Der Hammer Gottes

 

Das kleine Dorf Bohun Beacon hockte auf einem so steilen Hügel, daß sein hoher Kirchturm wie die Spitze eines kleinen Berges erschien. Am Fuß der Kirche stand eine Schmiede, gewöhnlich rot von Feuer und ständig mit Hämmern und Eisenstücken übersät; ihr gegenüber, jenseits einer holprigen Kreuzung von Wegen mit Kopfsteinpflaster, war »Der Kahle Keiler«, das einzige Wirtshaus am Orte. An dieser Kreuzung begegneten sich beim Anbruch eines bleiernen und silbernen Morgens zwei Brüder und sprachen miteinander; obwohl der eine den Tag begann und der andere ihn beendete. Der Hochwürdigste Ehrenwerte Wilfred Bohun war sehr fromm und auf dem Wege zu irgendeiner strengen Gebetsübung oder Morgenmeditation. Der Ehrenwerte Oberst Norman Bohun, sein älterer Bruder, war alles andere als fromm und saß im Abendanzug auf der Bank vor dem ›Kahlen Keiler‹ und trank, was der philosophische Beobachter nach Belieben als das letzte Glas am Dienstag oder das erste am Mittwoch betrachten mochte. Der Oberst nahm das nicht so genau.

Die Bohuns waren eine der wenigen Adelsfamilien, die wirklich aus dem Mittelalter stammen, und ihr Banner hatte tatsächlich Palästina gesehen. Aber es wäre ein großer Fehler anzunehmen, daß solche Häuser die ritterlichen Traditionen hochhalten. Nur wenige außer den Armen bewahren Traditionen. Die Aristokratie lebt nicht nach Traditionen, sondern nach Moden. Die Bohuns waren unter Queen Anne Raufbolde gewesen, und unter Queen Victoria Stutzer und Schürzenjäger. Aber wie so manches wirklich alte Haus waren sie in den letzten zwei Jahrhunderten zu Trinkern und Gecken verkommen, bis sogar Gerüchte von Geisteskrankheit umliefen. Sicherlich lag etwas kaum mehr Menschliches in der Vergnügungsgier des Oberst, und seine chronische Entschlossenheit, nie vor dem Morgen nach Hause zu gehen, hatte etwas von der fürchterlichen Klarheit der Schlaflosigkeit. Er war ein großes schönes Tier, schon älter, aber noch mit auffallend blondem Haar. Er würde nur blond und löwenhaft ausgesehen haben, hätten nicht seine Augen so tief im Kopf gelegen, daß sie schwarz wirkten. Sie standen ein bißchen zu eng zusammen. Er hatte einen sehr langen blonden Schnurrbart, auf dessen jeder Seite sich eine Falte oder Furche vom Nasenflügel zum Kinn hinabzog, so daß ein höhnisches Grinsen in sein Gesicht zu schneiden schien. Über seinem Abendanzug trug er einen eigenartig blaßgelben Mantel, der eher wie ein sehr leichter Morgenmantel aussah denn wie ein Rock, und auf seinem Hinterkopf saß ein außergewöhnlich breitkrempiger Hut von leuchtendgrüner Farbe, offenbar eine orientalische Rarität, die er irgendwo aufgelesen hatte. Er war stolz darauf, in so wenig zueinander passenden Kleidungsstücken aufzutreten – stolz auf die Tatsache, daß sie an ihm immer passend erschienen.

Sein Bruder der Kurat hatte das gleiche blonde Haar und die gleiche Eleganz, aber er war bis zum Kinn in Schwarz eingeknöpft, und sein Gesicht war glattrasiert, kultiviert und ein bißchen nervös. Er schien für nichts als seine Religion zu leben; aber es gab manche, die behaupteten (vor allem der Grobschmied, der ein Presbyterianer war), daß sie mehr aus der Liebe zu gotischer Architektur als zu Gott bestand und daß sein geisterhaftes Umherspuken in der Kirche nur eine andere und reinere Form der fast morbiden Gier nach Schönheit sei, die seinen Bruder auf Frauen und Wein hetzte. Diese Anschuldigung konnte angezweifelt werden, denn des Mannes praktische Frömmigkeit war unanzweifelbar. Und tatsächlich war diese Beschuldigung vor allem ein unverständiges Mißverständnis seiner Liebe zu Einsamkeit und geheimem Gebet und gründete sich darauf, daß man ihn oftmals auf den Knien nicht vor dem Altar fand, sondern an sonderbaren Orten, in der Krypta oder auf der Empore, oder sogar im Glockenturm. Im Augenblick war er dabei, über den Hof der Schmiede die Kirche zu betreten, aber er blieb stehen und runzelte ein wenig die Stirn, als er seines Bruders tiefliegende Augen in die gleiche Richtung starren sah. Auf die Vermutung, daß der Oberst an der Kirche interessiert sei, verschwendete er keinen Gedanken. Es konnte sich also nur um die Schmiede handeln, und obwohl der Grobschmied Puritaner und keiner seiner Gemeinde war, hatte Wilfred Bohun doch einige Skandalgeschichten über seine schöne und ziemlich gefeierte Frau vernommen. Er warf einen mißtrauischen Blick über den Hof, und der Oberst stand lachend auf, um ihn anzureden.

»Guten Morgen, Wilfred«, sagte er. »Wie jeder gute Grundbesitzer wache ich schlaflos über meine Leute. Ich wollte den Schmied sprechen.«

Wilfred blickte auf den Boden und sagte: »Der Schmied ist nicht da. Er ist drüben in Greenford.«

»Ich weiß«, antwortete der andere mit lautlosem Lachen; »deshalb bin ich ja zu ihm gekommen.«

»Norman«, sagte der Kleriker und heftete seinen Blick auf einen Kieselstein auf der Straße, »hast du keine Angst vor Donnerkeilen?«

»Was meinst du damit?« fragte der Oberst. »Ist Meteorologie dein Steckenpferd?«

»Ich meine«, sagte Wilfred, ohne aufzublicken, »denkst du nie daran, daß Gott dich auf der Straße niederstrecken könnte?«

»Um Vergebung«, sagte der Oberst; »dein Steckenpferd sind wohl Volksmärchen.«

»Ich weiß, daß dein Steckenpferd die Blasphemie ist«, erwiderte der Mann der Religion, an seiner einzigen empfindlichen Stelle getroffen. »Aber wenn du auch Gott nicht fürchtest, so hast du doch Grund, den Menschen zu fürchten.«

Der ältere hob höflich seine Augenbrauen. »Den Menschen fürchten?« sagte er.

»Barnes der Schmied ist der größte und stärkste Mensch im Umkreis von 40 Meilen«, sagte der Priester streng. »Ich weiß, daß du kein Feigling oder Schwächling bist, aber er könnte dich über die Mauer schmeißen.«

Der Hieb saß, da unbestreitbar wahr, und die mürrische Linie an Mund und Nasenflügel wurde dunkler und tiefer. Für einen Augenblick stand er da mit seinem schweren Grinsen im Gesicht. Aber sofort danach hatte Oberst Bohun seine eigene grausame gute Laune wiedergefunden und lachte, wobei er unter seinem gelben Schnurrbart zwei gelbe hundeähnliche Reißzähne sehen ließ. »Für diesen Fall, mein lieber Wilfred«, sagte er sorglos, »war es weise, daß der letzte der Bohuns teilweise in Rüstung ausgegangen ist.«

Und er nahm den merkwürdigen runden grünbezogenen Hut ab, und da zeigte sich, daß er innen mit Stahl gefüttert war. Wilfred erkannte darin einen leichten japanischen oder chinesischen Helm, der von einer Trophäe herabgerissen war, die im alten Ahnensaal hing.

»Es war der erste Hut, der mir in die Hände kam«, erklärte sein Bruder leichthin; »immer der nächste Hut – und die nächste Frau.«

»Der Grobschmied ist in Greenford«, sagte Wilfred ruhig; »die Stunde seiner Rückkehr steht nicht fest.«

Und damit wandte er sich ab und ging mit gebeugtem Haupt in die Kirche, wobei er sich bekreuzigte wie einer, der sich von einem unreinen Geist befreien will. Es drängte ihn, diese Gemeinheit im kühlen Dämmerlicht seines hohen gotischen Kreuzgangs zu vergessen; aber an diesem Morgen war es vom Schicksal bestimmt, daß seine ruhige Runde religiöser Übungen überall durch kleine Zwischenfälle aufgehalten werde. Als er die Kirche betrat, die sonst zu dieser Stunde immer leer war, erhob sich hastig eine kniende Gestalt und kam auf das helle Tageslicht des Portals zu. Als der Kurat sie sah, blieb er erstaunt stehen. Denn der frühe Beter war kein anderer als der Dorftrottel, ein Neffe des Schmieds, der sich weder um die Kirche oder um sonst etwas kümmerte, noch das konnte. Man nannte ihn allgemein den ›Verrückten Joe‹, und er schien keinen anderen Namen zu haben; er war ein dunkler, starker, schlurfiger Bursche, mit einem schweren bleichen Gesicht, dunklem glattem Haar und einem immer offenen Mund. Als er an dem Priester vorbeikam, ließ sein mondkälbisches Aussehen keinen Hinweis darauf erkennen, was er getan oder gedacht hatte. Nie zuvor hatte ihn jemand beten gesehen. Welche Art von Gebeten mochte er nun gesprochen haben? Mit Sicherheit sehr ungewöhnliche.

Wilfred Bohun stand lange genug wie angewachsen da, um zu sehen, wie der Blödsinnige in den Sonnenschein hinausging, wo ihn sein liederlicher Bruder mit onkelhafter Scherzhaftigkeit grüßte. Als letztes sah er, wie der Oberst Pennies nach dem offenen Munde Joes warf in der offenkundigen Absicht, hineinzutreffen.

Dieses häßliche sonnenbeschienene Bild von Dummheit und Grausamkeit auf Erden ließ den Asketen schließlich zu seinen Gebeten um Läuterung zurück- und zu neuen Gedanken finden. Er stieg hinauf zu einem Kirchenstuhl auf der Empore unter einem farbigen Fenster, das er liebte und das seinen Geist stets beruhigte; ein blaues Fenster mit einem Engel, der Lilien trug. Dort dachte er bald weniger an den Schwachsinnigen mit dem fahlen Gesicht und dem Fischmaul. Dachte er bald weniger an seinen üblen Bruder, der in seinem schrecklichen Heißhunger wie ein magerer Löwe einherschritt. Er sank tiefer und tiefer in jene kalten und süßen Farben der silbernen Blumen und des saphirnen Himmels.

An dieser Stelle ward er eine halbe Stunde später von Gibbs angetroffen, dem Dorfschuster, der in aller Eile nach ihm ausgeschickt worden war. Er sprang sofort auf, denn er wußte, daß keine Kleinigkeit Gibbs überhaupt an diesen Ort geführt haben konnte. Der Schuster war, wie in vielen Dörfern, Atheist und sein Erscheinen in der Kirche noch um einen Grad ungewöhnlicher als das des Verrückten Joe. Es war ein Morgen der theologischen Rätsel.

»Was ist los?« fragte Wilfred Bohun ziemlich steif, während er eine zitternde Hand nach seinem Hut ausstreckte.

Der Atheist sprach in einem Ton, der von ihm überraschend ehrerbietig klang und sogar so etwas wie ein rauhes Mitgefühl verriet.

»Ich bitte um Vergebung, Sir«, sagte er in heiserem Flüstern, »aber wir meinten, es wäre nicht recht, es Sie nicht sofort wissen zu lassen. Ich fürchte, es ist etwas Schreckliches passiert, Sir. Ich fürchte, Ihr Bruder – «

Wilfred ballte seine zarten Hände. »Welche Teufelei hat er denn jetzt begangen?« rief er in unwillkürlichem Zorn.

»Nun, Sir«, sagte der Schuster und hüstelte, »ich fürchte, er hat nichts getan, und wird auch nie mehr etwas tun. Ich fürchte, mit ihm ist es ausgetan. Sie würden wirklich besser runterkommen, Sir.«

Der Kurat folgte dem Schuster eine kurze Wendeltreppe hinab, die sie zu einem Ausgang brachte, der höher als die Straße lag. Bohun übersah die Tragödie mit einem Blick, unter ihm ausgebreitet wie eine Landkarte. Im Hof der Schmiede standen fünf oder sechs Männer, die meisten in Schwarz, einer in der Uniform eines Inspektors. Zu ihnen gehörte der Arzt, der presbyterianische Prediger und der Priester von der römisch-katholischen Kirche, der des Schmiedes Frau angehörte. Der Priester sprach im Augenblick sehr schnell und leise auf sie ein, während sie, eine herrliche Frau mit rotgoldnem Haar, blind schluchzend auf einer Bank hockte. Zwischen beiden Gruppen und gerade bei dem Haupthaufen von Hämmern lag ein Mann im Abendanzug, alle viere von sich gestreckt, flach auf dem Gesicht. Von seiner Höhe oben hätte Wilfred jede Einzelheit seines Anzugs und seiner Ausstaffierung beschwören können, bis hinab zu den Bohun-Ringen an seinen Fingern; der Schädel aber war nur noch ein gräßlicher Matsch, wie ein Stern aus Schwärze und Blut.

Wilfred Bohun gönnte dem Ganzen nur einen Blick und rannte dann die Stufen hinab in den Hof. Der Doktor, zugleich der Familienarzt, grüßte ihn, aber er nahm davon kaum Notiz. Er konnte nur stammeln: »Mein Bruder ist tot. Was bedeutet das? Was ist das für ein entsetzliches Geheimnis?« Da war ein unglückliches Schweigen, und dann antwortete der Schuster, der redseligste unter den Anwesenden: »Viel Entsetzliches, Sir«, sagte er, »aber wenig Geheimnisvolles.«

»Was meinen Sie damit?« fragte Wilfred mit weißem Gesicht.

»Das ist klar genug«, antwortete Gibbs. »Es gibt nur einen Mann im Umkreis von 40 Meilen, der so einen Hieb geschlagen haben kann, und das ist auch der Mann mit dem meisten Anlaß dazu.«

»Wir dürfen nicht voreilig urteilen«, warf der Doktor, ein großer schwarzbärtiger Mann, nervös ein; »doch steht es mir durchaus zu, die Meinung von Mr. Gibbs über die Art des Hiebes zu bestätigen, Sir; es muß ein unglaublicher Hieb gewesen sein. Mr. Gibbs sagt, daß nur ein Mann im Distrikt das getan haben kann. Ich selbst würde gesagt haben, daß niemand das getan haben kann.«

Ein abergläubischer Schauer überlief die schlanke Gestalt des Kuraten. »Ich verstehe nicht ganz«, sagte er.

»Mr. Bohun«, sagte der Doktor mit leiser Stimme, »hier versagen buchstäblich alle Vergleiche. Es wäre unangemessen zu sagen, daß der Schädel in Stücke zerschlagen wurde wie eine Eierschale. Knochensplitter sind in den Körper und in die Erde getrieben wie Kugeln in eine Lehmwand. Das war die Hand eines Riesen.«

Er schwieg einen Augenblick und blickte grimmig durch seine Brille; dann fügte er hinzu: »Ein Gutes hat die Sache – das reinigt die meisten sofort von jedem Verdacht. Wenn Sie oder ich oder irgendein anderer normaler Mann in der Gegend dieses Verbrechens beschuldigt würde, würde man uns freisprechen wie ein Kind von der Anklage, die Nelson-Säule gestohlen zu haben.«

»Das sag ich ja«, wiederholte der Schuster hartnäckig, »nur ein Mann kann das getan haben, und das ist auch der Mann, der es getan haben würde. Wo ist Simeon Barnes, der Schmied?«

»Drüben in Greenford«, sagte der Kurat zögernd.

»Viel wahrscheinlicher drüben in Frankreich«, murmelte der Schuster.

»Nein; er ist weder da noch dort«, sagte eine kleine und farblose Stimme, die von dem kleinen römischen Priester kam, der sich der Gruppe angeschlossen hatte. »Tatsächlich kommt er in diesem Augenblick die Straße herauf.«

Der kleine Priester mit seinem braunen Stoppelhaar und seinem runden und gleichmütigen Gesicht war keine interessante Erscheinung. Aber selbst wenn er ein strahlender Apoll gewesen wäre, hätte in diesem Augenblick niemand auf ihn geschaut. Jeder wandte sich um und spähte hinaus auf den Fußpfad, der sich unten durch die Ebene wand und über den tatsächlich mit seinen weit ausholenden Schritten und einem Hammer auf der Schulter Simeon der Schmied geschritten kam. Er war ein knochiger riesiger Mann, mit tiefen dunklen finsteren Augen und einem dunklen Kinnbart. Er schritt und unterhielt sich ruhig mit zwei anderen Männern; und obwohl er niemals besonders fröhlich war, erschien er doch völlig unbeschwert.

»Mein Gott!« rief der atheistische Schuster. »Und da ist auch der Hammer, mit dem er es getan hat.«

»Nein«, sagte der Inspektor, ein vernünftig aussehender Mann mit sandfarbenem Schnurrbart, der zum erstenmal sprach. »Der Hammer, mit dem er es getan hat, liegt da drüben an der Kirchenmauer. Wir haben ihn und die Leiche genau so gelassen, wie wir sie gefunden haben.«

Alle sahen sich um, und der kleine Priester ging hinüber und sah schweigend auf das Werkzeug hinab, wo es lag. Es war einer der kleinsten und leichtesten Hämmer und wäre unter den anderen nicht aufgefallen; aber an seiner Eisenkante klebten Blut und blonde Haare.

Nach kurzem Schweigen sprach der kleine Priester ohne aufzublicken, aber mit einem neuen Klang in seiner langweiligen Stimme. »Mr. Gibbs hatte nicht recht«, sagte er, »als er sagte, es gebe kein Geheimnis. Da ist zum mindesten das Geheimnis, warum ein so großer Mann einen so gigantischen Hieb mit einem so kleinen Hammer versuchen sollte.«

»Ach, das ist doch ganz gleichgültig«, rief Gibbs voller Eifer. »Was sollen wir mit Simeon Barnes machen?«

»Ihn in Frieden lassen«, sagte der kleine Priester ruhig. »Er kommt von selbst hierher. Ich kenne die beiden Männer bei ihm. Das sind sehr anständige Leute aus Greenford, und sie sind wegen der presbyterianischen Kapelle hergekommen.«

Während er noch sprach, kam der große Schmied um die Kirchenecke und schritt in seinen eigenen Hof. Dann blieb er ganz still stehen, und der Hammer fiel ihm aus der Hand. Der Inspektor, der eine undurchdringliche Amtsmiene gewahrt hatte, ging sofort zu ihm hin.

»Ich will Sie nicht fragen, Mr. Barnes«, sagte er, »ob Sie irgendwas von dem wissen, was sich hier abgespielt hat. Sie sind nicht verpflichtet, etwas zu sagen. Ich hoffe, daß Sie nichts wissen und das auch beweisen können. Aber ich muß Sie in aller Form im Namen des Königs wegen Mordes an Oberst Norman Bohun verhaften.«

»Sie sind nicht verpflichtet, irgendwas zu sagen«, sagte der Schuster in dienstbeflissener Erregung. »Die müssen alles beweisen. Bisher haben die nicht mal bewiesen, daß das Oberst Bohun ist, mit dem Kopf dermaßen zerschmettert.«

»Das führt zu nichts«, sagte der Doktor beiseite zum Priester. »Das hat er aus Kriminalromanen. Ich war der Arzt des Obersts und kenne seinen Körper besser, als er ihn kannte. Er hatte sehr feine Hände, aber sehr eigentümliche. Der zweite und der dritte Finger waren von gleicher Länge. Nein, das ist schon wirklich der Oberst.«

Als er auf den Leichnam mit dem zermalmten Schädel auf der Erde blickte, folgten ihm die eisgrauen Augen des bewegungslosen Schmiedes dahin und hefteten sich dort ebenfalls fest.

»Ist Oberst Bohun tot?« fragte der Schmied sehr ruhig. »Dann ist er in der Hölle.«

»Sagen Sie nichts! Oh sagen Sie nichts«, rief der atheistische Schuster und tanzte in einer Ekstase der Bewunderung für das englische Rechtssystem umher. Denn niemand hängt so am Buchstaben des Gesetzes wie der leidenschaftliche Freidenker.

Der Schmied wandte ihm über die Schulter das erhabene Antlitz des Fanatikers zu.

»Für Euch Ungläubige mag es angehen, sich wie ein Fuchs einen Ausweg zu suchen, weil das irdische Recht Euch begünstigt«, sagte er; »aber Gott behütet die Seinen in Seiner Hütetasche, wie Ihr noch heutigen Tages sehen werdet.«

Dann wies er auf den Oberst und fragte: »Wann fuhr dieser Hund in seinen Sünden dahin?«

»Mäßigen Sie Ihre Sprache«, sagte der Doktor.

»Mäßiget die Sprache der Bibel, und ich werde die meine mäßigen. Wann also ist er gestorben?«

»Ich habe ihn um sechs in der Frühe noch lebend gesehen«, stammelte Wilfred Bohun.

»Gott ist gut«, sagte der Schmied. »Herr Inspektor, ich habe nicht das geringste dagegen, verhaftet zu werden. Sie sind es, der vielleicht etwas dagegen hat, mich zu verhaften. Mir ist es egal, wenn ich den Gerichtshof ohne einen Makel auf meinem Charakter verlasse. Ihnen ist es vielleicht nicht egal, den Gerichtshof mit einem Rückschlag für Ihre Karriere zu verlassen.«

Der wackre Inspektor sah den Schmied zum erstenmal mit lebhafter Anteilnahme an – wie jeder andere auch, mit Ausnahme des kleinen fremden Priesters, der immer noch auf den kleinen Hammer hinabblickte, der den entsetzlichen Hieb ausgeteilt hatte.

»Zwei Männer stehen vor diesem Geschäft«, fuhr der Schmied mit behäbiger Klarheit fort, »ehrenwerte Geschäftsleute aus Greenford, die Ihr alle kennt und die beschwören werden, daß sie mich von vor Mitternacht bis zum Tagesanbruch und noch lange danach im Sitzungssaal unserer Erweckungsmission gesehen haben, die während der ganzen Nacht tagte, weil wir Seelen so rasch retten. In Greenford selbst können weitere zwanzig Leute beschwören, daß sie mich während der ganzen Zeit gesehen haben. Wenn ich ein Heide wäre, Herr Inspektor, würde ich Sie in Ihren Untergang wandern lassen; aber als Christ fühle ich mich verpflichtet, Ihnen die Gelegenheit zu bieten und Sie zu fragen, ob Sie mein Alibi jetzt oder erst vor Gericht hören wollen.«

Zum erstenmal schien der Inspektor verwirrt und sagte: »Natürlich wäre ich froh, wenn ich Sie jetzt sofort entlastet sähe.«

Der Schmied ging mit dem gleichen langen und leichten Schritt aus seinem Hof hinaus und kehrte sofort mit seinen beiden Freunden aus Greenford zurück, die in der Tat Freunde von fast allen Anwesenden waren. Jeder von beiden sprach einige Worte, an denen niemand je zu zweifeln dachte. Nachdem sie gesprochen hatten, stand die Unschuld Simeons ebenso fest wie die große Kirche über ihnen.

Eines jener Schweigen überfiel die Gruppe, das fremdartiger und unerträglicher ist als jede Rede. Sinnlos und nur um etwas zu sagen, sagte der Kurat zu dem katholischen Priester:

»Sie haben sich sehr für den Hammer interessiert, Father Brown.«

»Ja«, sagte Father Brown; »warum ist es ein so kleiner Hammer?«

Der Doktor wandte sich rasch zu ihm um.

»Bei Gott, das stimmt«, rief er; »wer würde einen kleinen Hammer nehmen, wenn zehn größere Hämmer herumliegen?«

Dann senkte er seine Stimme und flüsterte dem Kuraten ins Ohr: »Nur jene Art Menschen, die einen großen Hammer nicht heben können. Zwischen den Geschlechtern gibt es keinen Unterschied an Kraft oder Mut. Es ist eine Frage der Hebekraft in den Schultern. Eine mutige Frau könnte zehn Morde mit einem leichten Hammer begehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie könnte mit einem schweren Hammer keinen Käfer töten.«

Wilfred Bohun starrte ihn in hypnotisiertem Entsetzen an, während Father Brown mit dem Kopf ein wenig zur Seite geneigt zuhörte, wirklich interessiert und aufmerksam. Der Doktor fuhr mit zischenderer Betonung fort:

»Warum glauben diese Idioten immer, der einzige Mensch, der den Liebhaber der Frau hasse, sei der Mann der Frau? In neun von zehn Fällen haßt den Liebhaber der Frau am meisten die Frau. Wer weiß, welche Unverschämtheit oder Verräterei er ihr angetan hat – sehen Sie?«

Er wies flüchtig auf die rothaarige Frau auf der Bank. Sie hatte endlich ihren Kopf erhoben, und Tränen trockneten auf ihrem schönen Angesicht. Aber ihre Augen waren mit einem solch elektrisierten Starren auf die Leiche gerichtet, daß es fast etwas Geistesschwaches an sich hatte.

Hochwürden Wilfred Bohun machte eine schlappe Geste, als wedele er alle Wißbegierde beiseite; aber Father Brown, der von seinem Ärmel etwas Asche aus der Esse abstaubte, sprach in seiner gleichgültigen Weise.

»Sie sind wie viele Ärzte«, sagte er; »Ihr geistiges Wissen ist wirklich beeindruckend. Aber Ihr physisches Wissen ist absolut unmöglich. Ich gebe zu, daß die Frau den Liebhaber weit öfters zu töten wünscht als der Betrogene. Und ich gebe zu, daß eine Frau immer einen kleinen Hammer statt eines großen ergreifen wird. Aber die Schwierigkeit ist eine der physikalischen Unmöglichkeit. Keine Frau auf Erden hätte jemals den Kopf eines Mannes dermaßen zermalmen können.« Dann fügte er nach einer Pause nachdenklich hinzu: »Diese Leute haben es immer noch nicht begriffen. Der Mann trug einen Eisenhelm, und der Hieb sprengte ihn wie zerbrochenes Glas. Sehen Sie sich die Frau an. Sehen Sie ihre Arme an.«

Schweigen umfaßte sie wieder alle, und dann sagte der Doktor etwas verdrießlich: »Na schön, vielleicht habe ich mich geirrt; Einwände gibt es immer. Aber ich halte an der Hauptsache fest. Kein Mensch außer einem Schwachkopf würde sich den kleinen Hammer greifen, wenn er einen großen Hammer nehmen könnte.«

Da fuhren die schlanken zitternden Hände Wilfred Bohuns hoch zu seinem Kopf und schienen sich in sein dünnes blondes Haar zu verkrampfen. Nach einem Augenblick fielen sie wieder herab, und er rief: »Das war das Wort, das ich erwartete; Sie haben das Wort gesagt.«

Dann fuhr er fort und meisterte seine Fassungslosigkeit: »Die Worte, die Sie sagten, waren: ›Kein Mensch außer einem Schwachkopf würde sich den kleinen Hammer greifen.‹«

»Ja«, sagte der Doktor. »Und?«

»Nun«, sagte der Kurat, »kein Mensch, sondern ein Schwachkopf tat es.« Die übrigen starrten ihn wie mit festgehefteten Blicken an, und er fuhr in fiebriger femininer Erregung fort:

»Ich bin ein Priester«, rief er mit unsicherer Stimme, »und ein Priester sollte kein Blutvergießer sein. Ich – ich meine, daß er niemanden an den Galgen bringen sollte. Und ich danke Gott, daß ich den Verbrecher jetzt klar erkenne – denn er ist ein Verbrecher, der nicht an den Galgen gebracht werden kann.«

»Sie wollen ihn nicht anzeigen?« fragte der Doktor.

»Er würde nicht gehängt werden, selbst wenn ich ihn anzeigte«, sagte Wilfred mit einem wilden aber sonderbar glücklichen Lächeln. »Als ich heute morgen in die Kirche ging, fand ich dort einen Verrückten betend vor – den armen Joe, der all seine Lebtage verrückt war. Gott weiß, was er betete; aber bei solchen sonderbaren Leuten darf man ruhig annehmen, daß auch ihre Gebete verdreht sind. Sehr wahrscheinlich wird ein Verrückter beten, ehe er einen Menschen tötet. Als ich den armen Joe zuletzt gesehen habe, war er bei meinem Bruder. Und mein Bruder verspottete ihn.«

»Beim Zeus!« schrie der Doktor. »Das nenne ich endlich reden. Aber wie erklären Sie – «

Hochwürden Wilfred zitterte fast vor Erregung ob seines eigenen Blicks auf die Wahrheit. »Begreifen Sie nicht, sehen Sie denn nicht«, rief er fieberhaft, »daß das die einzige Theorie ist, die beide Sonderbarkeiten erklärt, die beide Rätsel beantwortet. Die beiden Rätsel sind der kleine Hammer und der große Hieb. Der Schmied würde den großen Hieb geschlagen haben können, aber er würde niemals den kleinen Hammer gewählt haben. Seine Frau würde den kleinen Hammer gewählt haben, aber sie hätte den großen Hieb nicht führen können. Nur der Verrückte kann beides getan haben. Was den kleinen Hammer angeht – nun ja, er ist eben verrückt und hätte sich irgend etwas greifen können. Und was den großen Hieb angeht, haben Sie denn nie gehört, Doktor, daß ein Wahnsinniger während eines Anfalls die Kraft von zehn Männern haben kann?«

Der Doktor atmete tief ein und sagte dann: »Zum Teufel, ich glaube, Sie haben es getroffen.«

Father Brown hatte seine großen Augen so lange und stetig auf den Sprecher geheftet gehalten, daß nun klar war: Seine großen grauen Kuhaugen waren nicht so unbedeutend wie sein übriges Gesicht. Als wieder Schweigen eintrat, sagte er mit bemerkenswerter Hochachtung: »Mr. Bohun, Sie haben bisher die einzige Theorie vorgebracht, die wirklich stichhaltig und im wesentlichen unwiderleglich ist. Ich meine daher, daß Sie verdienten, von mir aus positiver Kenntnis zu hören, daß es nicht die wahre ist.« Und damit wanderte der seltsame kleine Mann von dannen und starrte wieder den Hammer an.

»Der Bursche scheint mehr zu wissen, als er sollte«, flüsterte der Doktor Wilfred mürrisch zu. »Diese päpstischen Priester sind verdammt verschlagen.«

»Nein, nein«, sagte Bohun in einer Art wilder Erschöpfung. »Es war der Wahnsinnige. Es war der Wahnsinnige.«

Die Gruppe der beiden Geistlichen und des Arztes hatte sich von der amtlicheren Gruppe abgesondert, die den Inspektor und den Mann umgab, den er verhaftet hatte. Nun aber, da ihre Gruppe sich aufgelöst hatte, hörten sie wieder die Stimmen der anderen. Der Priester blickte ruhig auf, und dann wieder nieder, als er den Schmied mit lauter Stimme sagen hörte:

»Ich hoffe, ich habe Sie überzeugt, Herr Inspektor. Ich bin ein starker Mann, wie Sie sagen, aber selbst ich hätte meinen Hammer nicht zack von Greenford nach hier schleudern können. Mein Hammer hat keine Flügel, daß er eine halbe Meile über Hecken und Felder hätte fliegen können.«

Der Inspektor lachte freundlich und sagte: »Nein; ich glaube, daß Sie aus der Sache raus sind, obwohl es einer der eigenartigsten Zufälle ist, die ich je erlebt habe. Ich kann Sie nur bitten, uns alle Ihnen mögliche Hilfe bei der Suche nach einem Mann so groß und stark wie Sie selbst zu gewähren. Bei Gott! Sie könnten da nützlich sein, und wenn auch nur, um ihn festzuhalten! Ich vermute, daß Sie keine Ahnung haben, wer es sein könnte«?

»Ich könnte eine Ahnung haben«, sagte der bleiche Schmied, »aber die richtet sich nicht auf einen Mann.« Dann, als er erschreckte Augen sich seiner Frau auf der Bank zuwenden sah, legte er ihr seine große Hand auf die Schulter und sagte: »Und auch nicht auf eine Frau.«

»Was wollen Sie denn damit sagen?« fragte der Inspektor spaßend. »Sie glauben doch wohl nicht, daß Kühe Hämmer verwenden, oder?«

»Ich glaube, daß kein Ding aus Fleisch und Blut den Hammer gehalten hat«, sagte der Schmied mit erstickter Stimme; »ich glaube vielmehr, daß der Mann von selbst gestorben ist.«

Wilfred bewegte sich jäh vorwärts und starrte ihn mit brennenden Augen an.

»Wollen Sie damit sagen, Barnes«, ließ sich die scharfe Stimme des Schusters vernehmen, »daß der Hammer von selbst aufsprang und den Mann niederschlug?«

»O Ihr Herren, die Ihr da starret und spottet«, schrie der Schmied; »Ihr Geistlichen, die Ihr uns jeden Sonntag erzählt, wie der Herr den Sanherib schweigend zerschmiß. Ich glaube, daß einer, der unsichtbar in jedem Hause wandelt, die Ehre meines Hauses verteidigt hat und ihren Schänder tot vor seine Schwelle streckte. Ich glaube, daß die Kraft in jenem Hieb eben die Kraft ist, die in Erdbeben ist, und keine geringere.«

Wilfred sagte mit einer absolut unbeschreiblichen Stimme: »Und ich selbst habe Norman noch gesagt, sich vor dem Donnerkeil zu hüten.«

»Der Täter befindet sich außerhalb meiner Amtsvollmachten«, sagte der Inspektor mit einem leichten Lächeln.

»Ihr aber seid nicht außerhalb der seinen«, erwiderte der Schmied; »hütet Euch vor ihr.« Und damit kehrte er ihnen seinen breiten Rücken zu und ging ins Haus.

Der erschütterte Wilfred ward von Father Brown beiseite geführt, der eine leichte und freundliche Art des Umgangs mit ihm hatte. »Wir wollen diesen schrecklichen Ort verlassen, Mr. Bohun«, sagte er. »Darf ich mir wohl Ihre Kirche ansehen? Ich habe gehört, sie sei eine der ältesten Englands. Wir haben, wie Sie wissen«, fügte er mit einer komischen Grimasse hinzu, »ein gewisses Interesse an alten englischen Kirchen.«

Wilfred Bohun lächelte nicht, denn Humor war nicht seine starke Seite. Aber er nickte bereitwillig genug, nur zu bereit, den gotischen Glanz jemandem zu erklären, der sicherlich verständnisvoller war als der presbyterianische Schmied oder der atheistische Schuster.

»Aber selbstverständlich«, sagte er; »wir wollen hier eintreten.« Und er ging vorauf durch den hochgelegenen Seiteneingang oben an der Stufenflucht. Father Brown trat auf die erste Stufe, um ihm zu folgen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte, und als er sich umwandte, sah er die dunkle dünne Gestalt des Arztes, dessen Gesicht vor Mißtrauen noch dunkler war.

»Sir«, sagte der Mediziner harsch, »Sie scheinen einige der Geheimnisse dieses schwarzen Geschäftes zu kennen. Darf ich fragen, ob Sie sie für sich selbst behalten wollen?«

»Nun ja, Doktor«, antwortete der Priester freundlich lächelnd, »es gibt einen sehr guten Grund, weshalb ein Mann meines Berufs Dinge für sich behält, wenn er ihrer nicht ganz sicher ist, und zwar den, daß es ständig seine Pflicht ist, Dinge für sich zu behalten, derer er ganz sicher ist. Wenn Sie aber glauben, ich wäre Ihnen oder anderen gegenüber unhöflich zurückhaltend gewesen, dann will ich bis an die äußersten Grenzen meiner Gepflogenheit gehen. Ich will Ihnen zwei sehr große Hinweise geben.«

»Und welche, Sir?« fragte der Doktor düster.

»Erstens«, sagte Father Brown gelassen, »fällt die Sache völlig in Ihr Gebiet. Es ist eine naturwissenschaftliche Angelegenheit. Der Schmied war im Irrtum, vielleicht nicht, als er sagte, es sei ein Hieb von Gott gewesen, aber sicherlich, als er sagte, es sei ein Wunder. Es war kein Wunder, Doktor, abgesehen davon, daß der Mensch selbst ein Wunder ist, mit seinem sonderbaren und bösen und doch wieder halbheroischen Herzen. Die Kraft, die jenen Schädel zermalmte, war eine der Wissenschaft wohlbekannte Kraft – eines der am häufigsten diskutierten Naturgesetze.«

Der Doktor, der ihn mit stirnrunzelnder Aufmerksamkeit ansah, fragte nur: »Und der andere Hinweis?«

»Der andere Hinweis ist dieser«, sagte der Priester: »Erinnern Sie sich, daß der Schmied, obwohl er an Wunder glaubt, höhnisch von dem unmöglichen Märchen sprach, sein Hammer habe Flügel und fliege eine halbe Meile übers Land?«

»Ja«, sagte der Doktor, »daran erinnere ich mich.«

»Nun«, fügte Father Brown mit breitem Lächeln hinzu, »dieses Märchen kam von allem, was heute gesagt wurde, der Wahrheit am nächsten.« Und damit wandte er sich um und stapfte die Stufen hinauf hinter dem Kuraten her.

Hochwürden Wilfred, der blaß und ungeduldig auf ihn gewartet hatte, als gäbe diese kleine Verzögerung seinen Nerven den Rest, geleitete ihn sofort zu seiner Lieblingsecke in der Kirche, zu jenem Teil der Empore, der geschnitzten Decke am nächsten und erleuchtet durch das wundervolle Fenster mit dem Engel. Der kleine lateinische Priester erforschte und bewunderte alles aufs ausführlichste und sprach während der ganzen Zeit fröhlich, aber mit leiser Stimme. Als er im Verlauf seiner Untersuchungen den Seitenausgang und die Wendeltreppe fand, über die Wilfred hinabgeeilt war, um seinen Bruder tot vorzufinden, lief Father Brown sie mit der Gewandtheit eines Affen nicht hinab sondern hinauf, und seine klare Stimme kam von einer äußeren Plattform oben herab.

»Kommen Sie her, Mr. Bohun«, rief er. »Die Luft wird Ihnen guttun.«

Bohun folgte ihm und trat auf eine Art Steingalerie oder Balkon außen am Gebäude hinaus, von wo aus man die grenzenlose Ebene überschauen konnte, in der ihr kleiner Hügel stand, bis hin zum purpurnen Horizont, bewaldet und von Dörfern und Höfen gesprenkelt. Unter ihnen lag deutlich und viereckig, aber winzig klein der Hof des Grobschmieds, wo der Inspektor immer noch stand und sich Notizen machte und der Leichnam immer noch lag wie eine zerquetschte Fliege.

»Könnte die Weltkarte sein, nicht wahr?« sagte Father Brown.

»Ja«, sagte Bohun sehr ernst und nickte mit dem Kopf.

Unmittelbar unter ihnen und um sie herum stürzten die Linien des gotischen Bauwerks hinaus in die Leere mit jener übelkeiterregenden Geschwindigkeit, die dem Selbstmord nahekommt. Da ist jenes Element von Titanenenergie in der Architektur des Mittelalters, das – gleich von welchem Blickpunkt aus gesehen – immer davonzustürzen scheint wie der Rücken eines durchgehenden Pferdes. Diese Kirche war aus altem und schweigendem Stein gehauen, von alten Pilzkolonien bebartet und von Vogelnestern befleckt. Und doch, als sie von unten hinaufsahen, sprang sie wie ein Springbrunnen auf zu den Sternen; und als sie jetzt von oben hinabblickten, stürzte sie wie ein Wasserfall hinab in den lautlosen Abgrund. Denn diese beiden Männer auf dem Turm waren allein mit dem furchtbaren Aspekt der Gotik: den ungeheuerlichen Verkürzungen und Mißproportionen, den schwindelerregenden Perspektiven, der Erscheinung großer Dinge als klein und kleiner Dinge als groß; eine in der Luft schwebende steinerne Umkehrung aller Dinge. Einzelheiten aus Stein, die durch ihre Nähe riesig wirkten, hoben sich vor dem Muster aus Feldern und Farmen ab, die in der Entfernung winzig wirkten. Ein skulptierter Vogel oder ein Tier in einer Ecke wirkte wie ein riesiger wandelnder oder fliegender Drache, der die Weiden und Weiler tief unten verwüstete. Die ganze Atmosphäre war schwindelerregend und gefährlich, als ob die Menschen inmitten der kreisenden Schwingen riesiger Geister in der Luft gehalten würden; und die Masse dieser alten Kirche, so groß und prachtvoll wie eine Kathedrale, schien über dem sonnenbeschienenen Land wie eine Gewitterwolke zu lasten.

»Ich glaube, daß an so hohen Orten zu stehen, selbst um zu beten, einige Gefahren birgt«, sagte Father Brown. »Höhen wurden erschaffen, damit man zu ihnen aufblicke, nicht damit man von ihnen herabblicke.«

»Meinen Sie, daß man hinabstürzen könnte?« fragte Wilfred.

»Ich meine, daß die Seele hinabstürzen könnte, wenn schon nicht der Körper«, sagte der andere Priester.

»Ich kann Sie nicht verstehen«, bemerkte Bohun undeutlich.

»Sehen Sie sich zum Beispiel jenen Schmied an«, fuhr Father Brown gelassen fort; »ein braver Mann, aber kein Christ – hart, herrschsüchtig, unnachsichtig. Nun ja, seine schottische Religion wurde von Menschen gemacht, die auf Hügeln und hohen Felsen beteten und dabei lernten, mehr auf die Welt herabzusehen, als zum Himmel aufzusehen. Demut ist die Mutter der Riesen. Aus dem Tal sieht man große Dinge; nur kleine Dinge vom Gipfel.«

»Aber er – er hat es nicht getan«, sagte Bohun bebend.

»Nein«, sagte der andere mit seltsamer Stimme; »wir wissen, daß er es nicht getan hat.«

Und einen Augenblick später fuhr er fort, während er mit seinen blaßgrauen Augen ruhig über die Ebene hin blickte. »Ich kannte einen Mann«, sagte er, »der anfangs mit den anderen vor dem Altar betete, dann aber wurden ihm einsame Stellen als Ort seiner Gebete immer lieber, Ecken oder Nischen im Glockenturm oder in der Turmspitze. Und eines Tages begann an einer dieser schwindelerregenden Stellen, wo sich die ganze Erde unter ihm wie ein Rad zu drehen scheint, auch sein Gehirn zu drehen, und er bildete sich ein, daß er Gott sei. Und so beging er, obwohl er ein anständiger Mann war, ein schweres Verbrechen.«

Wilfreds Gesicht war abgewendet, aber seine knochigen Hände wurden blau und weiß, als sie sich um die steinerne Brüstung krampften.

»Er glaubte, ihm sei es gegeben zu richten und den Sünder niederzustrecken. Solche Gedanken hätte er niemals gehabt, wenn er mit anderen Menschen auf dem Boden gekniet hätte. Aber er sah die Menschen da unten herumlaufen wie Insekten. Besonders einen sah er genau unter sich herumstolzieren, unverschämt und an einem leuchtendgrünen Hut erkenntlich – ein giftiges Insekt.«

Krähen krächzten um den Glockenturm; aber kein anderes Geräusch gab es da, bis Father Brown fortfuhr.

»Und auch dies führte ihn in Versuchung, daß er eine der schrecklichsten Naturgewalten in Händen hielt; ich meine die Schwerkraft, jenen wahnwitzigen und immer schneller werdenden Sturz, in dem alle Geschöpfe der Erde, wenn losgelassen, an ihr Herz zurückfliegen. Sehen Sie, der Inspektor geht da gerade unter uns in der Schmiede umher. Wenn ich jetzt einen Kiesel über diese Brüstung stieße, so hätte der sich in etwas wie eine Kugel verwandelt bis zu dem Augenblick, in dem er ihn trifft. Wenn ich einen Hammer fallen ließe – selbst einen kleinen Hammer – «

Wilfred Bohun schwang ein Bein über die Brüstung, und Father Brown hatte ihn im Nu beim Kragen.

»Nicht durch diese Tür«, sagte er ganz sanft; »diese Tür führt zur Hölle.«

Bohun taumelte zurück an die Mauer und starrte ihn mit entsetzten Augen an.

»Woher wissen Sie das alles?« schrie er. »Sind Sie ein Teufel?«

»Ich bin ein Mensch«, antwortete Father Brown ernst; »und habe daher alle Teufel in meinem Herzen. Hören Sie zu«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Ich weiß, was Sie getan haben – zumindest kann ich den größten Teil davon erraten. Als Sie Ihren Bruder verließen, kochten Sie vor solch sündigem Zorn, daß Sie sich sogar den kleinen Hammer schnappten, halb geneigt, ihn mit seiner Gemeinheit auf den Lippen totzuschlagen. Davor aber schraken Sie zurück und steckten ihn statt dessen unter Ihren zugeknöpften Rock und stürzten in die Kirche. Sie beteten leidenschaftlich an manchen Stellen, unter dem Engelsfenster, auf der Plattform oben und auf einer noch höheren Plattform, von der aus Sie den orientalischen Hut des Obersten unten wie einen grünrückigen Käfer einherkrabbeln sahen. Da rastete etwas in Ihrer Seele aus, und Sie ließen Gottes Donnerkeil fallen.«

Wilfred fuhr sich langsam mit der Hand an den Kopf und fragte mit leiser Stimme: »Woher wissen Sie, daß sein Hut wie ein grüner Käfer aussah?«

»Ach das«, sagte der andere mit dem Schatten eines Lächelns, »das war gesunder Menschenverstand. Aber hören Sie mir zu. Ich sagte, daß ich das alles weiß; doch sonst wird niemand das wissen. Daher ist der nächste Schritt bei Ihnen; ich werde keinen Schritt mehr tun; ich werde das mit dem Siegel des Beichtgeheimnisses versiegeln. Wenn Sie mich fragen warum, dann gibt es viele Gründe, aber nur einen, der Sie betrifft. Ich überlasse alles Ihnen, weil Sie noch nicht so tief gesunken sind wie übliche Mörder. Sie haben nichts dazu getan, dem Schmied das Verbrechen anzuhängen, als das leicht war; oder seiner Frau, als das leicht war. Sie haben versucht, es dem Schwachsinnigen anzuhängen, weil Sie wissen, daß er nicht bestraft werden kann. Das war einer jener Lichtblicke, die in Mördern zu finden mein Geschäft ist. Und nun kommen Sie runter ins Dorf und gehen Ihres Weges, frei wie der Wind; denn ich habe mein letztes Wort gesprochen.«

Sie stiegen die Wendeltreppe unter äußerstem Schweigen hinab und traten bei der Schmiede hinaus in den Sonnenschein. Wilfred Bohun öffnete sorgfältig das hölzerne Tor des Hofes, ging zum Inspektor und sagte: »Ich möchte mich selbst anzeigen; ich habe meinen Bruder getötet.«