Das eigentümliche Verbrechen
von John Boulnois

 

Mr. Calhoun Kidd war ein sehr junger Herr mit einem sehr alten Gesicht, einem von seinem eigenen Eifer ausgetrockneten Gesicht, von schwarzblauem Haar und einer schwarzen Fliege umrahmt. Er war der nach England entsandte Platzhalter der gewaltigen amerikanischen Tageszeitung ›Western Sun‹ – spöttisch auch als »der aufgehende Sonnenuntergang« bezeichnet. Das war eine Anspielung auf die bedeutende journalistische Deklaration (die man Mr. Kidd selbst zuschrieb), daß »er der Meinung ist, die Sonne würde auch im Westen aufgehen, wenn die amerikanischen Bürger sich nur ein wenig mehr sputen würden«. Jene aber, die sich vom Standpunkt gereifterer Traditionen über den amerikanischen Journalismus lustig machen, vergessen ein gewisses Paradoxon, das dies teilweise wieder aufwiegt. Denn wenngleich der Journalismus in den Staaten eine pantomimische Vulgarität gestattet, über die alles Englische längst hinaus ist, zeigt er ebenso eine wahre Begeisterungsfähigkeit für die ernsthaftesten geistigen Probleme, zu der englische Zeitungen zu unschuldig oder besser unfähig sind. Die ›Sun‹ war voll der ernsthaftesten Themen, die auf die possenhafteste Weise behandelt wurden. William James tauchte dort ebenso auf wie »Weary Willie«, und Pragmatiker wechselten sich mit Pugilisten in der langen Prozession ihrer Porträts ab.

Als daher ein sehr unauffälliger Professor zu Oxford namens John Boulnois in einer sehr unlesbaren Zeitschrift namens ›Natural Philosophy Quarterly‹ eine Artikelserie über angebliche Schwachpunkte in Darwins Entwicklungstheorie veröffentlichte, bewegte sich kein Blatt im englischen Blätterwald, obwohl Boulnois Theorie (von einem wesentlich statischen Universum, das von Zeit zu Zeit von Konvulsionen der Veränderung heimgesucht wird) in Oxfords feinen Kreisen fashionable war und dort sogar den Namen »Katastrophismus« erhielt. Viele amerikanische Zeitungen aber griffen diese Herausforderung als bedeutendes Ereignis auf; und die ›Sun‹ warf den Schatten von Mr. Boulnois gigantisch über ihre Seiten. Durch das bereits genannte Paradoxon geschah es nun, daß Artikel von beachtlicher Intelligenz und Begeisterungsfähigkeit unter Schlagzeilen erschienen, die offensichtlich ein illiterater Wahnsinniger verfaßt hatte; Schlagzeilen wie »Darwin kaut Dreck; Kritiker Boulnois kommt Schocks zuvor« – oder »Seid katastrophenbewußt, rät Denker Boulnois«. Und Mr. Calhoun Kidd von der ›Western Sun‹ ward angewiesen, sich mit Fliege und Leichenbittermiene zu jenem kleinen Hause außerhalb Oxfords zu begeben, in dem Denker Boulnois in glücklicher Unkenntnis eines solchen Titels lebte.

Dieser von den Schicksalsmächten auserkorene Philosoph hatte ziemlich verwirrt zugestimmt, den Interviewer zu empfangen, und hatte die neunte Stunde jenes Abends dafür angesetzt. Die letzten Strahlen eines Sommersonnenuntergangs hingen über Cumnor und den niedrigen bewaldeten Hügeln; der romantische Yankee war sich seines Weges nicht sicher und neugierig auf die Umgebung; und da er die Tür eines echten feudalen altländlichen Gasthofs, ›The Champion Arms‹, offenstehen sah, trat er ein, um Erkundungen einzuziehen.

In der Schankstube läutete er und hatte einige Zeit auf Antwort zu warten. Die einzige andere anwesende Person war ein hagerer Mann mit dichtem rotem Haar und lockerer, sportlicher Kleidung, der sehr schlechten Whisky trank, aber eine sehr gute Zigarre rauchte. Der Whisky war natürlich die Hausmarke von ›The Champion Arms‹; die Zigarre hatte er sich wahrscheinlich aus London mitgebracht. Nichts hätte widersprüchlicher sein können als seine zynische Saloppheit und die gewandte Nüchternheit des jungen Amerikaners; aber irgend etwas an seinem Bleistift und offenen Notizbuch, und vielleicht im Ausdruck seiner lebhaften blauen Augen, veranlaßte Kidd dazu, zutreffend zu vermuten, daß er ein Bruder im Journalismus sei.

»Würden Sie mir den Gefallen tun«, sagte Kidd mit der ganzen Höflichkeit seiner Nation, »und mir den Weg zum Grey Cottage weisen, wo meines Wissens Mr. Boulnois lebt?«

»Paar Meter die Straße runter«, sagte der rothaarige Mann und entfernte seine Zigarre; »ich werd da selbst in ein paar Minuten vorbeikommen, aber ich will weiter zum Pendragon Park und mir den Spaß ansehen.«

»Was ist der Pendragon Park?« fragte Calhoun Kidd.

»Der Besitz von Sir Claude Champion – sind Sie denn nicht auch deswegen hergekommen?« fragte der andere Pressemann und blickte auf. »Sie sind doch Journalist, oder?«

»Ich bin gekommen, um Herrn Boulnois zu sehen«, sagte Kidd.

»Ich bin gekommen, um Frau Boulnois zu sehen«, erwiderte der andere. »Aber ich werde sie kaum zu Hause erwischen.« Und er lachte ziemlich unerfreulich.

»Sind Sie am Katastrophismus interessiert?« erkundigte sich der verwunderte Yankee.

»Ich bin an Katastrophen interessiert; und es wird ein paar geben«, erwiderte sein Genosse düster. »Ich betreibe ein schmutziges Geschäft, und hab nie was anderes behauptet.«

Damit spie er auf den Boden; und doch konnte man gerade an Tat und Zeitpunkt erkennen, daß der Mann als Gentleman erzogen worden war.

Der amerikanische Pressemann betrachtete ihn aufmerksamer. Sein Gesicht war fahl und verwüstet und verriet die Fähigkeit zum Ausbruch beachtlicher Leidenschaften; aber es war ein kluges und feinfühliges Gesicht; seine Kleidung war grob und nachlässig, aber er trug einen wertvollen Siegelring an einem seiner langen dünnen Finger. Sein Name war, wie sich im Gespräch herausstellte, James Dalroy; er war der Sohn eines bankrotten irischen Grundbesitzers und arbeitete für ein Blatt der Regenbogenpresse namens ›Die feine Gesellschaft‹, das er von Herzen verabscheute, als Reporter und als etwas einem Spion schmerzlich Ähnliches.

›Die feine Gesellschaft‹, ich bedaure, das sagen zu müssen, empfand nichts von dem Interesse an Boulnois oder Darwin, das Herz und Hirn der ›Western Sun‹ solche Ehre machte. Dalroy war offenbar hergekommen, um die Spur eines Skandals auszuschnüffeln, die leicht vor dem Scheidungsrichter enden konnte, sich aber gegenwärtig zwischen Grey Cottage und Pendragon Park erstreckte.

Sir Claude Champion war den Lesern der ›Western Sun‹ ebenso bekannt wie Mr. Boulnois. So wie der Papst und der Derby-Sieger; aber die Vorstellung, diese beiden könnten sich näher kennen, wäre Kidd als ebenso absurd vorgekommen. Er hatte über Sir Claude Champion reden gehört (und über ihn geschrieben, gar fälschlich vorgegeben, ihn zu kennen) als »einen der blendendsten und wohlhabendsten von Englands Oberen Zehn«; als den großen Sportsmann, der Rennjachten rund um die Welt segelte; als den großen Reisenden, der Bücher über den Himalaja schrieb; als den Politiker, der Wählermassen mit einer aufregenden Variante von Tory-Demokratie anzog; als den großen Liebhaber der Künste, der Musik, der Literatur und, vor allem, der Schauspielkunst. Sir Claude war wirklich in den Augen aller außer der Amerikaner großartig. In seiner alles verschlingenden Kultur und seiner rastlosen Sucht nach Öffentlichkeit war etwas von einem Renaissancefürsten; er war nicht nur ein hervorragender, er war sogar ein glühender Amateur. An ihm war nichts von jener altertümelnden Oberflächlichkeit, die wir mit dem Begriff des »Dilettanten« verbinden.

Jenes makellose Falkenprofil mit den brillantschwarzen italienischen Augen, das so oft sowohl für ›Die Feine Gesellschaft‹ wie für die ›Western Sun‹ geschnappschußt worden war, vermittelte jedermann den Eindruck eines Mannes, den der Ehrgeiz wie ein Feuer oder gar wie eine Seuche zerfraß. Aber obwohl Kidd viel über Sir Claude wußte – tatsächlich mehr, als es zu wissen gab –, wäre es ihm selbst in seinen wildesten Träumen nicht eingefallen, diesen so glänzenden Aristokraten mit jenem jüngst erst ausgegrabenen Begründer des Katastrophismus in Beziehung zu bringen oder zu ahnen, daß Sir Claude Champion und John Boulnois enge Freunde seien. Das aber war, nach Dalroys Bericht, dennoch eine Tatsache. Die beiden hatten zusammen Schule und Universität besucht, und obwohl ihre gesellschaftlichen Geschicke sich gänzlich unterschiedlich gestalteten (denn Champion war Großgrundbesitzer und nahezu Millionär, während Boulnois ein armer und bis vor kurzem auch noch unbekannter Gelehrter war), waren sie doch in engem Kontakt miteinander geblieben. Boulnois’ Cottage stand sogar unmittelbar vor den Toren von Pendragon Park.

Ob aber die beiden Männer noch sehr viel länger Freunde bleiben könnten, wurde zu einer dunklen und häßlichen Frage. Ein oder zwei Jahre zuvor hatte Boulnois eine wunderschöne und nicht erfolglose Schauspielerin geheiratet, der er auf seine schüchterne und schwerfällige Weise ergeben war; und die Nähe zu Champions Haushaltung hatte jener koketten Berühmtheit Gelegenheit geboten, sich in einer Weise aufzuführen, die nur schmerzliche und ziemlich niedrige Aufregung auslösen konnte. Sir Claude hatte die Kunst der Publicity zur Perfektion entwickelt; und er schien ein verrücktes Vergnügen daran zu finden, gleichermaßen aufsehenerregend eine geheime Liebesbeziehung durchzuspielen, die ihm auf keinen Fall zur Ehre gereichen konnte. Diener aus Pendragon überbrachten ständig Blumengebinde für Mrs. Boulnois; Kaleschen und Autos holten ständig Mrs. Boulnois im Cottage ab; Bälle und Maskenfeste erfüllten ständig die Anlagen, in denen der Freiherr Mrs. Boulnois wie die Königin der Liebe und Schönheit eines Minneturniers vorführte. Jenen speziellen Abend, den Mr. Kidd für die Darlegung des Katastrophismus vorgesehen hatte, hatte Sir Claude für eine Freiluftaufführung von Romeo und Julia vorgesehen, bei der er den Romeo einer Julia zu spielen hatte, deren Namen zu nennen unnötig ist.

»Ich glaub nicht, daß das ohne Krach so weitergehen kann«, sagte der junge Mann mit dem roten Haar, stand auf und reckte sich. »Der alte Boulnois kann in die Enge getrieben sein – oder er kann anständig sein. Aber wenn er anständig ist, ist er strohdumm. Doch das kann ich nicht für möglich halten.«

»Er ist ein Mann von großer geistiger Kraft«, sagte Calhoun Kidd mit tiefer Stimme.

»Ja«, antwortete Dalroy; »aber selbst ein Mann von großer geistiger Kraft kann nicht so ein blinder Blödian sein. Müssen Sie schon gehn? Ich werd Ihnen in ein oder zwei Minuten nachkommen.«

Calhoun Kidd aber, der seine Milchsoda ausgetrunken hatte, machte sich rasch auf den Weg zum Grey Cottage und ließ seinen zynischen Informanten bei Whisky und Tabak. Das letzte Tageslicht war erloschen; der Himmel war von dunklem Grüngrau, wie aus Schiefer, und hie und da mit einem Stern besteckt, am linken Himmelsrand aber lichter, was auf den aufgehenden Mond hinwies.

Grey Cottage stand sozusagen verschanzt in einem Viereck aus starren hohen Dornenhecken und so nahe den Kiefern und Palisaden des Parks, daß Kidd es zunächst für das Pförtnerhäuschen hielt. Als er dann aber den Namen auf dem schmalen Holztor fand und auf seiner Uhr sah, daß die Stunde der Verabredung mit dem »Denker« soeben geschlagen hatte, trat er ein und klopfte an die Vordertür. Als er innerhalb der Hecke war, konnte er sehen, daß das Haus, obwohl unscheinbar genug, doch größer und luxuriöser war, als es zunächst aussah, und etwas ganz anderes als ein Pförtnerhäuschen. Eine Hundehütte und ein Bienenstock standen davor wie Symbole des alten englischen Landlebens; der Mond ging hinter einer schönen Birnbaumpflanzung auf; der Hund, der aus seiner Hütte kam, war ehrerbietig und zurückhaltend mit Bellen; und der einfache ältliche Diener, der die Tür öffnete, war ebenso wortkarg wie würdevoll.

»Mr. Boulnois hat mich beauftragt, Ihnen seine Entschuldigung auszurichten«, sagte er, »aber er sah sich gezwungen, plötzlich auszugehen.«

»Hören Sie mal zu, ich habe aber eine Verabredung«, sagte der Interviewer mit lauter werdender Stimme. »Wissen Sie denn, wo er hingegangen ist?«

»Nach Pendragon Park, Sir«, sagte der Diener düster und begann, die Tür zu schließen.

Kidd fuhr ein bißchen zusammen.

»Ist er mit Mrs…. mit den übrigen hingegangen?« fragte er vage.

»Nein, Sir«, sagte der Mann kurz; »er blieb zurück, und ging dann allein aus.« Und er schloß brutal die Tür, doch mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er seine Pflicht nicht getan.

Der Amerikaner, diese eigenartige Zusammensetzung aus Unverfrorenheit und Feinfühligkeit, war verärgert. Er fühlte ein starkes Verlangen, sie alle aufzuscheuchen und ihnen Geschäftsmanieren beizubringen; dem angegrauten alten Hund und dem ergrauten, schwergesichtigen alten Diener mit seinem vorsintflutlichen Vorsteckhemd, und dem schläfrigen alten Mond, und vor allem diesem zerstreuten alten Philosophen, der seine Verabredung nicht einhalten konnte.

»Wenn der sich so benimmt, dann hat er es verdient, die reinste Anbetung seiner Frau zu verlieren«, sagte Mr. Calhoun Kidd. »Aber vielleicht ist er rübergegangen, um Krach zu schlagen. Für den Fall aber meine ich, sollte ein Mann von der ›Western Sun‹ an Ort und Stelle sein.«

Und indem er um die Ecke in die offenen Parktore bog, zog er los und stapfte die lange Allee schwarzer Föhren hinauf, die in jäher Flucht in die inneren Gärten von Pendragon Park führte. Die Bäume standen so schwarz und ordentlich da wie Federn auf einem Leichenwagen; noch waren einige Sterne zu sehen. Er war ein Mann von eher literarischen als unmittelbaren Naturbeziehungen; so kam ihm das Wort »Rabenwald« wiederholt in den Sinn. Teils kam das von der Rabenfarbe der Föhren; teils aber auch aus einer unbeschreiblichen Stimmung, die in Scotts großer Tragödie fast beschrieben ist; der Ruch nach etwas, das im 18. Jahrhundert gestorben ist; der Ruch von dunklen Gärten und zerbrochenen Urnen, von Falschem, das nun nie mehr gerichtet werden kann; nach etwas, das nicht weniger unheilbar traurig ist, weil es eigenartig unwirklich ist.

Mehr als einmal blieb er, während er diese gepflegte schwarze Straße von tragischer Künstlichkeit hinanschritt, aufgeschreckt stehen, weil er glaubte, er höre Schritte vor sich. Doch konnte er vor sich nichts sehen als die düstere Doppelwand der Föhren und den Keil des Sternenhimmels über ihnen. Zuerst dachte er, er habe sich das eingebildet oder sei auf das Echo seiner eigenen Schritte hereingefallen. Als er aber weiterging, neigte er mehr und mehr dazu, mit den Überbleibseln seiner Vernunft zu schließen, daß da wirklich andere Schritte auf der Straße waren. Er dachte vage an Geister; und er war überrascht, wie schnell er das Bild eines angemessenen örtlichen Geistes zu erblicken vermochte, eines Geistes mit einem Gesicht so weiß wie das von Pierrot, aber schwarz gefleckt. Die Spitze des Dreiecks aus dunkelblauem Himmel wurde heller und blauer, aber noch begriff er nicht, daß das geschah, weil er den Lichtern des großen Hauses und seines Gartens näher kam. Er spürte nur, daß die Stimmung dichter wurde; da war in der Traurigkeit mehr Gewalt und mehr Geheimnis, mehr – er zögerte vor dem Wort und stieß es dann mit einem kurzen Lachen aus – Katastrophismus.

Mehr Föhren, mehr Fahrweg versanken hinter ihm, und dann blieb er wie durch einen Zauberbann angewurzelt stehen. Überflüssig wäre es zu sagen, er fühlte sich, als ob er in einen Traum geraten sei; diesmal aber war er sich sicher, daß er in ein Buch geraten war. Denn wir Menschen sind an unpassende Dinge gewöhnt; wir sind an das Geklapper des Zusammenhanglosen gewöhnt; das ist eine Melodie, bei der wir einschlafen können. Wenn aber ein passendes Ding geschieht, weckt es uns auf wie der Klang eines vollkommenen Akkords. Etwas geschah, wie es an einem solchen Ort in einem vergessenen Märchen geschehen wäre.

Über die schwarzen Föhren flog funkelnd im Mondenschein ein blanker Degen heran – solch ein schlankes und sprühendes Rapier, wie es manches ungerechte Duell in jenem alten Park ausgefochten haben mochte. Es fiel weit vorauf auf den Fußweg vor ihm und lag schimmernd da wie eine große Nadel. Er rannte wie ein Hase zu ihm und beugte sich darüber, es zu betrachten. Aus der Nähe sah es reichlich prunkvoll aus: die großen roten Juwelen an Heft und Stichblatt waren ein bißchen fragwürdig. Aber da waren andere rote Tropfen auf der Klinge, die nicht fragwürdig waren.

Er blickte sich wild in die Richtung um, aus der das blinkende Wurfgeschoß gekommen war, und sah, daß an dieser Stelle die zobeldüstre Front von Föhren und Tannen rechtwinklig durch einen schmaleren Weg unterbrochen war, der ihn, als er auf ihn eingebogen war, des langen erleuchteten Hauses ansichtig werden ließ, mit einem Teich und Springbrunnen davor. Dennoch sah er sich das nicht an, da er etwas Interessanteres zu besehen hatte.

Über ihm befand sich am Rand des steilen grünen Sockels des terrassierten Gartens eine jener kleinen malerischen Überraschungen, die in der alten Landschaftsgärtnerei so üblich waren; eine Art kleinen runden Hügels, eine kleine Kuppel aus Rasen, wie ein riesiger Maulwurfshügel, beringt und bekrönt von drei konzentrischen Rosenhecken, mit einer Sonnenuhr mitten auf dem höchsten Punkt. Kidd konnte den Zeiger über dem Zifferblatt dunkel vor dem Himmel sehen wie die Rückenfinne eines Hais, und wie das nichtige Mondenlicht an jener müßigen Uhr festhing. Aber während eines wilden Augenblicks sah er noch etwas daran festhängen – die Gestalt eines Mannes.

Obwohl er sie da nur für einen Augenblick sah, obwohl sie in einem fremdländischen und unglaublichen Kostüm steckte, von Kopf bis Fuß in enganliegendes Karmesin gehüllt und stellenweise golddurchwirkt, erkannte er doch in einem Mondenstrahl, wer es war. Dieses weiße, himmelwärts gerichtete Gesicht, glattrasiert und unnatürlich jung, ein Byron mit römischer Nase, jene schwarzen, schon ergrauenden Locken – er hatte Tausende der öffentlichen Porträts von Sir Claude Champion gesehen. Die wilde rote Gestalt taumelte für einen Augenblick gegen die Sonnenuhr; im nächsten war sie bereits den steilen Hang herabgerollt und lag zu Füßen des Amerikaners und bewegte schwach einen Arm. Ein grelles, unnatürlich goldenes Ornament auf dem Ärmel erinnerte Kidd plötzlich an Romeo und Julia; natürlich, die enganliegende karmesinrote Kleidung war Teil des Stückes. Aber da zog sich ein langer roter Fleck den Hang herunter, wo der Mann herabgerollt war – der war nicht Teil des Stückes. Er war erstochen worden.

Mr. Calhoun Kidd rief um Hilfe, und rief erneut. Und wieder schien es ihm, als höre er phantastische Fußschritte, und er fuhr hoch, nur um eine andere Gestalt bereits nahe bei sich zu sehen. Er kannte die Gestalt, und doch erschreckte sie ihn. Der liederliche Jüngling, der sich Dalroy nannte, hatte eine entsetzlich ruhige Art; und wenn Boulnois Verabredungen nicht einhielt, die er getroffen hatte, so hatte Dalroy eine dräuende Weise, Verabredungen einzuhalten, die er nicht getroffen hatte. Mondenlicht verfärbt alles; unter seinen roten Haaren war Dalroys bleiches Gesicht nicht so sehr weiß wie fahlgrün.

All dieser morbide Impressionismus mag Kidds Entschuldigung dafür sein, daß er brutal und ohne alle Vernunft aufgeschrieen hatte: »Haben Sie das getan, Sie Teufel?«

James Dalroy lächelte sein unerfreuliches Lächeln; aber bevor er etwas sagen konnte, machte die gestürzte Gestalt eine weitere Bewegung mit dem Arm und winkte vage in die Richtung, wo der Degen niedergefallen war; dann kam ein Stöhnen, und dann gelang es ihr zu sprechen.

»Boulnois… Boulnois sag ich… Boulnois hat es getan… eifersüchtig… er war eifersüchtig, er war, er war…«

Kidd neigte sich vor, um mehr zu hören, und konnte gerade noch die Worte vernehmen: »Boulnois… mit meinem eigenen Degen… er hat ihn geschleudert…«

Und wieder winkte die versagende Hand zum Degen hin und fiel dann mit einem Aufprall steif hin. In Kidd stieg aus den tiefsten Tiefen jener bittere Humor empor, der das seltsame Salz seiner Rasse ist, wenn es ihr ernst wird.

»Hören Sie her«, sagte er scharf und befehlend, »Sie müssen einen Doktor holen. Dieser Mann ist tot.«

»Und vermutlich auch einen Priester«, sagte Dalroy auf eine undurchschaubare Weise. »All diese Champions sind Papisten.«

Der Amerikaner kniete neben dem Körper nieder, tastete nach dem Herzschlag, stützte den Kopf auf und unternahm einige letzte Versuche der Wiederbelebung; aber noch ehe der andere Journalist mit einem Arzt und einem Priester wieder erschien, war er bereits bereit zu bestätigen, daß sie zu spät kämen.

»Sind Sie auch zu spät gekommen?« fragte der Doktor, ein solider und wohlhabend aussehender Mann mit dem üblichen Schnurr- und Backenbart, aber einem lebhaften Blick, der Kidd mißtrauisch betrachtete.

»In gewissem Sinne ja«, dehnte der Vertreter der ›Sun‹. »Ich kam zu spät, um den Mann zu retten, aber ich war gerade noch zur rechten Zeit da, um etwas Wichtiges zu hören. Ich habe den toten Mann seinen Mörder nennen gehört.«

»Und wer war der Mörder?« fragte der Doktor und runzelte die Augenbrauen.

»Boulnois«, sagte Calhoun Kidd und pfiff leise vor sich hin.

Der Doktor starrte ihn düster an und seine Stirn rötete sich; aber er widersprach nicht. Dann sagte der Priester, eine kleinere Gestalt im Hintergrund, milde: »Ich dachte, daß Mr. Boulnois heute abend nicht nach Pendragon Park käme.«

»Auch hier«, sagte der Yankee grimmig, »befinde ich mich in der Lage, dem alten Land ein oder zwei Fakten zu liefern. Yes, Sir, John Boulnois wollte den ganzen Abend zu Hause bleiben; er traf eine feste ordentliche Verabredung mit mir. Aber John Boulnois änderte seine Meinung; John Boulnois verließ plötzlich sein Haus, allein, und kam vor einer Stunde oder so in diesen verfluchten Park. Sein Butler hat mir das gesagt. Ich glaube, damit haben wir, was die allweise Polizei eine Spur nennen würde – haben Sie nach ihr geschickt?«

»Ja«, sagte der Doktor; »aber sonst haben wir noch niemanden benachrichtigt.«

»Weiß es Frau Boulnois?« fragte James Dalroy; und wieder wurde Kidd sich des irrationalen Wunsches bewußt, ihm eins über seinen sich kräuselnden Mund zu geben.

»Ich hab’ es ihr nicht erzählt«, sagte der Doktor schroff; »aber hier kommt die Polizei.«

Der kleine Priester war auf den Hauptweg hinausgetreten und kam jetzt mit dem niedergefallenen Degen zurück, der sich neben seiner dicklichen, klerikalischen und gewöhnlichen Gestalt lächerlich groß und theatralisch ausnahm. »Bevor die Polizei kommt«, sagte er entschuldigend, »hat jemand ein Licht?«

Der Yankee-Journalist zog eine elektrische Lampe aus seiner Tasche, und der Priester hielt sie nahe an die Mitte der Klinge, die er mit blinzelnder Sorgfalt untersuchte. Dann reichte er die lange Waffe ohne einen Blick auf Spitze oder Knauf dem Arzt.

»Hier bin ich nicht mehr von Nutzen«, sagte er mit einem kurzen Seufzer. »So wünsche ich Ihnen denn eine gute Nacht, die Herren.« Und er schritt durch die dunkle Allee auf das Haus zu, die Hände hinter sich verschränkt und den großen Kopf nachdenklich gebeugt.

Der Rest der Gruppe hastete zum Parktor, wo ein Inspektor und zwei Konstabler bereits im Gespräch mit dem Pförtner zu sehen waren. Der kleine Priester aber schritt immer langsamer und langsamer durch den dunklen Kreuzgang der Föhren und blieb schließlich abrupt an den Stufen zum Haus stehen. Das war seine schweigende Art der Anerkennung einer ebenso schweigenden Annäherung; denn ihm entgegen kam ein Wesen, das selbst Calhoun Kidds Anforderungen an einen lieblichen und aristokratischen Geist hätte zufriedenstellen können. Es war eine junge Frau, gekleidet in Silbersatin im Renaissance-Stil; ihr goldenes Haar hing in zwei langen schimmernden Zöpfen nieder, und ihr Gesicht war zwischen ihnen von so erschreckender Blässe, als sei sie chryselefantin – wie einige der alten griechischen Statuen also gefertigt aus Elfenbein und Gold. Aber ihre Augen waren sehr hell, und ihre Stimme, obwohl leise, war vertrauensvoll.

»Father Brown?« sagte sie.

»Mrs. Boulnois?« erwiderte er ernst. Dann sah er sie an und sagte sofort: »Wie ich sehe, wissen Sie von Sir Claude.«

»Woher wissen Sie, daß ich weiß?« fragte sie gelassen.

Er beantwortete die Frage nicht, sondern stellte eine andere: »Haben Sie Ihren Gatten gesehen?«

»Mein Gatte ist zu Hause«, sagte sie. »Er hat mit all dem hier nichts zu tun.«

Wiederum antwortete er nicht; und die Frau trat näher zu ihm hin mit einem eigenartig intensiven Gesichtsausdruck.

»Soll ich Ihnen noch mehr erzählen?« sagte sie mit einem ängstlichen Lächeln. »Ich glaube nicht, daß er es getan hat, und Sie glauben es auch nicht.«

Father Brown gab ihren Blick mit einem langen ernsten zurück, und dann nickte er noch ernster.

»Father Brown«, sagte die Dame, »ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß, aber ich bitte Sie zuvor um einen Gefallen. Würden Sie mir bitte sagen, warum Sie sich nicht der Schlußfolgerung angeschlossen haben, der arme John sei schuldig, wie alle anderen es taten? Sprechen Sie ganz offen: Ich – ich kenne den Klatsch und den Augenschein, der gegen ihn spricht.«

Father Brown sah ehrlich verlegen aus und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. »Zwei sehr kleine Dinge«, sagte er. »Zum mindesten ist das eine sehr banal und das andere sehr vage. Aber dennoch passen sie nicht zur These, daß Mr. Boulnois der Mörder sei.«

Er wandte sein leeres rundes Gesicht den Sternen zu und fuhr geistesabwesend fort: »Um von der vagen Idee zuerst zu sprechen: Ich messe vagen Ideen große Bedeutung bei. All jene Dinge, die ›keine Beweise‹ sind, sind die, die mich überzeugen. Für mich ist eine moralische Unmöglichkeit die größte aller Unmöglichkeiten. Ich kenne Ihren Mann nur oberflächlich, aber mir erscheint dieses sein Verbrechen, von dem alle überzeugt sind, als eine moralische Unmöglichkeit. Bitte glauben Sie nicht, daß ich dächte, Boulnois könne nicht so böse sein. Jeder kann böse sein – so böse wie er will. Wir können unseren moralischen Willen steuern; aber wir können unsere instinktiven Neigungen und Handlungsweisen nicht grundlegend ändern. Boulnois könnte sicherlich einen Mord begehen, aber nicht diesen Mord. Er würde niemals Romeos Degen aus seiner romantischen Scheide reißen; oder seinen Feind auf der Sonnenuhr wie auf einem Altar erschlagen; oder seine Leiche zwischen den Rosen liegenlassen; oder den Degen zwischen die Kiefern schleudern. Wenn Boulnois jemanden umbrächte, würde er das unauffällig und bedachtsam tun, wie er alles Zweifelhafte tun würde – ein zehntes Glas Portwein trinken, oder einen frivolen griechischen Dichter lesen. Nein, die romantische Inszenierung entspricht nicht Boulnois. Sie entspricht eher Champion.«

»Ah!« sagte sie und sah ihn an mit Augen wie Diamanten.

»Und das banale Ding war dieses«, sagte Brown. »Es gab Fingerabdrücke auf dem Degen; Fingerabdrücke können noch eine lange Zeit nach ihrem Entstehen entdeckt werden, wenn sie sich auf einer polierten Oberfläche wie Glas oder Stahl befinden. Diese waren auf einer polierten Oberfläche. Sie waren etwa in der Mitte der Degenklinge. Ich habe nicht den geringsten Hinweis, wessen Abdrücke das waren; aber warum sollte irgend jemand einen Degen in der Mitte anfassen? Es ist ein langer Degen, aber Länge ist ein Vorteil beim Ausfall gegen einen Feind. Wenigstens bei den meisten Feinden. Bei allen Feinden mit einer Ausnahme.«

»Mit einer Ausnahme«, wiederholte sie.

»Es gibt nur einen einzigen Feind«, sagte Father Brown, »den man leichter mit dem Dolch als mit dem Degen töten kann.«

»Ich weiß«, sagte die Frau. »Sich selbst.«

Es folgte ein langes Schweigen, und dann sagte der Priester ruhig, aber abrupt: »Also habe ich recht? Hat Sir Claude sich selbst getötet?«

»Ja«, sagte sie mit einem Antlitz wie aus Marmor. »Ich sah ihn selbst es tun.«

»Starb er«, sagte Father Brown, »aus Liebe zu Ihnen?«

Ein ungewöhnlicher Ausdruck huschte über ihre Züge, ganz anders als Mitleid, Bescheidenheit, Reue oder irgend etwas, das ihr Begleiter erwartete: ihre Stimme wurde plötzlich kräftig und klingend. »Ich glaube nicht«, sagte sie, »daß er sich je auch nur einen Deut aus mir gemacht hat. Er haßte meinen Mann.«

»Warum?« fragte der andere und kehrte sein rundes Gesicht vom Himmel ab der Dame zu.

»Er haßte meinen Mann, weil… es ist so sonderbar, daß ich kaum weiß, wie ich es sagen soll… weil…«

»Ja?« sagte Brown geduldig.

»Weil mein Mann ihn nicht hassen wollte.«

Father Brown nickte nur und schien immer noch zu lauschen; er unterschied sich von den meisten Detektiven in der Wirklichkeit wie in der Dichtung in einem kleinen Punkt – er gab nie vor, nicht zu verstehen, wenn er vollkommen verstand.

Mrs. Boulnois kam erneut näher mit dem gleichen maßvollen Glühen der Gewißheit. »Mein Mann«, sagte sie, »ist ein großer Mann. Sir Claude Champion war kein großer Mann: er war ein berühmter und erfolgreicher Mann. Mein Mann war nie berühmt oder erfolgreich; und es ist die feierliche Wahrheit, daß er niemals auch nur davon geträumt hat, es zu sein. Er erwartet ebensowenig, wegen seines Denkens berühmt zu werden, wie etwa wegen des Rauchens von Zigarren. Was all diese Dinge angeht, ist er von einer herrlichen Dummheit. Er ist niemals erwachsen geworden. Er liebte Champion immer noch so, wie er ihn auf der Schule liebte; er bewunderte ihn, wie er einen Zaubertrick bewundern würde, der bei Tisch vorgeführt wird. Aber durch nichts hätte man ihn dazu bringen können, Champion zu beneiden. Und Champion wollte beneidet werden. Das machte ihn verrückt, und deshalb brachte er sich um.«

»Ja«, sagte Father Brown; »ich glaube, ich beginne zu verstehen.«

»Aber sehen Sie das denn nicht?« rief sie; »das Ganze ist doch dafür inszeniert worden – der Platz wurde dafür geplant. Champion setzte John in ein kleines Haus vor seiner eigenen Tür, wie einen Dienstmann – um ihn sein Versagen spüren zu lassen. Er hat es nie gespürt. An solche Sachen denkt er genauso wenig wie – wie ein zerstreuter Löwe. Champion pflegte hereinzuplatzen, wenn John am schäbigsten aussah oder zu den bescheidensten Mahlzeiten, mit irgendeinem aufwendigen Geschenk oder einer Ankündigung oder einer Unternehmung, die das wie Besuche von Harun al-Raschid wirken ließ, und John nahm an oder lehnte ab, mit jener sozusagen halben Aufmerksamkeit, mit der ein Schüler faul die Meinung eines anderen teilt oder nicht. Nach fünf solchen Jahren hatte John sich nicht um ein Jota geändert, aber Sir Claude Champion war zum Monomanen geworden.«

»Und Haman begann und erzählte ihnen«, sagte Father Brown, »von all den Dingen, womit ihn der König geehrt hatte; und er sagte: ›Dies alles ist mir nichts, solange ich noch Mordekai den Juden im Tore sitzen sehe.‹«

»Die Krise kam«, fuhr Mrs. Boulnois fort, »als ich John überredet hatte, mich einige seiner Überlegungen aufschreiben und an eine Zeitschrift schicken zu lassen. Sie begannen Aufmerksamkeit zu erwecken, vor allem in Amerika, und eine Zeitung wollte ihn interviewen. Als Champion (der fast jeden Tag interviewt wird) von diesem späten kleinen Krümel des Erfolges hörte, der seinem sich dessen unbewußten Nebenbuhler zufiel, brach das letzte Glied der Kette, die seinen teuflischen Haß gebändigt hatte. Damals begann er jene wahnsinnige Belagerung meiner Liebe und Ehre, die seither das Gespräch der Grafschaft war. Sie werden fragen wollen, warum ich diese abscheulichen Aufmerksamkeiten zugelassen habe. Darauf antworte ich, daß ich sie nicht hätte ablehnen können, ohne das meinem Mann zu erklären, und es gibt bestimmte Dinge, die die Seele nicht über sich bringt, wie der Körper nicht fliegen kann. Niemand hätte das meinem Mann erklären können. Niemand könnte es jetzt. Wenn Sie ihm mit noch so vielen Worten sagen würden: ›Champion will Ihnen Ihre Frau stehlen‹, dann würde er den Witz geschmacklos finden: Aber daß es mehr sein könnte als nur ein Witz – dieser Gedanke würde an seinem großen Kopf keinen Spalt finden, wo er eindringen könnte. Nun gut, John wollte heute abend kommen und uns bei der Aufführung zusehen, aber gerade als wir aufbrechen wollten, sagte er, er wolle nicht mit; er habe da ein interessantes Buch und eine Zigarre. Das erzählte ich Sir Claude, und das war sein Todesstoß. Dem Monomanen blieb nur noch Verzweiflung. Er erstach sich und schrie dabei wie ein Teufel, daß Boulnois ihn ermorde; er liegt dort im Garten, getötet durch seine eigene Eifersucht, Eifersucht hervorzurufen; und John sitzt im Wohnzimmer und liest ein Buch.«

Ein anderes Schweigen folgte, und dann sagte der kleine Priester: »In Ihrem ganzen so lebendigen Bericht gibt es nur einen schwachen Punkt, Mrs. Boulnois. Ihr Mann sitzt nicht im Wohnzimmer und liest ein Buch. Jener amerikanische Reporter hat mir erzählt, er sei an Ihrem Haus gewesen, und dort habe ihm der Butler gesagt, Mr. Boulnois sei doch noch zum Pendragon Park gegangen.«

Ihre leuchtenden Augen öffneten sich zu einem fast elektrischen Glanz; und doch schien das mehr Verblüffung denn Verwirrung oder Furcht zu sein. »Was meinen Sie denn damit?« rief sie. »Alle Dienstboten waren aus dem Haus, um die Aufführung zu sehen. Und einen Butler haben wir Gottseidank nicht!«

Father Brown fuhr auf und wirbelte halb herum wie ein absurder Kreisel. »Was, was?« schrie er, als sei er plötzlich ins Leben galvanisiert. »Sagen Sie – bitte – kann Ihr Mann mich hören, wenn ich zum Haus hinübergehe?«

»Sicher, die Dienstboten werden inzwischen zurück sein«, sagte sie verwundert.

»Gut, gut!« versetzte der Kleriker energisch und machte sich mit eilenden Trippelschritten auf den Weg zu den Parktoren. Einmal drehte er sich um: »Schnappen Sie sich besser den Yankee, oder ›John Boulnois Verbrechen‹ wird in Riesenschlagzeilen über die ganze Republik kommen.«

»Sie verstehen nicht«, sagte Mrs. Boulnois. »Ihm wäre das egal. Ich glaube nicht, daß er Amerika wirklich wichtig nimmt.«

Als Father Brown das Haus mit dem Bienenstock und dem schläfrigen Hund erreichte, führte ihn ein kleines sauberes Dienstmädchen in das Wohnzimmer, wo Boulnois lesend neben einer Lampe saß, genau wie sein Frau ihn beschrieben hatte. Eine Karaffe Port und ein Weinglas standen neben seinem Ellenbogen, und in dem Augenblick, da der Priester eintrat, bemerkte er den langen Aschekegel, der ungebrochen an seiner Zigarre war.

›Er ist mindestens seit einer halben Stunde hier‹, dachte Father Brown. Er sah wirklich so aus, als säße er da, wo er gesessen hatte, als das Abendessen abgeräumt wurde.

»Bleiben Sie sitzen, Mr. Boulnois«, sagte der Priester auf seine freundliche, prosaische Weise. »Ich werde Sie nur für einen Augenblick stören. Ich befürchte, daß ich in irgendwelche Ihrer wissenschaftlichen Studien einbreche.«

»Nein«, sagte Boulnois; »ich lese gerade ›Der blutige Daumen‹.« Er sagte das ohne Stirnrunzeln oder Lächeln, und seinem Besucher wurde an dem Manne eine tiefe und männliche Unbekümmertheit bewußt, die seine Frau Größe genannt hatte. Er legte den blutrünstigen gelben Reißer aus der Hand, ohne sich der Ungereimtheit auch nur so weit bewußt zu werden, daß er sie humorig kommentiert hätte. John Boulnois war ein großer Mann mit langsamen Bewegungen und einem mächtigen Schädel, teils ergraut und teils kahl, und einem derben breiten Gesicht. Er hatte einen schäbigen und sehr altmodischen Abendanzug an, an dem sich ein schmales Dreieck auf die Hemdenbrust öffnete: Er hatte ihn an jenem Abend noch in der ursprünglichen Absicht angezogen, seine Frau die Julia spielen zu sehen.

»Ich werde Sie nicht lange vom ›Blutigen Daumen‹ oder anderen katastrophischen Angelegenheiten abhalten«, sagte Father Brown lächelnd. »Ich bin nur gekommen, um Sie nach dem Verbrechen zu befragen, das Sie heute abend begangen haben.«

Boulnois sah ihn stetig an, aber ein roter Fleck begann, sich über seine breite Stirn auszudehnen; und er sah aus wie einer, der zum ersten Mal Verlegenheit verspürt.

»Ich weiß, es war ein eigenartiges Verbrechen«, gab Brown mit leiser Stimme zu. »Eigenartiger vielleicht als Mord – für Sie. Die kleinen Sünden sind manchmal schwerer zu bekennen als die großen – aber deshalb ist es so wichtig, sie zu bekennen. Ihr Verbrechen wird von jeder Gastgeberin der Gesellschaft sechsmal in der Woche begangen: und doch empfinden Sie es, als klebe Ihnen eine unaussprechliche Verruchtheit an der Zunge.«

»Man kommt sich«, sagte der Philosoph langsam, »wie ein verfluchter Narr vor.«

»Ich weiß«, stimmte der andere zu, »aber oft muß man wählen zwischen sich wie ein Narr fühlen und einer sein.«

»Ich kann mich selbst nur schlecht analysieren«, fuhr Boulnois fort; »aber als ich da in diesem Stuhl mit dieser Erzählung saß, war ich so glücklich wie ein Schuljunge an einem halben Feiertag. Da war Sicherheit, Ewigkeit – ich kann es nicht recht klarmachen… die Zigarren lagen in Reichweite… die Streichhölzer waren in Reichweite… der Daumen mußte noch viermal erscheinen, bis… das war nicht nur Frieden, das war Erfüllung. Dann läutete die Klingel, und für eine lange tödliche Minute glaubte ich, daß ich nicht aus dem Sessel hochkönne – buchstäblich, physisch, muskelmäßig nicht hochkönne. Dann schaffte ich es doch, wie ein Mann, der die ganze Welt stemmt, weil ich wußte, daß alle Dienstboten außer Hauses waren. Ich öffnete die Vordertür, und da stand ein kleiner Mann, den Mund zum Reden geöffnet und sein Notizbuch zum Aufschreiben geöffnet. Ich erinnerte mich des Yankee-Interviewers, den ich ganz vergessen hatte. Sein Haar war in der Mitte gescheitelt, und ich sage Ihnen, daß Mord – «

»Ich verstehe«, sagte Father Brown. »Ich habe ihn gesehen.«

»Ich habe keinen Mord begangen«, fuhr der Katastrophiker milde fort, »wohl aber einen Meineid. Ich habe gesagt, daß ich zum Pendragon Park hinübergegangen sei, und habe die Tür vor seiner Nase zugemacht. Das ist mein Verbrechen, Father Brown, und ich wüßte nicht, welche Buße Sie dafür auferlegen wollten.«

»Ich werde keinerlei Buße auferlegen«, sagte der klerikale Gentleman, während er seinen schweren Hut und den Regenschirm aufsammelte, mit dem Ausdruck eines gewissen Vergnügens; »ganz im Gegenteil. Ich bin ausdrücklich hergekommen, um Sie aus der kleinen Buße zu entlassen, die sonst Ihrem kleinen Vergehen gefolgt wäre.«

»Und aus welcher kleinen Buße«, fragte Boulnois lächelnd, »bin ich da so glücklich entlassen worden?«

»Gehängt zu werden«, sagte Father Brown.