kann ich mich darin nicht irren. Und das ist sicherlich eine sehr interessante kleine Tatsache für jemanden, der damit beauftragt ist, Ihr Leben, Ihre Werke und Ihre Tischgespräche aufzuschreiben, mit einem Porträt des Fünfjährigen, einer Daguerreotypie der Großmutter und alten Ansichten Ihrer Vaterstadt; und ich bin sicher, Ihr Biograph wird nicht versäumen, das ebenso zu erwähnen wie die Tatsache, daß Sie eine Knollennase mit einem Pickel darauf hatten und fast zu fett zum Laufen waren. Und da Sie ein praktischer Mann sind, wäre es nett von Ihnen, wenn Sie weiter praktizierten, bis Sie Warren Wynd wieder ins Leben gebracht und herausgefunden haben, wie genau ein praktischer Mann durch eine massive Holztür gehen kann. Aber ich glaube, Sie irren sich. Sie sind kein praktischer Mann. Sie sind ein praktischer Witz; genau das sind Sie. Der Allmächtige machte sich einen Spaß mit uns, als er sich Sie ausgedacht hat.«

Mit einem charakteristischen Sinn für dramatische Effekte segelte er bereits der Tür zu, ehe noch der erstaunte Inspektor antworten konnte; und keine spätere Beschuldigung konnte ihm einen gewissen Anschein von Triumph rauben.

»Ich glaube, Sie haben vollkommen recht«, sagte Fenner. »Wenn das praktische Männer sind, ziehe ich Priester vor.«

Ein weiterer Versuch ward unternommen, eine amtliche Version der Vorgänge zu erhalten, als die Behörden sich klar darüber wurden, wer die Zeugen der Geschichte wirklich waren und was das bedeutete. Schon hatte die Presse die Sache in ihrer sensationellsten und sogar schamlosesten Weise herausgebracht. Interviews mit Vandam über sein wundersames Abenteuer, Artikel über Father Brown und seine mystischen Eingebungen brachten bald jene, die sich für die Anleitung des Publikums verantwortlich fühlten, zu dem Wunsch, es in weisere Kanäle zu leiten. Beim nächsten Mal ging man die unbequemen Zeugen auf eine indirektere und taktvollere Weise an. Man erzählte ihnen auf fast beiläufige Art, daß Professor Vair an solchen ungewöhnlichen Erfahrungen sehr interessiert sei; und daß er besonders an ihrem so erstaunlichen Fall interessiert sei. Professor Vair war ein Psychologe von großem Ruf; er war dafür bekannt, daß er ein unparteiisches Interesse an der Kriminologie hatte; und erst einige Zeit später entdeckten sie, daß er überhaupt mit der Polizei in Beziehung stand.

Professor Vair war ein höflicher Mann, er trug einen ruhigen hellgrauen Anzug, eine künstlerische Krawatte und einen blonden Spitzbart; für jemanden, dem ein bestimmter Typ des Hochschullehrers unbekannt ist, sah er eher wie ein Landschaftsmaler aus. Sein Gesicht drückte nicht allein Höflichkeit, sondern sogar Offenheit aus.

»Ja ja, ich weiß«, sagte er lächelnd, »ich kann mir vorstellen, was Sie durchgemacht haben. Die Polizei zeigt sich bei Untersuchungen psychischer Art nicht in ihrem besten Licht, oder? Natürlich, der gute alte Collins sagt, daß er nur Tatsachen haben will. Welch ein absurder Fehler! In einem Fall dieser Art wünschen wir aufs entschiedenste nicht nur die Tatsachen. Es ist uns viel wesentlicher, auch die Phantasien zu erfahren.«

»Wollen Sie damit sagen«, fragte Vandam gewichtig, »daß alles, was wir Tatsachen nennen, nur Phantasien waren?«

»Keineswegs«, sagte der Professor, »ich wollte nur sagen, daß die Polizei dumm ist, wenn sie sich einbildet, sie könne das psychologische Moment dieser Dinge außer acht lassen. Dabei ist doch das psychologische Element alles in allem, obwohl man das erst jetzt zu begreifen beginnt. Nehmen wir, um damit zu beginnen, das Persönlichkeit genannte Element. Nun habe ich von diesem Priester Father Brown schon früher gehört; und sicherlich ist er einer der bemerkenswertesten Männer unserer Zeit. Männer dieser Art tragen eine gewisse Art von Atmosphäre mit sich; und niemand weiß bis anhin, wie sehr Nerven und sogar Sinne durch sie beeinflußt werden. Die Leute sind hypnotisiert – ja, hypnotisiert; denn auch Hypnose ist wie alles andere eine Frage des Grades; sie schleicht sich leicht in alle Alltagsgespräche ein: Sie braucht nicht unbedingt von einem Herrn im Smoking auf einer Bühne in einem Varieté vorgeführt zu werden. Father Browns Religion hat schon immer die Psychologie des Atmosphärischen verstanden und weiß, wie sie alles gleichzeitig anspricht; selbst zum Beispiel den Geruchssinn. Sie versteht jene eigenartigen Wirkungen, die Musik auf Tiere und Menschen ausübt; sie kann – «

»Hol’s der Henker«, protestierte Fenner, »glauben Sie denn, er wäre mit einer Kirchenorgel unterm Arm den Korridor hinabspaziert?«

»Er ist zu klug, um so was zu tun«, sagte Professor Vair lachend. »Er weiß, wie man die Essenz all dieser geistigen Töne und Ansichten und sogar Gerüche in einige wenige zurückhaltende Gesten konzentriert; in eine Kunst oder Schule des Verhaltens. Er könnte Ihren Geist allein durch die Tatsache seiner Gegenwart so auf das Übernatürliche konzentrieren, daß Natürliches rechts und links an Ihrem Geist unbemerkt vorüberglitte. Nun müssen Sie wissen«, fuhr er fort und kehrte in eine heitere Vernünftigkeit zurück, »daß die Frage menschlicher Bezeugungen um so sonderbarer wird, je mehr wir sie studieren. Nicht einer unter 20 nimmt Dinge überhaupt wahr. Nicht einer unter 100 nimmt sie wirklich genau wahr; und sicherlich kann nicht einer unter 100 zunächst wahrnehmen, sich dann erinnern und schließlich beschreiben. Immer und immer wiederholte wissenschaftliche Experimente haben erwiesen, daß Menschen unter Druck geglaubt haben, eine Tür sei geschlossen, wenn sie offen war, oder offen, wenn sie geschlossen war. Menschen waren sich uneins über die Anzahl von Türen oder Fenstern in einer Mauer ihnen direkt gegenüber. Sie erlitten bei hellem Tageslicht optische Täuschungen. Ihnen widerfuhr das sogar ohne die hypnotische Wirkung von Persönlichkeit; hier aber haben wir eine ungemein kraftvolle und überzeugende Persönlichkeit, die darauf aus ist, ein ganz bestimmtes Bild in Ihrem Geist zu fixieren; das Bild eines wilden irischen Rebellen, der seine Pistole wider den Himmel schüttelt und jene schußlose Salve abfeuert, dessen Echo der Donner vom Himmel war.«

»Professor«, schrie Fenner, »ich werd noch auf meinem Sterbebett beschwören, daß jene Tür niemals geöffnet wurde.«

»Jüngste Versuche«, fuhr der Professor ruhig fort, »haben den Verdacht nahegelegt, daß unser Bewußtsein nicht beständig ist, sondern aus einer Folge sehr schneller Eindrücke besteht, etwa wie ein Film; es ist möglich, daß jemand oder etwas sozusagen zwischen den Szenen herein- oder hinausschlüpft. Das geschieht nur in den Augenblicken, in denen der Vorhang zu ist. Wahrscheinlich beruhen alle Zauberei und alle Taschenspielertricks auf dem, was wir schwarze Blitze oder die Blindheit zwischen den Sichtblitzen nennen können. Nun hat Sie dieser Priester und Prediger transzendentaler Vorstellungen ganz mit einer transzendentalen Bilderwelt erfüllt; mit dem Bild des Kelten, wie er gleich einem Titan den Turm durch seinen Fluch erschüttert. Vermutlich hat er das mit leichten, aber zwingenden Gesten begleitet, die Ihre Augen und Ihren Geist in die Richtung zum unbekannten Zerstörer drunten lenkten. Oder vielleicht geschah sonst etwas, oder sonstwer kam vorüber.«

»Wilson der Diener«, knurrte Alboin, »ging den Korridor hinab, um dort auf der Bank zu warten, aber ich schätze, er hat uns nicht sehr abgelenkt.«

»Wie sehr, werden Sie nie wissen«, erwiderte Vair; »vielleicht war es das, oder wahrscheinlicher noch, daß Ihre Blicke irgendwelchen Gesten des Priesters folgten, als er Ihnen sein Märchen von Magie erzählte. Und in einem dieser schwarzen Blitze schlüpfte Mr. Warren Wynd aus seiner Tür und ging in seinen Tod. Das ist die wahrscheinlichste Erklärung. Es ist eine Veranschaulichung der neuen Entdeckung. Der Geist ähnelt nicht einer durchgezogenen Linie, sondern einer gepunkteten Linie.«

»Sehr gepunktet«, sagte Fenner schwach. »Um nicht zu sagen bekloppt.«

»Sie glauben doch wohl nicht wirklich«, fragte Vair, »daß Ihr Arbeitgeber in einem Zimmer wie in einem Kasten eingeschlossen war?«

»Besser als zu glauben, daß ich in ein Zimmer mit Gummiwänden eingeschlossen gehörte«, antwortete Fenner. »Darüber, Professor, beklage ich mich bei Ihren Vermutungen. Ich könnte genausogut einem Priester glauben, der an ein Wunder glaubt, wie irgendeinem Manne nicht zu glauben, der irgendein Recht hat, an irgendeine Tatsache zu glauben. Der Priester erzählt mir, daß ein Mann einen Gott anrufen kann, von dem ich nichts weiß, er möge ihn nach den Gesetzen einer höheren Gerechtigkeit rächen, von der ich nichts weiß. Ich kann dazu nicht mehr sagen, als daß ich davon nichts weiß. Wenn aber jenes armen Iren Gebet und Gewehr schließlich doch in einer höheren Welt vernommen wurden, könnte jene höhere Welt auf eine Weise gehandelt haben, die uns verquer erscheint. Sie aber fordern mich auf, den Tatsachen dieser Welt nicht zu glauben, wie sie meinen fünf Sinnen erscheinen. Ihnen zufolge hätte ja eine ganze Prozession Iren mit Donnerbüchsen durch dieses Zimmer marschieren können, während wir miteinander sprachen, solange sie nur darauf achteten, daß sie lediglich auf die blinden Flecken in unserem Geist traten. Wunder von der mönchischen Art wie das Materialisieren von Krokodilen oder das Aufhängen von Mänteln an Sonnenstrahlen scheinen mir im Vergleich zu Ihnen geradezu vernünftig zu sein.«

»Na schön«, sagte Professor Vair kurz, »wenn Sie entschlossen sind, an Ihren Priester und seinen mirakulösen Iren zu glauben, kann ich nichts mehr sagen. Ich fürchte, Sie hatten keine Gelegenheit, Psychologie zu studieren.«

»Nein«, sagte Fenner trocken, »aber ich hatte eine Gelegenheit, Psychologen zu studieren.«

Und führte, indem er sich höflich verneigte, seine Abordnung aus dem Zimmer und sagte kein einziges Wort, ehe er nicht auf der Straße war; dann sprach er sie reichlich explosiv an.

»Diese Irren!« schrie Fenner in aufbrausendem Zorn. »Was zum Teufel bilden die sich ein geschieht mit der Welt, wenn niemand weiß, ob er etwas gesehen hat oder nicht? Ich wünschte, ich hätte ihm seinen blöden Schädel mit einer Platzpatrone weggeschossen und dann erklärt, ich hätte das in einem blinden Blitz getan. Father Browns Wunder mag wunderbar sein oder nicht, aber er hat gesagt, es werde geschehen, und es geschah. Alles, was diese verdammten Spinner können, ist zusehen, wie sich etwas ereignet, und dann behaupten, es habe sich nicht ereignet. Hören Sie, ich glaube, wir sind es dem Padre schuldig, daß wir seine kleine Vorführung bezeugen. Wir sind alle vernünftige, solide Männer, die nie an irgendwas geglaubt haben. Wir waren nicht betrunken. Wir waren nicht fromm. Es ist ganz einfach geschehen, wie er es vorausgesagt hat.«

»Ganz meine Meinung«, sagte der Millionär. »Vielleicht ist das der Anfang von mächtig großen Dingen auf der spirituellen Linie; aber jedenfalls hat der Mann, der selbst auf der spirituellen Linie ist, Father Brown, bei diesem Geschäft mit Sicherheit Pluspunkte gemacht.«

Einige Tage danach erhielt Father Brown eine sehr höfliche Note, gezeichnet von Silas T. Vandam, die ihn bat, zu einer bestimmten Stunde in jenem Apartment zu erscheinen, das die Szene des Verschwindens war, um die notwendigen Schritte zu unternehmen, jenes wundersame Ereignis festzuhalten. Das Ereignis selbst begann bereits, sich in den Zeitungen auszubreiten, und überall bemächtigten sich die Anhänger des Okkulten seiner. Father Brown erblickte die schreienden Plakate mit Aufschriften wie »Selbstmord des Mannes, der sich in Luft auflösen konnte« und »Fluch hängt Philanthropen«, als er auf dem Wege nach Moon Crescent vorüberkam und die Treppen auf dem Weg zum Aufzug hinaufstieg. Er fand die kleine Gruppe ziemlich genau so vor, wie er sie verlassen hatte, Vandam, Alboin und den Sekretär; aber in ihrem Ton ihm gegenüber war eine ganz neue Hochachtung und sogar Verehrung. Sie standen an Wynds Schreibtisch, auf dem ein großer Papierbogen und Schreibgeräte lagen, als sie sich umdrehten, um ihn zu begrüßen.

»Father Brown«, sagte der Sprecher, der weißhaarige Westmann, durch seine Verantwortlichkeit einigermaßen ernüchtert, »wir haben Sie in erster Linie hergebeten, um Sie um Entschuldigung zu bitten und Ihnen unseren Dank abzustatten. Wir anerkennen, daß Sie es waren, der die spirituelle Manifestation von Anfang an erkannte. Wir alle waren in der Schale hartgesottene Skeptiker; aber jetzt erkennen wir, daß ein Mann zunächst diese Schale durchbrechen muß, um zu den großen Dingen hinter der Welt vorzudringen. Sie stehen für diese Dinge ein; Sie treten für die paranormale Erklärung der Dinge ein; und wir müssen uns vor Ihnen verneigen. Und in zweiter Linie haben wir Sie hergebeten, weil wir meinen, daß dieses Dokument ohne Ihre Unterschrift nicht vollständig wäre. Darin unterbreiten wir die exakten Tatsachen der Gesellschaft für Para-Forschung, denn die Zeitungsberichte sind nicht gerade das, was man exakt nennen könnte. Wir haben niedergelegt, wie der Fluch in der Straße ausgesprochen wurde; wie der Mann sich hier in einem Zimmer eingeschlossen befand wie in einem Kasten, wie der Fluch ihn unmittelbar in Luft auflöste und auf eine unausdenkbare Weise als Selbstmörder am Galgen wieder materialisierte. Das ist alles, was wir dazu sagen können; aber alles das wissen wir und haben es mit eigenen Augen gesehen. Und da Sie der erste waren, der an das Wunder glaubte, sind wir alle der Ansicht, daß Sie auch der erste sein sollten, zu unterschreiben.«

»Aber nicht doch«, sagte Father Brown in heftiger Verwirrung. »Ich glaube wirklich nicht, daß ich das tun möchte.«

»Heißt das, Sie wollen nicht als erster unterschreiben?«

»Ich meine, ich möchte gar nicht unterschreiben«, sagte Father Brown bescheiden. »Wissen Sie, für einen Mann in meiner Position schickt es sich nicht, über Wunder zu scherzen.«

»Aber Sie waren es doch, der sagte, es sei ein Wunder«, sagte Alboin und starrte ihn an.

»Tut mir leid«, sagte Father Brown, »aber ich fürchte, daß es sich hier um einen Irrtum handelt. Ich glaube nicht, daß ich je gesagt habe, es sei ein Wunder. Alles, was ich gesagt habe, war, daß es sich ereignen könnte. Sie haben dann gesagt, es könne sich nicht ereignen, denn es wäre ein Wunder, wenn es doch geschähe. Und dann geschah es. Und deshalb haben Sie gesagt, es sei ein Wunder. Aber ich habe von Anfang bis Ende nie ein Wort gesagt über Wunder oder Zauberei, oder etwas dergleichen.«

»Aber ich dachte, Sie glauben an Wunder«, brach es aus dem Sekretär heraus.

»Ja«, sagte Father Brown, »ich glaube an Wunder. Ich glaube an menschenfressende Tiger, aber ich sehe sie nicht überall herumlaufen. Wenn ich mir Wunder wünsche, weiß ich, wo ich sie bekommen kann.«

»Ich kann nicht verstehen, wie Sie diese Haltung einnehmen können, Father Brown«, sagte Vandam ernsthaft. »Das erscheint so engstirnig; und Sie erscheinen mir gar nicht engstirnig, auch wenn Sie wie ein Pastor aussehen. Begreifen Sie denn nicht, daß ein Wunder wie dieses den Materialismus endgültig erledigt? Es bezeugt der ganzen Welt in riesigen Schlagzeilen, daß spirituelle Kräfte wirken können und wirklich wirken. Damit würden Sie der Religion einen Dienst erweisen, wie ihn ihr noch nie ein Pastor erwiesen hat.«

Der Priester hatte sich ein wenig versteift und schien auf eine eigenartige Weise trotz seiner plumpen Gestalt in eine unbewußte und unpersönliche Würde gehüllt. »Aber«, sagte er, »Sie wollen doch nicht etwa, daß ich der Religion durch etwas diene, von dem ich genau weiß, daß es eine Lüge ist? Ich weiß nicht genau, was Sie mit dem Satz gemeint haben; und, um ehrlich zu sein, weiß ich auch nicht, ob Sie das tun. Lügen mag der Religion dienen; aber ich bin sicher, daß es nicht Gott dient. Und da Sie so sehr darauf herumharfen, was ich glaube, wäre es da nicht angebracht, wenn Sie wenigstens eine Ahnung davon bekämen, was das ist?«

»Ich glaube nicht, daß ich Sie ganz verstehe«, bemerkte der Millionär neugierig.

»Ich glaube nicht, daß Sie das tun«, sagte Father Brown einfach. »Sie sagen, diese Geschichte sei durch spirituelle Kräfte geschehen. Welche spirituellen Kräfte? Sie glauben doch nicht etwa, die heiligen Engel hätten ihn sich geschnappt und in den Parkbaum gehängt, oder? Und was die unheiligen Engel angeht – nein, nein, nein. Die Männer, die das taten, taten ein böses Ding, aber sie gingen nicht über ihre eigene Bosheit hinaus; sie waren nicht böse genug, um mit spirituellen Kräften umzugehen. Ich weiß, bei meinen Sünden, einiges über den Satanismus; ich war gezwungen, es zu wissen. Ich weiß, was das ist, was es praktisch immer ist. Es ist stolz, und es ist verschlagen. Es liebt es, überlegen zu sein; es liebt es, die Unschuldigen mit halbverstandenen Dingen zu entsetzen, den Kindern Gänsehaut zu verursachen. Deshalb liebt es Mysterien und Initiationen und Geheimgesellschaften und all das andere so sehr. Seine Augen sind nach innen gewendet, und wie groß und erhaben es auch erscheinen mag, es verbirgt immer ein kleines verrücktes Lächeln.« Er schauerte plötzlich zusammen, als habe ihn ein eiskalter Luftzug getroffen. »Kümmern Sie sich nicht um die; sie haben mit dem hier nichts zu tun, glauben Sie mir. Glauben Sie denn, daß mein armer wilder Ire, der wie rasend die Straße herabrannte und die Hälfte der Geschichte heraussprudelte, als er nur mein Gesicht sah, und der davonlief vor lauter Angst, noch mehr herauszusprudeln, glauben Sie, daß Satan dem irgendwelche Geheimnisse anvertraut? Ich gebe zu, daß er sich an einer Verschwörung beteiligte, wahrscheinlich an einer Verschwörung mit zwei anderen Männern, die schlimmer sind als er; aber trotz allem befand er sich nur in einem ungeheuren Zorn, als er die Straße hinabrannte und seine Pistole und seinen Fluch losfeuerte.«

»Aber was auf Erden soll denn das alles bedeuten?« fragte Vandam. »Eine Spielzeugpistole und einen lächerlichen Fluch abzufeuern würde niemals getan haben, was getan worden ist, es sei denn durch ein Wunder. Sonst hätte es Wynd nicht wie einen Elf verschwinden lassen. Sonst hätte es ihn nicht eine Viertelmeile weiter mit einem Strick um den Hals wieder auftauchen lassen.«

»Nein«, sagte Father Brown scharf; »aber was hätte es getan?«

»Ich kann Ihnen immer noch nicht folgen«, sagte der Millionär ernsthaft.

»Ich frage, was hätte es getan?« wiederholte der Priester und zeigte zum ersten Mal Anzeichen einer Bewegung, die an Ärger grenzte. »Sie wiederholen ständig, daß der Schuß mit einer Platzpatrone dieses oder jenes nicht tun würde; daß, wenn das alles wäre, der Mord nicht geschehen wäre oder das Wunder nicht geschehen wäre. Es scheint Ihnen nicht einzufallen, zu fragen, was wirklich geschehen würde. Was würde geschehen, wenn ein Verrückter genau unter Ihrem Fenster ohne Sinn und Verstand losfeuerte? Was wäre das allererste, was geschähe?«

Vandam blickte nachdenklich drein. »Ich schätze, ich würde aus dem Fenster schauen«, sagte er.

»Ja«, sagte Father Brown, »Sie würden aus dem Fenster schauen. Das ist die ganze Geschichte. Es ist eine traurige Geschichte; aber jetzt ist sie vorüber; und außerdem gibt es mildernde Umstände.«

»Wieso sollte er aber zu Schaden kommen, nur indem er aus dem Fenster schaute?« fragte Alboin. »Er stürzte nicht hinaus, sonst wäre er unten in der Straße gefunden worden.«

»Nein«, sagte Father Brown mit leiser Stimme. »Er stürzte nicht ab. Er stieg empor.«

In seiner Stimme war etwas wie das Grollen eines Gongs, wie ein Klang des Schicksals, sonst aber fuhr er gleichmäßig fort:

»Er stieg empor, aber nicht auf Flügeln; nicht auf den Flügeln heiliger oder unheiliger Engel. Er stieg empor am Ende eines Strickes, genau so, wie Sie ihn im Park gesehen haben; eine Schlinge senkte sich ihm über den Kopf im gleichen Augenblick, in dem er ihn aus dem Fenster streckte. Erinnern Sie sich nicht an Wilson, seinen großen Diener, ein Mann von riesiger Stärke, während Wynd so klein und leicht wie eine Krabbe war? Ist nicht Wilson in die Etage darüber gestiegen, um eine Flugschrift zu holen, aus einem Zimmer voller Gepäck, das mit Stricken über Stricken verschnürt war? Hat man Wilson seit jenem Tag noch einmal gesehen? Ich glaube nicht.«

»Sie meinen«, fragte der Sekretär, »daß Wilson ihn sich direkt aus dem Fenster geangelt hat wie eine Forelle an der Angelschnur?«

»Ja«, sagte der andere, »und ließ ihn dann wiederum aus dem anderen Fenster hinab in den Park, wo der dritte Komplize ihn in einen Baum hing. Erinnern Sie sich, daß die Straße immer leer war; erinnern Sie sich, daß die gegenüberliegende Wand völlig kahl ist; erinnern Sie sich, daß alles knapp 5 Minuten, nachdem der Ire mit der Pistole das Zeichen gegeben hatte, vorüber war. Natürlich waren sie zu dritt; und ich frage mich, ob Sie sie nicht alle erraten können.«

Alle drei starrten das einfache viereckige Fenster und die kahle weiße Wand dahinter an; und niemand antwortete.

»Übrigens«, fuhr Father Brown fort, »denken Sie nicht, daß ich Ihnen Vorwürfe machte, weil Sie so schnell zu übernatürlichen Schlußfolgerungen fanden. Der Grund dafür ist wirklich sehr einfach. Sie haben alle geschworen, daß Sie in der Schale hartgesottene Materialisten seien; und in Wirklichkeit balancierten Sie alle am Rande des Glaubens – des Glaubens an fast alles. Tausende balancieren heute so; aber es ist eine sehr scharfe und unbequeme Kante, wenn man daraufsitzt. Sie werden keine Ruhe finden, ehe Sie nicht irgend etwas glauben; deshalb ist Mr. Vandam die neuen Religionen mit einem Läusekamm durchgegangen, und deshalb zitiert Mr. Alboin die Bibel im Dienste seiner Religion der Atemübungen, und deshalb grollt Mr. Fenner demselben Gott, den er leugnet. Darin sind Sie alle gespalten; es ist natürlich, ans Übernatürliche zu glauben. Es erscheint nie natürlich, nur Natürliches anzunehmen. Und obgleich es nur eines kleinen Anstoßes bedurfte, um Sie in diesen Dingen ins Widernatürliche zu stoßen, waren diese Dinge doch nur natürliche Dinge. Sie waren nicht nur natürlich, sie waren auch fast unnatürlich einfach. Ich glaube, es hat niemals eine Geschichte gegeben, die so einfach wie diese war.«

Fenner lachte und sah dann verwirrt aus. »Eins verstehe ich nicht«, sagte er. »Wenn es Wilson war, wie kam dann Wynd dazu, sich einen Mann unter so intimen Umständen zu halten? Wie kam es, daß ihn ein Mann umbrachte, den er seit Jahren täglich gesehen hat? Er war berühmt für seine Beurteilung von Menschen?«

Father Brown stieß seinen Regenschirm mit einer Heftigkeit auf den Boden, die man selten an ihm sah.

»Ja«, sagte er fast wütend, »deshalb wurde er umgebracht. Genau dafür wurde er umgebracht. Er wurde umgebracht, weil er ein Verurteiler von Menschen war.«

Sie alle starrten ihn an, aber er fuhr fort, fast so, als seien sie gar nicht anwesend.

»Was ist denn der Mensch, daß er der Beurteiler von Menschen wäre?« fragte er. »Die drei waren diese Landstreicher, die einst vor ihm standen und blitzschnell zur Rechten und zur Linken auf diesen oder jenen Platz gewiesen wurden; als ob es für sie keine Höflichkeit, keine Stufen der Vertrautheit, keinen freien Willen zur Freundschaft gäbe. Und 20 Jahre konnten die Empörung nicht erschöpfen, die aus jener bodenlosen Beleidigung in jenem Augenblick entstand, da er sich erdreistete zu glauben, er könne sie auf einen Blick erkennen.«

»Ja«, sagte der Sekretär, »ich verstehe… und ich verstehe, wieso Sie alle Arten Dinge verstehen.«

»Ich aber will verflucht sein, wenn ich verstehe«, schrie der lärmige Westmensch stürmisch. »Ihr Wilson und Ihr Ire scheinen mir nur ein paar gurgelschlitzender Mörder zu sein, die ihren Wohltäter umgebracht haben. Ich habe keinen Platz für solche verräterischen und blutigen Meuchler in meiner Moral, ob sie nun eine Religion ist oder nicht.«

»Er war ein verräterischer und blutiger Meuchler, kein Zweifel«, sagte Fenner ruhig. »Ich verteidige ihn nicht; aber ich nehme an, daß es Father Browns Geschäft ist, für alle Menschen zu beten, selbst für einen Mann wie – «

»Ja«, stimmte Father Brown zu, »es ist mein Geschäft, für alle Menschen zu beten, selbst für einen Mann wie Warren Wynd.«