Die Auferstehung von Father Brown

 

Es gab eine kurze Zeit, in der Father Brown so etwas wie Berühmtheit genoß, oder besser: er genoß sie nicht. In den Tageszeitungen galt er neun Tage lang als Wunder; selbst in den Wochenzeitschriften wurde er zum Thema kontroverser Diskussionen; und seine Heldentaten erzählte man sich in unzähligen Clubs und Wohnzimmern vor allem in Amerika eifrig und ungenau. Und so unpassend und tatsächlich unglaublich, wie es jedem erscheinen mag, der ihn kennt: seine Abenteuer als Detektiv wurden gar zum Thema von Kurzgeschichten gemacht, die in Illustrierten erschienen.

Seltsam genug erwischte ihn dieses huschende Rampenlicht im obskursten oder wenigstens entferntesten seiner vielen Wohnorte. Man hatte ihn entsandt, um als eine Mischung von Missionar und Gemeindepfarrer in einem jener Streifen an der Nordküste Südamerikas seines Amtes zu walten, wo gewisse Landstriche immer noch unsicher an europäischen Mächten hängen oder ständig drohen, im gigantischen Schatten Präsident Monroes unabhängige Republiken zu werden. Die Bevölkerung war rot und braun mit rosa Flecken; das heißt, sie war spanisch-amerikanisch, vorwiegend spanisch-amerikanisch-indianisch, aber es gab auch einen beachtlichen und zunehmenden Zustrom von Amerikanern der nördlichen Art – Engländer, Deutsche und so weiter. Der ganze Aufruhr scheint begonnen zu haben, als einer dieser Besucher, sehr frisch angekommen und sehr verärgert über den Verlust eines seiner Koffer, auf das erste Gebäude zusteuerte, das ihm in den Blick geriet – was zufällig das Missionshaus mit der zugehörigen Kapelle war, wovor eine lange Veranda entlanglief und eine lange Reihe von Pfählen, an denen schwarze gewundene Weinreben emporgezogen waren, deren eckige Blätter herbstlich rot leuchteten. Hinter ihnen saßen ebenfalls in einer Reihe eine Anzahl menschlicher Wesen, fast ebenso steif wie die Pfähle und den Reben ähnlich gefärbt. Denn während ihre breitkrempigen Hüte so schwarz waren wie ihre Augen, die nicht blinzelten, hätten die Gesichter vieler unter ihnen der Farbe nach aus dem dunkelroten Holz jener transatlantischen Wälder gemacht sein können. Manche von ihnen rauchten sehr lange dünne schwarze Zigarren; und in der ganzen Gruppe war der Rauch fast das einzige, was sich bewegte. Der Besucher würde sie vermutlich als Eingeborene beschrieben haben, obwohl einige unter ihnen sehr stolz auf spanisches Blut waren. Aber er gehörte nicht zu jenen, die da feine Unterscheidungen zwischen Spaniern und Indianern machen, sondern neigte eher dazu, die Leute von der Szene zu entlassen, sobald er sie überführt hatte, in ihr geboren zu sein.

Er war ein Zeitungsmann aus Kansas City, ein hagerer hellhaariger Mann mit einer, wie Meredith sagen würde, abenteuerlustigen Nase; man konnte sich fast vorstellen, wie sie ihren Weg fand, indem sie ihren Weg erfühlte und sich dabei bewegte wie der Rüssel eines Ameisenbären. Sein Name war Snaith, und seine Eltern hatten ihn nach einigem dunklem Nachdenken Saul getauft, eine Tatsache, die er so weit wie möglich zu verheimlichen den guten Geschmack hatte. Tatsächlich hatte er schließlich den Kompromiß geschlossen, sich Paul zu nennen, wenngleich keineswegs aus dem gleichen Grunde, der den Apostel der Heiden bewegt hatte. Im Gegenteil wäre, soweit er überhaupt Meinungen zu solchen Dingen hatte, der Name des Verfolgers angemessener gewesen; denn er betrachtete die organisierte Religion mit jener gewohnheitsmäßigen Verachtung, die man leichter bei Ingersoll als bei Voltaire erlernen kann. Und zufälligerweise war es diese nicht eben bedeutungsvolle Seite seines Charakters, die er der Missionsstation und der Gruppe vor der Veranda zuwendete. Etwas in ihrer schamlosen Gelassenheit und Teilnahmslosigkeit entflammte seine eigene wütige Tüchtigkeit; und da er auf seine ersten Fragen keine bemerkenswerte Antwort erhielt, übernahm er das ganze Reden selbst.

Wie er da im starken Sonnenschein stand, geschniegelt und gebügelt, mit Panamahut und sauberer Kleidung, den Reisesack in stählernem Griff, begann er, die Leute im Schatten anzuschreien. Er begann, ihnen sehr lautstark zu erklären, warum sie faul und schmutzig seien und viehisch unwissend und niedriger als das Vieh, das verrecke, falls diese Frage schon je zuvor ihren Geist bewegt haben sollte. Nach seiner Meinung war es der verderbliche Einfluß der Priester, der sie so elendiglich arm und so hoffnungslos unterdrückt gemacht habe, daß sie jetzt imstande seien, im Schatten zu sitzen und zu rauchen und nichts zu tun.

»Und außerdem müßt ihr’n schöner Haufen Schlappschwänze sein«, sagte er, »daß ihr euch von diesen hochnäsigen Ölgötzen tyrannisieren laßt, bloß weil sie in ihren Mitren und Tiaren und goldenen Chorröcken und anderen protzigen Fetzen herumwandern und auf alle anderen wie auf Dreck herabschauen – euch von Kronen und Baldachinen und heiligen Schirmen wie Kinder von der Pantomime ins Bockshorn jagen laßt; nur weil ein eingebildeter alter Oberbonze in diesem Hokuspokus aussieht, als sei er der Herr der Erde. Was ist mit euch? Wie seht denn ihr aus, ihr armen Hunde? Ich sage euch, daher kommt es, daß ihr noch so tief in der Barbarei steckt und nicht lesen und nicht schreiben könnt und – «

In diesem Augenblick kam der Oberbonze in diesem Hokuspokus mit würdeloser Eile aus dem Missionshaus und sah einem Herrn der Erde gar nicht ähnlich, sondern eher einem Bündel schwarzer Kleider aus dem Trödelladen, die man um ein kurzes Polster mit menschlichen Maßen zugeknöpft hatte. Er trug seine Tiara nicht, vorausgesetzt er besaß eine, sondern einen schäbigen breitrandigen Hut, der den Hüten der spanischen Indianer nicht sehr unähnlich war und den er mit einer Geste, als fühle er sich durch ihn belästigt, in den Nacken geschoben hatte. Schon wollte er die bewegungslosen Eingeborenen ansprechen, als er den Fremden erblickte und schnell fragte:

»Oh, kann ich Ihnen irgendwie helfen? Möchten Sie nicht hereinkommen?«

Mr. Paul Snaith kam herein; und damit begann für diesen Journalisten ein beachtlicher Zuwachs an Informationen über viele Dinge. Wahrscheinlich war sein journalistischer Instinkt stärker als seine Vorurteile, wie man das oft bei klugen Journalisten findet; und er fragte viele Fragen, wozu ihn die Antworten interessierten und überraschten. Er entdeckte, daß die Indianer lesen und schreiben konnten, aus dem einfachen Grunde, weil der Priester sie das gelehrt hatte; daß sie aber möglichst wenig lasen oder schrieben, weil sie eine natürliche Vorliebe für unmittelbarere Kommunikationen hatten. Er erfuhr, daß diese sonderbaren Leutchen, die da wie Häufchen auf der Veranda saßen und kein Haar bewegten, auf ihren eigenen Landstücken sehr hart arbeiten konnten; besonders jene, die mehr als nur halbe Spanier waren; und er erfuhr mit noch größerem Erstaunen, daß sie alle Landstücke hatten, die wirklich ihr Eigentum waren. So weit war das Teil einer dickschädeligen Tradition, die den Eingeborenen sehr eingeboren war. Aber auch dabei hatte der Priester eine gewisse Rolle gespielt und hatte dabei vielleicht zum ersten wie zum letzten Mal eine Rolle in der Politik gespielt, auch wenn es nur Lokalpolitik war. Kürzlich nämlich hatte jene Gegend eines dieser Fieber des atheistischen, ja fast anarchistischen Radikalismus heimgesucht, die periodisch in Ländern der lateinischen Kultur ausbrechen, gewöhnlich in einer Geheimgesellschaft beginnen und gewöhnlich in einem Bürgerkrieg und sehr wenig mehr enden. Der lokale Leiter der ikonoklastischen Partei war ein gewisser Alvarez, ein ziemlich pittoresker Abenteurer portugiesischer Nationalität, aber teilweise von, wie seine Gegner behaupteten, negerischem Ursprung, das Oberhaupt jeder beliebigen Anzahl von Logen und Tempeln der Initiation von jener Art, die an solchen Orten selbst den Atheismus noch mit Mystischem bekleidet. Der Führer der konservativeren Partei war ein sehr viel gewöhnlicherer Mensch, ein sehr reicher Mann namens Mendoza, der Besitzer vieler Fabriken und höchst ehrenwert, aber nicht sehr aufregend. Es war allgemeine Ansicht, daß die Sache von Recht und Ordnung völlig verloren gewesen wäre, hätte sie sich nicht eine populärere Politik zu eigen gemacht in der Form der Sicherung von Land für die Bauern; und diese Bewegung war besonders von der kleinen Missionsstation Father Browns ausgegangen.

Während er sich mit dem Journalisten unterhielt, kam Mendoza, der Führer der Konservativen, herein. Er war ein stämmiger dunkler Mann mit einem kahlen birnenförmigen Kopf auf einem runden birnenförmigen Körper; er rauchte eine kräftig duftende Zigarre, aber als er in die Gegenwart des Priesters kam, warf er sie – vielleicht ein bißchen theatralisch – fort, als betrete er eine Kirche; und er verbeugte sich so tief, wie man es bei einem so korpulenten Herrn nicht für möglich gehalten hätte. Er legte immer besonderen Wert auf seine Umgangsformen, insbesondere gegenüber religiösen Institutionen. Er war einer jener Laien, die viel kirchlicher sind als die Kirchenmänner. Das war Father Brown reichlich peinlich, vor allem, wenn es so auch ins private Leben eingebracht wurde.

»Ich glaube, ich bin antiklerikal«, pflegte Father Brown mit schwachem Lächeln zu sagen; »aber es gäbe auch kaum halb soviel Klerikalität, wenn man diese Dinge bloß den Klerikern überließe.«

»Hallo, Mr. Mendoza«, rief der Journalist neu belebt aus, »ich glaube, wir sind uns schon begegnet. Waren Sie nicht auf der Handelsmesse in Mexiko im letzten Jahr?«

Mendozas schwere Augenlider zeigten ein Flattern des Wiedererkennens, und er lächelte auf seine langsame Art. »Ich erinnere mich.«

»Schöne fette Geschäfte hat man da in einer Stunde oder zwei gemacht«, sagte Snaith mit Genuß. »Dürfte Ihnen auch ‘ne schöne Scheibe eingebracht haben, nehme ich an.«

»Ich hatte viel Glück«, sagte Mendoza bescheiden.

»Glauben Sie das ja nicht!« rief der begeisterte Snaith. »Das Glück kommt zu denen, die es festzuhalten wissen; und Sie haben gut und sauber festgehalten. Aber ich hoffe, ich störe Ihre Geschäfte nicht.«

»Keineswegs«, sagte der andere. »Ich habe oftmals die Ehre, auf ein kleines Gespräch beim Padre vorbeizukommen. Nur auf ein kleines Gespräch.«

Es sah so aus, als vollende diese Vertrautheit zwischen Father Brown und einem erfolgreichen und sogar berühmten Geschäftsmann die Versöhnung zwischen dem Priester und dem praktischen Mr. Snaith. Er spürte, darf man annehmen, wie eine neue Respektabilität Station und Mission einhüllte, und er war bereit, solche gelegentlichen Erinnerungen an die Existenz von Religion zu übersehen, wie sie eine Kapelle und ein Pfarrhaus nicht immer ganz vermeiden können. Er geriet ob des Priesters Programm in Begeisterung – wenigstens hinsichtlich seiner säkularen und sozialen Aspekte – und erklärte sich bereit, jederzeit als lebendiger Draht tätig zu werden, um es der Welt insgesamt mitzuteilen. Und genau zu diesem Zeitpunkt begann Father Brown, den Journalisten mit seiner Sympathie für lästiger zu halten als mit seiner Feindschaft.

Mr. Paul Snaith machte sich energisch daran, Father Brown groß herauszubringen. Er sandte lange und laute Lobgesänge auf ihn über den Kontinent hin zu seiner Zeitung im mittleren Westen. Er machte Schnappschüsse vom unglücklichen Kleriker bei seinen alltäglichsten Tätigkeiten und stellte sie in gigantischen Photos in den gigantischen Sonntagszeitungen der Vereinigten Staaten zur Schau. Er machte aus seinen Aussprüchen Schlagworte und übersandte der Welt ständig »Eine Botschaft« des Ehrwürdigen Herrn in Südamerika. Jede andere Rasse, die weniger stark und weniger heftig aufnahmebereit ist als die amerikanische, wäre von Father Brown höchst gelangweilt gewesen. Tatsächlich aber erhielt er ansehnliche und begierige Angebote, eine Vorlesungsreise durch die Staaten zu unternehmen; und als er ablehnte, wurden die Angebote mit dem Ausdruck respektvoller Verwunderung erhöht. Eine Serie von Berichten über ihn wurde wie die Geschichten über Sherlock Holmes durch Vermittlung von Mr. Snaith geplant und dem Helden mit der Bitte um seine Hilfe und Ermutigung unterbreitet. Als der Priester herausfand, daß sie bereits zu erscheinen begonnen hatten, konnte er keinen anderen Vorschlag unterbreiten als den, damit sofort wieder aufzuhören. Und dies wiederum griff Mr. Snaith als Text einer Diskussion darüber auf, ob Father Brown zeitweilig über eine Klippe verschwinden sollte in der Art von Dr. Watsons Helden. Auf all diese Anfragen mußte der Priester geduldig und schriftlich antworten und erklären, daß er unter solchen Bedingungen durchaus für eine zeitweilige Einstellung der Geschichten sei, und er bat darum, daß eine erhebliche Zeit verstreichen möge, ehe sie wieder begönnen. Die Stellungnahmen, die er schrieb, wurden kürzer und kürzer; und als er die letzte schrieb, seufzte er.

Überflüssig festzuhalten, daß diese sonderbare Hochkonjunktur im Norden sich auf seinen kleinen Vorposten im Süden auswirkte, wo er in einem so einsamen Exil zu leben erwartet hatte. Die bereits am Orte ansässige beachtliche englische und amerikanische Bevölkerung begann stolz darauf zu sein, einen so weithin bekannt gemachten Mann zu besitzen. Amerikanische Touristen jener Art, die mit einer lauten Forderung nach Westminster Abbey landen, landeten an jener fernen Küste mit einer lauten Forderung nach Father Brown. Es war bereits abzusehen, wann man Sonderzüge nach ihm benennen und die Massen damit herankarren würde, auf daß sie ihn besichtigten, als sei er ein öffentliches Denkmal. Besonders verstörten ihn energische und ehrgeizige neue Händler und Geschäftsleute am Orte, die ihn ständig anstachelten, ihre Waren zu erproben und für sie Zeugnis abzulegen. Und selbst wenn diese Zeugnisse nicht kamen, setzten sie die Korrespondenz doch fort, um seine Autographen zu sammeln. Da er ein gutmütiger Mensch war, erhielten sie von ihm ein Gutteil dessen, was sie von ihm wollten; doch als er in Beantwortung einer besonderen Bitte eines Frankfurter Weinhändlers namens Eckstein hastig ein paar Worte auf eine Karte kritzelte, sollte sich das als schrecklicher Wendepunkt in seinem Leben herausstellen.

Eckstein war ein aufgeregter kleiner Kerl mit faserigem Haar und einem Zwicker, und entsetzlich darauf bedacht, daß der Priester nicht nur seinen berühmten medizinischen Portwein probiere, sondern ihm auch noch mit der Empfangsbestätigung mitteile, wo und wann er ihn zu trinken gedenke. Der Priester war über dieses Ansinnen nicht weiter verwundert, denn er hatte es längst aufgegeben, sich über die Verrücktheiten des Werbewesens zu verwundern. Also kritzelte er etwas hin und wandte sich anderen Aufgaben zu, die ein wenig vernünftiger erschienen. Doch wieder wurde er unterbrochen, und zwar durch eine Nachricht von niemand Geringerem als seinem politischen Gegner Alvarez, der ihn bat, zu einer Konferenz zu kommen, auf der man hoffe, einen Kompromiß in einer besonders wichtigen Angelegenheit zu erzielen, und als Treffpunkt für den nämlichen Abend ein Café unmittelbar außerhalb der Mauern dieser kleinen Stadt vorschlug. Auch hierzu gab er dem darauf wartenden, reichlich aufgedonnerten militärischen Boten eine Botschaft der Zustimmung mit; und dann, da er noch ein oder zwei Stunden vor sich hatte, setzte er sich hin und versuchte, einen kleinen Teil seiner eigentlichen Aufgaben zu erledigen. Als diese Zeit um war, schenkte er sich ein Glas von Herrn Ecksteins bemerkenswertem Wein ein, blickte mit humorvollem Ausdruck auf die Uhr, trank es aus und trat hinaus in die Nacht.

Helles Mondenlicht lag auf der kleinen spanischen Stadt, und als er zu dem malerischen Stadttor mit seinem Rokokobogen und den phantastischen Rüschen der Palmwedel dahinter kam, sah es fast aus wie eine Szene in einer spanischen Oper. Ein langes Palmblatt mit gezackten Kanten hing schwarz vor dem Mond auf der anderen Seite des Bogens und durch den Torbogen sichtbar herab und sah fast aus wie der Kiefer eines schwarzen Krokodils. Dieses Phantasiebild hätte sich nicht in seiner Einbildung festgesetzt, wäre da nicht noch etwas anderes gewesen, das seinem natürlich aufmerksamen Blick aufgefallen war. Die Luft war totenstill, und es gab nicht den Hauch eines Windes; aber er sah deutlich, wie sich das hängende Blatt bewegte.

Er blickte sich um und stellte fest, daß er allein war. Er hatte die letzten Häuser hinter sich gelassen, die zum größten Teil geschlossen und verriegelt waren, und schritt zwischen zwei langen kahlen Mauern aus großen und formlosen, aber abgeflachten Steinen dahin, aus denen hier und da die sonderbar stachligen Büschel des Unkrauts jener Gegend sprossen – Mauern, die die ganze Strecke bis zum Torweg parallel dahinliefen. Die Lichter des Cafés vor dem Stadttor konnte er nicht sehen; vielleicht lag es zu weit entfernt. Unter dem Torbogen war nichts zu erkennen außer einer weiteren Fläche Pflasterung aus großen Platten, fahl unterm Mond, und hier und da auswuchernden Feigenkakteen. Er hatte den starken Eindruck vom Geruch des Bösen; er fühlte einen sonderbaren körperlichen Widerwillen; aber er dachte nicht daran, innezuhalten. Sein Mut, der beachtlich war, war vielleicht ein schwächerer Teil seines Wesens als seine Neugier. Während seines ganzen Lebens hatte ihn ein geistiger Hunger nach der Wahrheit angeleitet, selbst in Belanglosigkeiten. Oftmals kontrollierte er ihn im Namen der Ausgewogenheit; aber da war er immer. Er ging geradeaus durch den Torweg, und auf der anderen Seite sprang ein Mann wie ein Affe aus einem Baumgipfel herab und stach mit einem Messer nach ihm. Im gleichen Augenblick kam ein anderer Mann schnell die Mauer entlanggekrochen, wirbelte eine Keule um seinen Kopf und ließ sie niedersausen. Father Brown drehte sich, taumelte und sank zu einem Haufen zusammen, aber während er zusammensank, leuchtete auf seinem runden Gesicht der Ausdruck einer sanften und ungeheuren Überraschung auf.

Zur gleichen Zeit lebte in der gleichen kleinen Stadt ein anderer junger Amerikaner, der sich von Mr. Paul Snaith grundlegend unterschied. Sein Name war John Adams Race, und er war ein Elektroingenieur, den Mendoza angestellt hatte, um die alte Stadt mit allen neuen Bequemlichkeiten auszustatten. Er war ein Mensch von jener Art, die viel seltener in der Satire und dem internationalen Klatsch auftaucht als die des amerikanischen Journalisten. Und doch ist es eine Tatsache, daß in Amerika auf 1 Million Menschen von der moralischen Art eines Race nur 1 von der moralischen Art eines Snaith kommt. Er war außergewöhnlich insofern, als er in seiner Arbeit außergewöhnlich gut war, aber in jeder anderen Beziehung war er sehr einfach. Er hatte seine Laufbahn als Gehilfe eines Drogisten in einem Dorf im Westen begonnen und war lediglich durch Arbeit und Verdienst aufgestiegen; aber noch immer betrachtete er seine Vaterstadt als das natürliche Herz der bewohnbaren Welt. Er war in einer sehr puritanischen, oder rein evangelischen, Christlichkeit aus der Familienbibel auf den Knien seiner Mutter aufgezogen worden; und falls er Zeit hatte, um eine Religion zu haben, dann war das immer noch seine Religion. Zwischen all den blendenden Lichtern der jüngsten und selbst wildesten neuen Entdeckungen zweifelte er nie, selbst wenn er bei seinen Versuchen bis zum äußersten ging und aus Licht und Ton Wunder wirkte wie ein Gott, der neue Sterne und Sonnensysteme schafft, auch nur für einen Augenblick daran, daß die Dinge »zu Hause« die besten Dinge auf Erden seien; seine Mutter und die Familienbibel und die ruhige und altmodische Moral seines Dorfes. Er hatte einen ebenso ernsthaften und edlen Sinn für die Heiligkeit seiner Mutter, als wäre er ein frivoler Franzose. Er war vollkommen sicher, daß die biblische Religion wirklich die richtige Sache sei; nur vermißte er sie vage, wohin immer in der modernen Welt er wanderte. Man konnte kaum von ihm erwarten, daß er mit den religiösen Äußerlichkeiten in katholischen Landen sympathisiere; und in seiner Abneigung gegen Mitren und Rosenkränze sympathisierte er mit Mr. Snaith, wenngleich nicht auf eine so überhebliche Art. Er hatte für die öffentlichen Verneigungen und Kratzfüße Mendozas nichts übrig und verspürte gewißlich keinerlei Verlockung durch den freimaurerischen Mystizismus des Atheisten Alvarez. Vielleicht war all dieses halbtropische Leben, durchwirkt mit indianischem Rot und spanischem Gold, zu farbenfreudig für ihn. Wenn er aber sagte, nichts komme seiner Heimatstadt gleich, so war das keine Übertreibung. Er war wirklich davon überzeugt, daß es irgendwo dort irgend etwas Einfaches und Anspruchsloses und Anrührendes gebe, das er wirklich mehr als alles andere auf Erden respektierte. Bei solcher geistigen Haltung von John Adams Race auf einem südamerikanischen Posten war in ihm doch seit einiger Zeit ein sonderbares Gefühl entstanden, das all seinen Vorurteilen widersprach und über das er keine Rechenschaft ablegen konnte. Denn die Wahrheit war: Das einzige Ding, dem er jemals auf seinen Reisen begegnet war und das ihn an den alten Holzstoß und den provinziellen Anstand und die Bibel auf Mutters Knien erinnerte, waren (aus unerforschlichen Gründen) das rundliche Gesicht und der schwarze plumpe Regenschirm von Father Brown.

Er ertappte sich dabei, wie er unbewußt jene gewöhnliche und sogar komische Figur beobachtete, wie sie geschäftig umhereilte; sie mit einer fast morbiden Faszination beobachtete, als ob sie ein wandelndes Rätsel, ein wandelnder Widerspruch sei. Er hatte im Herzen von all dem, was er haßte, etwas gefunden, das er mögen mußte; es war so, als sei er von kleineren Dämonen entsetzlich gequält worden und habe dann entdeckt, daß der Teufel selbst nur ein gewöhnlicher Mensch sei.

So geschah es denn, daß er, in jener monddurchleuchteten Nacht aus dem Fenster blickend, den Teufel vorübergehen sah, den Dämon der unerklärlichen Makellosigkeit, in seinem breitrandigen schwarzen Hut und seinem langen schwarzen Rock, wie er die Straße zum Torweg hinabschlurfte, und er sah ihn mit einem Interesse, das er selbst nicht verstand. Er wunderte sich, wohin der Priester gehe und was er wirklich vorhabe; und blieb da und starrte hinaus auf die mondhelle Straße noch lange, nachdem die kleine schwarze Gestalt vorübergekommen war. Und dann sah er etwas anderes, das ihn noch mehr verwirrte. Zwei andere Männer, die er kannte, kamen vor seinem Fenster vorbei wie über eine beleuchtete Bühne. Eine Art bläulichen Rampenlichtes umfloß vom Monde her wie ein gespenstischer Heiligenschein das große Haarbüschel, das aufrecht stand auf dem Kopf des kleinen Eckstein, des Weinhändlers, und es umriß eine größere und dunklere Gestalt mit einem Adlerprofil und einem wunderlich altmodischen und sehr kopflastigen schwarzen Hut, der den ganzen Umriß noch bizarrer erscheinen ließ, wie eine Gestalt in einem Schattenspiel. Race tadelte sich selbst, daß er dem Mond erlaube, solche Tricks mit seiner Phantasie zu spielen; denn auf einen zweiten Blick hin erkannte er die schwarzen spanischen Koteletten und die länglichen Gesichtszüge von Dr. Calderon, einem ehrbaren Arzt aus der Stadt, dem er einmal begegnet war, als er Mendoza beruflich beistand. Und dennoch gab es da etwas in der Art, wie die beiden Männer miteinander flüsterten und die Straße hinabspähten, was ihm eigentümlich vorkam. Einer plötzlichen Regung folgend, sprang er über das niedrige Fenstersims und schritt selbst auf ihren Spuren barhäuptig die Straße hinab. Er sah sie unter dem dunklen Torbogen verschwinden, und einen Augenblick später erscholl von jenseits ein furchtbarer Schrei, merkwürdig laut und durchdringend, der Races Blut um so mehr erstarren ließ, als er etwas sehr deutlich in einer Sprache ausdrückte, die er nicht kannte.

Im nächsten Augenblick folgte ein Rennen von Füßen, mehr Schreie, dann ein wirres Gebrüll aus Zorn oder Kummer, das die Türmchen und die hohen Palmen am Platze erbeben ließ; dann gab es eine Bewegung in der Masse, die zusammengeströmt war, als brande sie rückwärts durch den Torbogen. Und dann erdröhnte der dunkle Torweg von einer neuen Stimme, die ihm diesmal verständlich war und im Tonfall des Verhängnisses erscholl, als jemand durch den Torweg rief:

»Father Brown ist tot!«

Er kam nie dahinter, welcher Stützpfeiler in seinem Geiste zusammenbrach, oder warum ihn etwas, auf das er stets gezählt hatte, plötzlich im Stich ließ; aber er rannte auf den Torweg zu und kam gerade rechtzeitig, um seinem Landsmann, dem Journalisten Snaith, zu begegnen, der aus dem dunklen Eingang kam, totenbleich, und nervös mit den Fingern schnalzend.

»Stimmt wirklich«, sagte Snaith in einem Ton, der für ihn fast schon der Ehrfurcht gleichkam. »Er ist hin. Der Arzt hat ihn sich angesehen, und da gibt es keine Hoffnung. Einer von diesen verdammten Dagos hat ihn niedergeschlagen, als er durch das Tor kam – Gott weiß warum. Wird ein schwerer Verlust für die Stadt.«

Race antwortete nicht oder konnte nicht antworten, rannte aber unter dem Bogen hindurch zu der Szene dahinter. Die kleine schwarze Gestalt lag da, wo sie in die Wildnis der weiten Steinplatten gesunken war, aus denen wie Sterne hier und da grüne Dornen hervorleuchteten; und die große Menge wurde fast ausschließlich durch die bloßen Gesten einer einzigen gigantischen Gestalt im Vordergrund zurückgehalten. Denn viele waren da, die nach den bloßen Bewegungen seiner Hand hin- und herschwankten, so als wäre er ein Zauberer.

Alvarez, der Diktator und Demagoge, war eine große und prahlerische Erscheinung, immer reichlich prunkvoll gekleidet, und bei dieser Gelegenheit trug er eine grüne Uniform mit Stickereien, die wie silberne Schlangen überall auf ihr umherkrochen, und einem Orden, der ihm an einem lebhaft leuchtenden kastanienbraunen Band um den Hals hing. Sein kurzgeschorenes krauses Haar war schon grau, und im Gegensatz dazu sah seine Gesichtsfarbe, die seine Freunde oliven und seine Feinde mulattenbraun nannten, fast buchstäblich golden aus, so als sei sie eine aus Gold geformte Maske. Doch in diesem Augenblick waren seine großflächigen Züge, sonst kraftvoll und humorvoll, ganz gewichtig und grimmig. Er hatte, erklärte er, im Café auf Father Brown gewartet, als er ein Geraschel und einen Sturz hörte, herauskam und den Körper auf dem Pflaster liegend fand.

»Ich weiß, was einige von Ihnen denken«, sagte er und sah sich stolz um, »und für den Fall, daß Sie Angst vor mir haben – was Sie haben –, will ich es an Ihrer Stelle sagen. Ich bin ein Atheist; ich habe keinen Gott, bei dem ich für jene schwören könnte, die meinem Wort nicht glauben. Aber ich sage Ihnen bei jeder letzten Faser der Ehre, die in einem Soldaten und einem Mann ist, daß ich daran keinen Teil habe. Wenn ich die Kerle hier hätte, die das getan haben, würde ich sie voller Freude an jenem Baum aufknüpfen.«

»Wir sind natürlich glücklich, Sie das sagen zu hören«, sagte der alte Mendoza, der neben dem Körper seines gefallenen Koadjutors stand, steif und feierlich. »Dieser Schlag ist viel zu entsetzlich für uns, als daß wir sagen könnten, was wir in diesem Augenblick noch verspüren. Ich bin der Meinung, daß es ziemlicher und angemessener wäre, wenn wir den Körper meines Freundes entfernten und diese unregelmäßige Versammlung auflösten. Soweit ich begriffen habe«, fügte er zum Arzte gewandt ernst hinzu, »besteht unglücklicherweise kein Zweifel.«

»Es besteht kein Zweifel«, sagte Dr. Calderon.

John Race ging traurig und mit einem eigenartigen Gefühl der Leere zu seiner Wohnung zurück. Es erschien ihm unmöglich, daß er einen Mann vermissen sollte, den er niemals gekannt hatte. Er erfuhr, daß die Beisetzung am nächsten Tag stattfinden werde; denn alle waren der Ansicht, daß die Krise so schnell wie möglich überstanden werden sollte, aus Angst vor Unruhen, deren Ausbrechen von Stunde zu Stunde wahrscheinlicher wurde. Als Snaith die Reihe roter Indianer auf der Veranda hatte sitzen sehen, hätten sie eine Reihe aus rotem Holz geschnitzter alter aztekischer Statuen sein können. Aber er hatte sie nicht gesehen, wie sie waren, als sie hörten, daß der Priester tot sei.

Sie hätten sich sicherlich zu einer Revolution erhoben und den republikanischen Führer gelyncht, wären sie nicht sofort durch die unmittelbare Notwendigkeit zurückgehalten worden, sich angesichts des Sarges ihres eigenen religiösen Führers respektvoll zu verhalten. Die wirklichen Meuchelmörder, die zu lynchen höchst natürlich gewesen wäre, schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Niemand kannte ihre Namen; und niemand würde je erfahren, ob der sterbende Mann ihre Gesichter gesehen hatte. Jener sonderbare Ausdruck der Überraschung auf seinem Gesicht, der offenbar sein letzter Ausdruck auf Erden war, mochte durchaus dem Erkennen ihrer Gesichter entsprungen sein. Alvarez erklärte erneut energisch, daß dies nicht sein Werk sei, und wohnte der Beisetzung bei, wobei er in seiner prangenden silbernen und grünen Uniform hinter dem Sarg einherschritt in einer Art herausfordernder Hochachtung.

Hinter der Veranda führte eine Flucht von Steinstufen einen steilen grünen Hang hinan, von einer Kaktushecke eingezäunt, und hier wurde der Sarg mühsam emporgewuchtet zu der Fläche da oben und dort vorübergehend zu Füßen des großen hageren Kruzifixes aufgebahrt, das die Straße beherrschte und den geweihten Grund bewachte. Unten in der Straße strömten Meere von Menschen zusammen, die klagten und den Rosenkranz beteten – ein Volk von Waisen, das seinen Vater verloren hatte. Trotz all dieser Symbole, die für ihn aufreizend genug waren, benahm Alvarez sich mit Zurückhaltung und Respekt; und alles wäre gut gegangen – wie Race sich selber sagte –, hätten die anderen ihn nur in Ruhe gelassen.

Race sagte sich bitter, daß der alte Mendoza stets wie ein alter Narr ausgesehen habe und sich nun sehr offenkundig und vollständig wie ein alter Narr benahm. Entsprechend einer in einfacheren Gesellschaften üblichen Sitte hatte man den Sarg offen und das Gesicht unbedeckt gelassen und steigerte so das Pathos all dieser einfachen Leute fast bis zur Agonie. Da auch das noch mit der Tradition übereinstimmte, hätte daraus kein Harm entstehen müssen; aber irgendeine amtliche Person hatte dem den Brauch der französischen Freidenker von Reden am Grabe hinzugefügt. Mendoza begann eine Rede – eine reichlich lange Rede, und je länger sie wurde, desto tiefer sanken John Races Stimmung und Sympathien für das betroffene religiöse Ritual. Eine Liste von heiligmäßigen Eigenschaften, eindeutig von der antiquiertesten Art, wurde mit der ausschweifenden Stumpfheit eines Redners nach Tische abgespult, der nicht weiß, wie er sich wieder hinsetzen kann. Das war schon übel genug; aber Mendoza brachte auch noch die unaussprechliche Dummheit auf, seine politischen Gegner nicht nur zu tadeln, sondern sie auch noch zu verhöhnen. Binnen drei Minuten hatte er eine Szene heraufbeschworen, und noch dazu eine äußerst ungewöhnliche.

»Mit Recht können wir fragen«, sagte er und blickte dabei wichtigtuerisch um sich, »mit Recht können wir fragen, wo solche Tugenden unter jenen gefunden werden können, die im Wahne den Glauben ihrer Väter aufgegeben haben. Nur wenn da Atheisten unter uns weilen, atheistische Führer, ja manchmal gar atheistische Herrscher, stellen wir fest, daß ihre infame Philosophie verbrecherische Früchte wie diese trägt. Wenn wir fragen, wer diesen heiligen Mann ermordet hat, werden wir sicherlich feststellen – «

Das Afrika der Dschungel blitzte aus den Augen von Alvarez, dem bastardischen Abenteurer; und Race bildete sich ein, er könne plötzlich sehen, daß der Mann trotz allem ein Barbar war, der sich nicht bis zum Ende unter Kontrolle halten konnte; man könnte erraten, daß all seinem »erleuchteten« Transzendentalismus ein Hauch Voodoo beigemischt war. Wie auch immer: Mendoza konnte nicht fortfahren, denn Alvarez war aufgesprungen und brüllte zurück und brüllte ihn mit unendlich überlegenen Lungen nieder.

»Wer hat ihn ermordet?« röhrte er. »Euer Gott ermordete ihn! Sein eigener Gott ermordete ihn! Eurer Lehre zufolge ermordet er alle seine treuen und törichten Diener – wie er jenen ermordet hat«, und mit einer gewalttätigen Geste wies er nicht auf den Sarg hin, sondern auf den Gekreuzigten. Dann schien er sich wieder etwas zu beherrschen und fuhr in einem immer noch ärgerlichen, aber doch mehr argumentativen Ton fort: »Ich glaube nicht daran, aber ihr tut es. Ist es nicht besser, keinen Gott zu haben als einen, der einen auf solche Weise beraubt? Ich jedenfalls fürchte mich nicht zu sagen, daß es keinen Gott gibt. Nirgendwo in diesem blinden und hirnlosen Universum gibt es eine Macht, die euer Gebet hören oder euren Freund zurückgeben kann. Auch wenn ihr den Himmel anfleht, ihn auferstehen zu lassen, wird er nicht auferstehen. Auch wenn ich den Himmel herausfordere, ihn auferstehen zu lassen, wird er nicht auferstehen. Hier und jetzt will ich den Versuch wagen – ich spotte jenes Gottes, der nicht da ist, den Mann aufzuerwecken, der für immer schläft.«

Ein Schock des Schweigens, und der Demagoge hatte seine Sensation.

»Das hätten wir wissen können«, schrie Mendoza mit dicker kollernder Stimme, »wenn man Männern wie Ihnen gestattet – «

Eine neue Stimme schnitt in seine Rede; eine hohe und schrille Stimme mit Yankee-Akzent.

»Halt! Halt!« schrie Snaith der Journalist. »Da tut sich was! Ich schwör es, ich hab ihn sich bewegen gesehn!«

Er raste die Stufen hinauf und rannte zum Sarg, während unten die Menge in unbeschreiblicher Ekstase schwankte. Im nächsten Augenblick wandte er ein Gesicht voller Verwunderung über seine Schulter und winkte mit dem Finger Dr. Calderon, der vorwärts hastete, um sich mit ihm zu besprechen. Als die beiden Männer wieder vom Sarg zurücktraten, konnten alle es sehen, daß die Lage des Kopfes sich verändert hatte. Ein Schrei der Erregung stieg aus der Menge und endete dann so plötzlich, als sei er in der Luft abgeschnitten worden; denn der Priester im Sarge stöhnte und richtete sich auf einen Ellenbogen auf und blickte mit trüben und blinzelnden Augen auf die Menge.

John Adams Race, der bis dahin nur die Wunder der Wissenschaft gekannt hatte, fand sich auch in späteren Jahren nie fähig, das Chaos der nächsten paar Tage zu beschreiben. Ihm erschien es, als sei er aus der Welt von Zeit und Raum gesprengt und lebe im Unmöglichen. Binnen einer halben Stunde hatten sich Stadt und Distrikt in etwas verwandelt, das man seit tausend Jahren nicht mehr gekannt hatte; ein mittelalterliches Volk verwandelte sich durch ein überwältigendes Wunder in eine Menge von Mönchen; eine griechische Stadt, in die der Gott zwischen die Menschen herabgestiegen war. Tausende warfen sich auf der Straße nieder; Hunderte legten auf der Stelle Gelübde ab; und sogar Außenseiter wie die beiden Amerikaner konnten an nichts anderes denken und von nichts anderem sprechen als dem Wunder. Alvarez selbst war erschüttert, und das mit Recht; und er setzte sich nieder, den Kopf in den Händen.

Und im Zentrum dieses Wirbelsturms der Glückseligkeit kämpfte ein kleiner Mann darum, daß man seine Stimme höre. Seine Stimme war klein und schwach, und der Lärm war ohrenbetäubend. Er machte schwache kleine Gesten, die eher solche der Verwirrung zu sein schienen als etwas anderes. Er kam an den Rand der Brüstung über der Menge und winkte ihr zu, ruhig zu sein, mit Bewegungen eher dem Flappen der kurzen Schwingen eines Pinguins ähnlich. Da entstand so etwas wie eine Stille im Gelärme; und dann erreichte Father Brown zum ersten Mal die äußersten Grenzen seiner Empörung, die er gegen seine Kinder zu richten vermochte.

»Oh ihr einfältigen Menschen«, sagte er mit hoher und bebender Stimme; »oh ihr einfältigen, einfältigen Menschen.«

Dann schien er sich plötzlich zusammenzureißen, machte in seiner nun wieder gewöhnlichen Haltung einen Satz zu den Stufen hin und begann, eilig hinabzusteigen.

»Wohin gehen Sie, Father?« fragte Mendoza mit mehr als seiner üblichen Verehrung.

»Zum Telegraphenamt«, sagte Father Brown hastig. »Was? Nein; natürlich ist das kein Wunder. Warum sollte es ein Wunder geben? Wunder sind so billig nicht wie das hier.«

Und er kam taumelnd die Stufen herab, und die Leute warfen sich ihm in den Weg und erflehten seinen Segen.

»Seid gesegnet, seid gesegnet«, sagte Father Brown hastig. »Gott segne euch alle und gebe euch mehr Vernunft.«

Und mit seinen kleinen Schritten eilte er mit außerordentlicher Geschwindigkeit zum Telegraphenamt, wo er dem Sekretär des Bischofs drahtete: »Verrückte Geschichte über Wunder hier läuft um; hoffe Seine Eminenz verweigert Anerkennung. Nichts daran.«

Als er sich von dieser Anstrengung abwandte, taumelte er in der Reaktion leicht, und John Race ergriff ihn am Arm.

»Darf ich Sie nach Hause bringen?« sagte er. »Sie verdienen mehr, als diese Leute Ihnen geben.«

 

John Race und der Priester saßen in der Pfarrei; auf dem Tisch türmten sich immer noch die Papiere, mit denen sich der letztere am Vortag herumgeschlagen hatte; die Flasche Wein und das geleerte Weinglas standen noch so da, wie er sie verlassen hatte.

»Und nun«, sagte Father Brown fast grimmig, »kann ich anfangen nachzudenken.«

»Ich würde nicht gerade jetzt allzu scharf nachdenken«, sagte der Amerikaner. »Sie müssen sich doch nach Ruhe sehnen. Und außerdem, worüber wollen Sie denn nachdenken?«

»Zufälligerweise stand ich ziemlich häufig vor der Aufgabe, einen Mord zu untersuchen«, sagte Father Brown. »Nun muß ich den Mord an mir untersuchen.«

»Wenn ich Sie wäre«, sagte Race, »würde ich mir erst einen Schluck Wein nehmen.«

Father Brown stand auf und füllte sich ein Glas, hob es, blickte nachdenklich ins Leere und setzte es wieder nieder. Dann setzte er sich selbst wieder nieder und sagte:

»Wissen Sie, wie ich mich fühlte, als ich starb? Sie werden es nicht glauben, aber mein Gefühl war das einer überwältigenden Verwunderung.«

»Nun ja«, antwortete Race, »ich nehme an, Sie waren verwundert, daß man Sie über den Kopf schlug.«

Father Brown beugte sich zu ihm hinüber und sagte leise: »Ich war verwundert, daß man mir nicht über den Kopf schlug.«

Race sah ihn einen Augenblick lang an, als dächte er, der Schlag über den Kopf sei nur allzu wirksam gewesen; aber er sagte lediglich: »Wie meinen Sie das?«

»Ich meine damit, daß, als der Mann seine Keule in großem Bogen niedersausen ließ, sie vor meinem Kopf innehielt und ihn nicht einmal berührte. Auf die gleiche Weise tat der andere Bursche so, als ob er mit dem Messer nach mir steche, aber er hat mich nicht einmal gekratzt. Das war wie Theater spielen. Ich glaube, das war es. Aber dann geschah das Außerordentliche.«

Er sah für einen Augenblick nachdenklich die Papiere auf dem Tisch an und fuhr dann fort:

»Obwohl mich weder Messer noch Knüttel berührt hatten, fühlte ich, wie meine Beine unter mir nachgaben und mein Leben erlosch. Ich wußte, daß mich etwas niederstreckte, aber es waren nicht jene Waffen. Wissen Sie, was ich glaube, was es war?«

Und er zeigte auf den Wein auf dem Tisch.

Race nahm das Weinglas hoch, sah es an und beroch es.

»Ich glaube, Sie haben recht«, sagte er. »Ich habe als Drogist angefangen und dann Chemie studiert. Ich kann ohne Analyse nichts Genaues sagen, aber ich glaube, daß sich in diesem Zeug etwas sehr Ungewöhnliches befindet. Es gibt Drogen, mit denen die Asiaten einen zeitweiligen Schlaf verursachen, der wie der Tod aussieht.«

»Genau das«, sagte der Priester ruhig. »Dieses ganze Wunder wurde aus irgendeinem Grunde vorgetäuscht. Die Beisetzungsszene ist arrangiert und zeitlich geplant worden. Ich glaube, das ist Teil jenes irrsinnigen Publicity-Wahns, der Snaith befallen hat; aber ich kann kaum glauben, daß er nur deswegen so weit gehen würde. Schließlich ist es eine Sache, mit mir die Auflage zu steigern und mich als einen angeblichen Sherlock Holmes zu verkaufen, und – «

Noch während der Priester sprach, veränderte sich sein Gesicht. Seine blinzelnden Augenlider schlossen sich plötzlich, und er stand da, als ob er ersticke. Dann streckte er eine zitternde Hand aus, als wolle er sich seinen Weg zur Tür ertasten.

»Wo gehen Sie hin?« fragte der andere verwundert.

»Wenn Sie mich so fragen«, sagte Father Brown, der schneeweiß aussah, »ich wollte beten gehen. Oder besser lobpreisen.«

»Ich verstehe Sie nicht. Was ist mit Ihnen los?«

»Ich gehe, um Gott zu lobpreisen, daß er mich so merkwürdig und so unglaublich gerettet hat – um Haaresbreite gerettet hat.«

»Natürlich«, sagte Race, »ich gehöre zwar nicht Ihrer Religion an; aber glauben Sie mir, ich habe Religion genug, um das zu verstehen. Natürlich, Sie wollen Gott danken, daß er Sie vor dem Tode errettet hat.«

»Nein«, sagte der Priester. »Nicht vor dem Tode. Vor der Schande.«

Der andere saß da und starrte; und des Priesters nächste Worte brachen aus ihm heraus wie ein Schrei.

»Und wenn es nur meine Schande gewesen wäre! Aber es wäre die Schande alles dessen gewesen, wofür ich einstehe; die Schande des Glaubens, die sie heraufbeschworen haben. Was wäre daraus geworden! Der größte und grauenhafteste Skandal, der je gegen uns entfesselt wurde, seit die letzte Lüge in der Gurgel von Titus Oates erstickt ward.«

»Von was in aller Welt reden Sie eigentlich?« fragte ihn sein Gesprächspartner.

»Nun wohl, ich sollte es Ihnen wohl ganz erzählen«, sagte der Priester. Und während er sich niedersetzte, fuhr er gefaßter fort: »Es wurde mir blitzartig klar, als ich zufällig Snaith und Sherlock Holmes erwähnte. Nun erinnerte ich mich wieder, was ich ihm über seinen absurden Plan geschrieben habe; es schien das Natürlichste zu sein, so zu schreiben, und doch glaube ich jetzt, daß sie mich geradezu genial dahin gebracht haben, ausgerechnet jene Worte zu schreiben. Sie lauteten etwa: ›Ich bin bereit zu sterben und wieder lebendig zu werden wie Sherlock Holmes, wenn das der beste Weg ist.‹ Und im gleichen Augenblick, in dem mir das einfiel, wurde mir klar, daß man mich alle Arten Dinge dieser Art schreiben gemacht hat, die alle in dieselbe Richtung weisen. Ich habe wie an einen Komplizen geschrieben, daß ich den gedokterten Wein zu einer bestimmten Stunde trinken würde. Begreifen Sie jetzt?«

Race sprang immer noch starren Blickes auf: »Ja«, sagte er, »ich glaube, ich beginne zu begreifen.«

»Diese Leute hätten das Wunder zuerst richtig bekannt gemacht. Und dann hätten sie das Wunder platzen lassen. Und am schlimmsten ist, sie hätten beweisen können, daß ich mit in der Verschwörung war. Das wäre unser falsches Wunder gewesen. Das ist alles; und der Hölle so nahe, wie Sie und ich hoffentlich nie wieder sein werden.«

Dann sagte er nach einer Pause mit wahrhaft milder Stimme: »Sie hätten aus mir wirklich eine Menge Auflagensteigerung herausholen können.«

Race blickte auf den Tisch und fragte düster: »Wie viele dieser Schweine waren daran beteiligt?«

Father Brown schüttelte den Kopf. »Mehr, als ich mir vorstellen möchte«, sagte er; »aber ich hoffe, daß einige von ihnen nur Werkzeuge waren. Alvarez dürfte wahrscheinlich glauben, daß im Kriege alles erlaubt sei; er hat einen verdrehten Kopf. Ich muß leider fürchten, daß Mendoza ein alter Heuchler ist; ich habe ihm nie getraut, und er haßte meine Einmischung in eine Industriegeschichte. Aber all das kann warten; jetzt habe ich nur Gott dafür zu danken, daß ich entkommen bin. Und besonders dafür, daß ich dem Bischof sofort gekabelt habe.«

John Race schien sehr nachdenklich zu sein.

»Sie haben mir vieles erzählt, was ich nicht wußte«, sagte er schließlich, »und deshalb will ich Ihnen das einzige erzählen, was Sie nicht wissen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie die Brüder sich das ausgerechnet haben. Sie dachten sich, daß jeder lebende Mensch, der in einem Sarg aufwacht und wie ein Heiliger verehrt wird und in ein wandelndes Wunder verwandelt ist, das jedermann bewundert, von seinen Verehrern mitgerissen würde und die Krone des Ruhmes annähme, die da aus dem Himmel auf ihn gefallen ist. Und ich glaube, daß ihre Berechnung patente praktische Psychologie war, was normale Menschen angeht. Ich habe alle Arten Männer an allen Arten Orten gesehen; und ich sage Ihnen offen, ich glaube nicht, daß es 1 unter 1000 gibt, der unter solchen Umständen mit all seinem Grips parat aufwachen würde; und der, während er fast noch im Schlafe spricht, die Vernunft und die Schlichtheit und die Demut hätte, um – « Er war sehr überrascht, sich selbst bewegt und seine gelassene Stimme bebend zu finden.

 

Father Brown starrte geistesabwesend und ziemlich angeschlagen die Flasche auf dem Tisch an. »Sagen Sie mal«, sagte er, »was halten Sie von einer Flasche richtigen Weines?«