Der Mann in der Passage

 

Zwei Männer tauchten gleichzeitig an den zwei Enden einer Art von Passage auf, die seitlich am Apollo-Theater im Adelphi entlangläuft. Das abendliche Tageslicht in den Straßen war kraftvoll und leuchtend, opalisierend und leer. Die Passage war verhältnismäßig lang und dunkel, so daß jeder der Männer den anderen am anderen Ende nur als schwarze Silhouette sehen konnte. Dennoch kannte jeder der Männer den anderen, selbst als tintichten Umriß; denn beide waren sie Männer von auffallender Erscheinung, und sie haßten einander.

Die überdachte Passage öffnete sich am einen Ende in eine der steilen Straßen von Adelphi, und am anderen auf eine Terrasse, die den sonnenuntergangsroten Fluß überschaute. Die eine Seite der Passage bildete eine kahle Mauer, denn das Gebäude, das sie stützte, war ein altes erfolgloses Theater-Restaurant, das jetzt geschlossen war. Die andere Seite der Passage wies zwei Türen auf, an jedem Ende eine. Keine war das, was man üblicherweise die Bühnentür nennt; sie waren vielmehr eine Art spezieller und privater Bühnentüren, die von sehr speziellen Darstellern benützt wurden, und in diesem Fall von Hauptdarsteller und Hauptdarstellerin der Shakespeare-Aufführung dieses Tages. Persönlichkeiten von solcher Prominenz lieben es häufig, über derartige private Ausgänge und Eingänge zu verfügen, um Freunde zu treffen oder zu vermeiden.

Die beiden fraglichen Männer waren zweifellos beide solche Freunde, die offensichtlich die Türen kannten und damit rechneten, daß sie geöffnet würden, denn sie näherten sich beide der Tür am oberen Ende mit der gleichen Gelassenheit und Gewißheit. Jedoch nicht mit der gleichen Geschwindigkeit; aber da der Mann, der schnell schritt, der Mann vom anderen Ende des Tunnels war, trafen beide fast im gleichen Augenblick vor der geheimen Bühnentür ein. Sie grüßten einander höflich und warteten einen Moment, bevor einer von ihnen, der schärfere Gänger, der die kürzere Geduld zu haben schien, an die Tür klopfte.

In diesem wie in allem anderen war jeder der Männer des anderen Gegensatz, und keinen hätte man dem anderen unterlegen nennen können. Als Privatmann war jeder ansehnlich, fähig und beliebt. Als Mann der Öffentlichkeit war jeder Mitglied der vordersten Reihe. Aber alles an ihnen, von ihrem Ruhm bis zu ihrem guten Aussehen, war von unterschiedlicher und unvergleichbarer Art. Sir Wilson Seymour gehörte jener Art von Männern an, von deren Bedeutung jeder weiß, der weiß. Je intimer man im innersten Kreis jeder Politik oder Profession verkehrte, desto häufiger traf man Sir Wilson Seymour. Er war der eine intelligente Mann in zwanzig unintelligenten Ausschüssen – zu jeder Art von Thema, von der Reform der Königlichen Akademie bis zur Frage der Edelmetallwährung für das Größere Britannien. Im Bereich der Künste insbesondere war er allmächtig. Er war so einzigartig, daß niemand so recht zu entscheiden vermochte, ob er ein großer Aristokrat war, der sich der Künste annahm, oder ein großer Künstler, dessen sich die Aristokratie annahm. Doch genügten bereits fünf Minuten des Zusammenseins mit ihm, um zu erkennen, daß man zeitlebens von ihm bestimmt worden ist.

Seine Erscheinung war »distinguiert« in genau dem gleichen Sinn; sie war zugleich konventionell und einzigartig. Die Mode selbst hätte an seinem Seidenzylinder keinen Fehl gefunden; und doch war er anders als jedes anderen Hut – ein bißchen höher vielleicht, und so seiner natürlichen Höhe etwas hinzufügend. Seine große, schlanke Gestalt war leicht gebeugt, sah aber alles andere als schwächlich aus. Sein Haar war silbergrau, aber er sah nicht alt aus; er trug es länger als üblich, sah aber nicht weichlich aus; es war lockig, sah aber nicht wie in Locken gelegt aus. Sein sorgfältig gestutzter Spitzbart ließ ihn männlicher und soldatischer aussehen, als er es ohne ihn getan hätte, wie bei jenen alten Admirälen von Velazquez, deren düstere Porträts in seinem Hause hingen. Seine grauen Handschuhe waren eine Spur bläulicher, sein silberknäufiger Stock war eine Spur länger als Dutzende solcher Handschuhe und Stöcke, die in den Theatern und Restaurants herumwirbeln.

Der andere Mann war nicht so groß, doch wäre er niemandem als klein erschienen, sondern vielmehr als kraftvoll und gutaussehend. Auch sein Haar war lockig, aber blond und um den starken massigen Kopf kurz geschoren – jene Art von Kopf, mit der man Türen einrennt, wie Chaucer vom Kopf des Müllers sagte. Sein militärischer Schnurrbart und die Schulterhaltung wiesen ihn als Soldaten aus, doch hatte er jene eigentümlich offenen und durchdringenden blauen Augen, die man häufiger bei Seeleuten findet. Sein Gesicht war irgendwie kantig, sein Kiefer war kantig, seine Schultern waren kantig, sogar seine Jacke war kantig. Und wirklich hatte Max Beerbohm ihn in jener damals vorherrschenden wilden Schule der Karikatur als Lehrsatz aus dem vierten Buch Euklids dargestellt.

Denn auch er war ein Mann der Öffentlichkeit, wenngleich seine Erfolge ganz anderer Art waren. Man brauchte kein Mitglied der besten Gesellschaft zu sein, um von Hauptmann Cutler gehört zu haben, von der Belagerung Hongkongs und dem großen Marsch durch China. Wo immer man sich befand, wurde unausweichlich von ihm gesprochen; jede zweite Postkarte trug sein Porträt; seine Karten und Schlachten fanden sich in jeder zweiten Illustrierten; Lieder zu seinen Ehren hörte man in jeder zweiten Varieté-Nummer oder von jeder zweiten Drehorgel. Sein Ruhm, obwohl möglicherweise zeitgebundener, war doch zehnmal verbreiteter, volkstümlicher und spontaner als der des anderen Mannes. In Tausenden englischer Heime ragte er gewaltig über England empor, wie Nelson. Und doch hatte er unendlich viel weniger Macht in England als Sir Wilson Seymour.

Die Tür ward ihnen von einem alten Diener oder Garderobier geöffnet, dessen niedergeschlagene Miene und Haltung und dessen schwarzer schäbiger Anzug sonderbar kontrastierten mit der glitzernden Inneneinrichtung der Garderobe jener großen Schauspielerin. Sie war mit Spiegeln in jeglichem Brechungswinkel dermaßen ausgestattet und gefüllt, daß sie wie die hundert Facetten eines riesigen Diamanten wirkten – falls man ins Innere eines Diamanten eintreten kann. Die anderen Anzeichen von Luxus, ein paar Blumen, ein paar bunte Kissen, ein paar Bühnenkostüme, wurden von all den Spiegeln in den Irrwitz von Tausendundeiner Nacht vervielfacht und tanzten und veränderten ständig ihren Ort, ganz wie der herumschlurfende Diener einen Spiegel vorzog oder einen anderen an die Wand zurückschob.

Beide sprachen den düsteren Diener mit Namen an, nannten ihn Parkinson und fragten nach seiner Herrin als nach Miss Aurora Rome. Parkinson sagte, daß sie sich im Nebenraum befinde und daß er zu ihr gehen und sie benachrichtigen wolle. Ein Schatten flog über die Stirnen beider Besucher; denn der Nebenraum war die Privatgarderobe jenes großen Schauspielers, mit dem Miss Aurora auftrat, und sie war von jener Art, die Bewunderung nicht entfacht, ohne zugleich Eifersucht zu entfachen. Nach etwa einer halben Minute aber öffnete sich die Verbindungstür, und sie trat auf wie immer, selbst im privaten Leben, so daß sogar das Schweigen wie donnernder Applaus erschien, und wohlverdienter. Sie trug ein etwas sonderbares Gewand aus pfauengrünem und pfauenblauem Satin, der glitzerte wie blaues und grünes Metall, wie es Kinder und Ästheten entzückt, und ihr schweres, glühendbraunes Haar umrahmte eines jener zauberischen Gesichter, die allen Männern gefährlich sind, besonders aber Knaben und Ergrauenden. Gemeinsam mit ihrem Kollegen, dem großen amerikanischen Schauspieler Isidore Bruno, brachte sie eine besonders poetische und phantastische Interpretation des Sommernachtstraums auf die Bühne, worin der künstlerische Vorrang Oberon und Titania eingeräumt war, oder mit anderen Worten Bruno und ihr. In den träumerischen und erlesenen Kulissen und in den mystischen Tänzen drückte das grüne Kostüm, wie schillernde Käferflügel, die ganze unfaßbare Ausstrahlung einer Elfenkönigin aus. Wenn man ihr aber in jenem immer noch hellen Tageslicht persönlich gegenüberstand, sah ein Mann nichts anderes als das Antlitz dieser Frau.

Sie begrüßte beide Männer mit jenem strahlenden verwirrenden Lächeln, das so manchen Mann in gerade der gleichen gefährlichen Entfernung zu ihr hielt. Sie nahm von Cutler einige Blumen entgegen, die so tropisch und kostspielig waren wie seine Siege; und eine andere Art Geschenk von Sir Wilson Seymour, das jener Gentleman ihr später und nachlässiger überreichte. Denn seiner Aufzucht widersprach es, seine Gefühle zur Schau zu stellen, und seiner konventionellen Unkonventionalität, so etwas Offenbares wie Blumen zu schenken. Er habe da, sagte er, eine Kleinigkeit gefunden, die eher eine Kuriosität sei; einen antiken griechischen Dolch aus der mykenischen Epoche, der sehr wohl zur Zeit von Theseus und Hippolyte getragen worden sein mochte. Er sei aus Bronze, wie alle heroischen Waffen, aber eigenartigerweise immer noch scharf genug, um jemand damit zu stechen. Er sei besonders durch die blattähnliche Form angezogen worden; vollkommen wie eine griechische Vase. Wenn das für Miss Rome von irgendeinem Interesse sei, oder vielleicht in der Aufführung gebraucht werden könne, hoffe er, daß sie –

Die Verbindungstür flog auf und eine mächtige Gestalt erschien, die zum erklärungsfreudigen Seymour einen noch größeren Gegensatz bildete als sogar Hauptmann Cutler. Fast 6 Fuß 6 hoch und von mehr als theatralischen Sehnen und Muskeln, glich Isidore Bruno in dem prächtigen Leopardenfell und den goldbraunen Gewändern Oberons einem heidnischen Gott. Er lehnte sich auf eine Art Jagdspeer, der auf einer Bühne wie ein leichter silberner Stab wirkte, aber in dem kleinen und verhältnismäßig überfüllten Raum so einfach wie eine Lanze aussah – und so bedrohlich. Seine lebhaften schwarzen Augen rollten vulkanisch, sein bronzefarbenes Gesicht, wie schön auch immer, zeigte in jenem Augenblick eine Kombination von hohen Wangenknochen und zusammengebissenen Zähnen, die an gewisse amerikanische Vermutungen betreffend seine Herkunft von Südstaatenplantagen erinnerte.

»Aurora«, begann er mit seiner tiefen, leidenschaftlich dröhnenden Stimme, die so viele Zuschauer bewegt hatte, »willst du – «

Er brach unentschlossen ab, weil eine sechste Figur plötzlich in der Tür aufgetaucht war – eine mit der Szene so unvereinbare Figur, daß sie schon fast komisch wirkte. Es war ein sehr kurzer Mann in der schwarzen Uniform des römischen Weltklerus, und er sah (besonders in solcher Gegenwart wie der von Bruno und Aurora) eher dem hölzernen Noah aus einer Arche ähnlich. Jedoch schien er sich keines Kontrastes bewußt zu sein, sondern sagte mit einfacher Höflichkeit: »Ich glaube, daß Miss Rome nach mir geschickt hat.«

Ein gewiefter Beobachter würde bemerkt haben, daß die emotionale Temperatur bei dieser so unemotionalen Unterbrechung ziemlich anstieg. Die Abgelöstheit eines berufsmäßigen Zölibatärs schien den anderen deutlich zu machen, daß sie die Frau umstanden wie ein Kreis von Liebesrivalen; so wie das Eintreten eines Fremden mit Eis am Mantel deutlich macht, daß der Raum heiß wie ein Schmelzofen ist. Die Anwesenheit dieses einen Mannes, der an ihr nicht interessiert war, steigerte Miss Romes Gespür dafür, daß jeder andere in sie verliebt war, und jeder auf eine gewissermaßen gefährliche Weise: der Schauspieler mit all der Gier eines Wilden und eines verzogenen Kindes; der Soldat mit all der einfachen Selbstigkeit eines Mannes von Willen statt von Geist; Sir Wilson mit jener sich täglich verstärkenden Konzentration, mit der alte Hedonisten sich einem Hobby hingeben; und selbst der unterwürfige Parkinson, der sie bereits vor ihren Triumphen gekannt hatte und ihr zu Auge oder zu Fuß durch den Raum folgte, mit der dumpfen Hingabe eines Hundes.

Ein gewiefter Mensch würde aber auch etwas noch Eigenartigeres bemerkt haben. Der Mann wie ein schwarzer Holznoah (der nicht ganz ohne Gewieftheit war) bemerkte es mit erheblicher aber verhohlener Belustigung. Es war offensichtlich, daß die große Aurora, obwohl der Bewunderung durch das andere Geschlecht keineswegs abhold, in diesem Augenblick all jene Männer loswerden wollte, die sie bewunderten, um mit jenem Mann allein gelassen zu werden, der das nicht tat – sie jedenfalls nicht in diesem Sinne bewunderte; denn der kleine Priester bewunderte und genoß die entschlossene weibliche Diplomatie, mit der sie sich an ihre Aufgabe machte. Es gab vielleicht nur eine Sache, in der Aurora Rome wirklich klug war, und das war die Hälfte der Menschheit – die andere Hälfte. Der kleine Priester beobachtete wie einen napoleonischen Feldzug die rasche Genauigkeit ihrer Politik, alle zu vertreiben und keinen zu verbannen. Bruno, der große Schauspieler, war so kindisch, daß es leicht war, ihn fortzuschicken, ungezogen schmollend und die Tür zuschlagend. Cutler, der britische Offizier, war dickfellig gegenüber Gedanken, aber dünnhäutig in Sachen des guten Benehmens. Er würde alle Winke ignorieren, aber eher sterben, als einen eindeutigen Auftrag einer Dame zu ignorieren. Was den alten Seymour anging, so mußte er ganz anders behandelt werden; er mußte bis zuletzt bleiben. Der einzige Weg, ihn hinauszubewegen, war, sich vertrauensvoll an ihn zu wenden wie an einen alten Freund, ihn ins Geheimnis dieser Bereinigung einzuweihen. Der Priester bewunderte Miss Rome aufrichtig, wie sie diese drei Ziele gleichzeitig mit einer wohlerwogenen Handlung erreichte.

Sie ging zu Hauptmann Cutler hinüber und sagte auf die süßeste Weise: »Mir sind all diese Blumen lieb und wert, denn es müssen Ihre Lieblingsblumen sein. Aber sie wären nicht vollkommen, wissen Sie, ohne meine Lieblingsblumen. Bitte gehen Sie in das Geschäft um die Ecke und holen Sie mir einige Maiglöckchen, und dann wird alles ganz wunderschön sein.«

Das erste Ziel ihrer Diplomatie, der Abgang des wütenden Bruno, wurde sofort erreicht. Er hatte seinen Speer bereits mit königlicher Gebärde wie ein Szepter dem kläglichen Parkinson gereicht und war im Begriffe, sich eines der Polstersitze wie eines Thrones zu bemächtigen. Bei dieser offenen Anrufung seines Rivalen jedoch glühte in seinen opalen Augäpfeln all die leidenschaftliche Unverschämtheit des Sklaven auf; für einen Augenblick ballte er seine riesigen braunen Fäuste und verschwand dann, indem er die Tür aufstieß, in seinen eigenen dahinter liegenden Räumen. Inzwischen hatte der Versuch Miss Romes, die britische Armee in Bewegung zu setzen, nicht so einfach geklappt, wie zu erwarten gewesen war. Cutler hatte sich zwar steif und schnell erhoben und war, hutlos und wie auf Befehl, der Tür entgegengeschritten. Aber vielleicht gab es da etwas aufreizend Elegantes in der lässigen Gestalt Seymours, der gegen einen der Spiegel lehnte, was ihn unmittelbar vor dem Eingang zum Stillstand und dazu brachte, den Kopf hin und her zu bewegen wie eine verwirrte Bulldogge.

»Ich muß diesem dummen Menschen den Weg zeigen«, flüsterte Aurora Seymour zu und rannte über die Schwelle, um den abgehenden Gast zur Eile anzutreiben.

Seymour schien in seiner eleganten und sorglosen Pose zu lauschen und schien erleichtert, als er hörte, wie die Dame dem Hauptmann einige letzte Instruktionen nachrief und sich dann auf dem Absatz umdrehte und lachend die Passage gegen das andere Ende zu hinablief, das Ende mit der Terrasse über der Themse. Doch eine Sekunde oder zwei danach verdüsterte sich Seymours Stirn erneut. Ein Mann in seiner Position hat so viele Rivalen, und er erinnerte sich, daß sich am anderen Ende der Passage der entsprechende Eingang zu Brunos privater Garderobe befand. Er verlor seine Haltung nicht; er sagte einige höfliche Worte zu Father Brown über die Wiederbelebung byzantinischer Architektur in der Kathedrale von Westminster und schlenderte dann ganz ungezwungen hinaus in das obere Ende der Passage. Father Brown und Parkinson blieben allein zurück, und keiner von ihnen hatte Geschmack an überflüssiger Konversation. Der Garderobier ging im Zimmer umher, zog Spiegel vor und schob sie wieder zurück, und sein abgewetzter dunkler Anzug sah um so schäbiger aus, als er immer noch den schimmernden Märchenspeer Oberons hielt. Jedesmal, wenn er den Rahmen eines anderen Spiegels hervorzog, erschien eine andere schwarze Gestalt Father Browns; das absurde Spiegelkabinett war voller Father Browns, kopfüber in der Luft wie Engel, Purzelbäume schlagend wie Akrobaten, jedem ihre Rücken zukehrend wie ungewöhnlich ungezogene Leute.

Father Brown schien sich dieser Wolke von Zeugen nicht bewußt zu sein, sondern verfolgte Parkinson mit müßig aufmerksamem Blick, bis jener sich mitsamt seinem absurden Speer in das entferntere Zimmer von Bruno begab. Danach gab er sich jenen abstrakten Meditationen hin, wie sie ihn immer ergötzten – Berechnung der Spiegelwinkel, der Brechungswinkel, der Winkel, mit denen jeder Spiegel an der Wand befestigt werden müßte… als er einen lauten, aber erstickten Schrei hörte.

Er sprang auf und lauschte erstarrt. Im gleichen Augenblick stürmte Sir Wilson Seymour wieder ins Zimmer, weiß wie Elfenbein. »Wer ist der Mann in der Passage?« schrie er. »Wo ist der Dolch von mir?«

Ehe Father Brown sich noch in seinen schweren Stiefeln hatte umdrehen können, durchwühlte Seymour auf der Suche nach der Waffe bereits den Raum. Und ehe er noch diese Waffe oder eine andere hätte finden können, erscholl das scharfe Geräusch rennender Füße draußen auf dem Pflaster, und das kantige Gesicht von Cutler wurde in den gleichen Eingang geschoben. Er umklammerte immer noch grotesk einen Maiglöckchenstrauß. »Was ist los?« schrie er. »Wer ist dieses Wesen da draußen in der Passage? Ist das einer Ihrer Tricks?«

»Meine Tricks!« zischte sein bleicher Rivale und machte einen Schritt auf ihn zu.

In dem Augenblick, da dieses alles sich abspielte, trat Father Brown oben in die Passage, blickte sie hinab und ging dann rasch auf das zu, was er da sah.

Angesichts dessen ließen die beiden anderen Männer ihren Streit beiseite und stürmten hinter ihm her, wobei Cutler rief: »Was machen Sie da? Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Brown«, sagte der Priester traurig, als er sich über etwas beugte und sich dann wieder aufrichtete. »Miss Rome hat nach mir geschickt, und ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Ich bin zu spät gekommen.«

Die drei Männer blickten nach unten, und in wenigstens einem von ihnen erstarb in jenem späten Nachmittagslicht das Leben. Das Licht durchfloß die Passage wie ein Pfad aus Gold, und in seiner Mitte lag Aurora Rome in ihren schimmernden Gewändern aus Grün und Gold, ihr totes Gesicht nach oben gewendet. Ihr Kleid war wie durch einen Kampf beiseite gerissen und ließ ihre rechte Schulter bloß, aber die Wunde, aus der das Blut quoll, war auf der anderen Seite. Der Bronzedolch lag flach und glänzend einen Meter oder so entfernt.

Für geraume Zeit herrschte tote Stille, so daß sie weit entfernt ein Blumenmädchen vor Charing Cross lachen hören konnten, und irgend jemanden, der in einer der Nebenstraßen des Strand wütend nach einem Taxi pfiff. Dann packte der Hauptmann mit einer so schnellen Bewegung, daß es entweder Leidenschaft oder Schauspielerei sein konnte, Sir Wilson Seymour bei der Gurgel.

Seymour blickte ihn stetig ohne Kampf noch Furcht an. »Sie brauchen mich nicht zu töten«, sagte er mit kalter Stimme; »das werde ich schon selbst besorgen.«

Des Hauptmanns Hand zögerte und sank; und der andere fügte mit der gleichen eisigen Direktheit hinzu: »Falls ich nicht den Mut aufbringen sollte, das mit jenem Dolch zu tun, kann ich es binnen eines Monats mit Trinken schaffen.«

»Trinken ist für mich nicht gut genug«, erwiderte Cutler, »aber bevor ich sterbe, will ich hierfür Blut sehen. Nicht Ihres – aber ich glaube, ich weiß, wessen.«

Und ehe noch die anderen seine Absicht erkennen konnten, griff er sich den Dolch, sprang zu jener anderen Türe am unteren Ende der Passage, rannte sie mit Riegel und Schloß nieder und trat Bruno in dessen Garderobe gegenüber. Als er das tat, schlurfte der alte Parkinson in seiner zittrigen Weise aus der Tür und erblickte die Leiche, die in der Passage lag. Er bewegte sich erbebend auf sie zu; schaute sie schwächlich mit zuckendem Gesicht an; bewegte sich dann bebend zurück in die Garderobe und setzte sich plötzlich auf einen der reichgepolsterten Stühle. Father Brown lief sofort zu ihm, wobei er Cutler und den riesigen Schauspieler außer acht ließ, obwohl der Raum schon von ihren Hieben widerhallte und sie um den Dolch zu kämpfen begannen. Seymour, der sich einen gewissen praktischen Sinn bewahrt hatte, pfiff am Ende der Passage nach der Polizei.

Als die Polizei eintraf, hatte sie zunächst die beiden Männer aus einer affenähnlichen Umklammerung zu lösen und nach einigen formellen Fragen Isidore Bruno unter der Mordanklage zu verhaften, die sein wütender Gegner gegen ihn vorbrachte. Der Gedanke, daß der große Nationalheld der Stunde einen Übeltäter mit eigener Hand gefangengenommen hatte, fiel bei der Polizei, die nicht frei von journalistischen Elementen ist, zweifellos ins Gewicht. Sie behandelten Cutler mit einer gewissen feierlichen Aufmerksamkeit und wiesen darauf hin, daß er an der Hand einen leichten Schnitt habe. Denn als Cutler Bruno über umgestürzte Stühle und Tische zurückdrängte, hatte dieser ihm den Dolch aus dem Griff gewunden und ihn gerade unterhalb des Handgelenks verletzt. Die Wunde war wirklich leicht, aber bis er aus dem Zimmer entfernt war, blickte der halbwilde Häftling mit stetem Lächeln auf das rinnende Blut.

»Der Kerl sieht fast wie ein Kannibale aus, nicht?« sagte der Schutzmann vertraulich zu Cutler.

Cutler antwortete nicht, sagte aber einen Augenblick später scharf: »Wir müssen uns um… um die Tote…«, und seine Stimme versagte.

»Die beiden Toten«, kam die Stimme des Priesters von der anderen Seite des Zimmers. »Dieser arme Kerl war schon tot, als ich zu ihm kam.« Und er stand da und blickte auf den alten Parkinson hinab, der da als schwarzes Bündel auf dem prachtvollen Stuhl saß. Auch er hatte, nicht unberedt, der Frau, die da gestorben war, seinen Tribut gezollt.

Das Schweigen brach als erster Cutler, der von einer rauhen Zärtlichkeit angerührt schien. »Ich wollte, ich wäre er«, sagte er heiser. »Ich erinnere mich, daß er sie mehr als jeder andere beobachtete, wo immer sie ging. Sie war seine Luft, und jetzt ist er verschmachtet. Er ist einfach tot.«

»Wir sind alle tot«, sagte Seymour mit seltsamer Stimme und blickte die Straße hinab.

Sie nahmen an der Straßenecke Abschied von Father Brown mit einigen flüchtigen Entschuldigungen hinsichtlich irgendwelcher Unhöflichkeiten, die vielleicht vorgefallen seien. Ihrer beider Gesichter waren tragisch, aber auch verschlossen.

Der Geist des kleinen Priesters war immer ein Kaninchengehege voller wilder Gedanken, die zu schnell umherhüpften, als daß er sie hätte festhalten können. Wie der weiße Schwanz eines Kaninchens schoß ihm der Gedanke durch den Sinn, daß er ihrer Trauer sicher war, ihrer Unschuld aber nicht so sicher.

»Wir sollten besser gehen«, sagte Seymour schwer; »wir haben alles getan, was wir konnten, um zu helfen.«

»Ob Sie wohl meine Beweggründe verstehen«, fragte Father Brown ruhig, »wenn ich sage, daß Sie alles getan haben, was Sie konnten, um zu schaden?«

Beide fuhren sie wie schuldig zusammen, und Cutler fragte scharf: »Wem zu schaden?«

»Sich selbst zu schaden«, antwortete der Priester. »Ich würde Ihren Kummer nicht noch erschweren, wenn es nicht einfacher Gerechtigkeitssinn wäre, Sie zu warnen. Sie haben fast alles getan, was Sie konnten, um sich selbst zu hängen, wenn dieser Schauspieler freigesprochen werden sollte. Man wird mich sicherlich als Zeugen vorladen; und dann muß ich sagen, daß Sie beide, nachdem der Schrei gehört worden war, in aufgelöstem Zustand in das Zimmer stürzten und sich um einen Dolch zu streiten begannen. So weit ich unter Eid aussagen kann, könnte jeder von Ihnen beiden es getan haben. Damit haben Sie sich geschadet; und dann mußte sich Hauptmann Cutler auch noch mit dem Dolch schaden.«

»Mir schaden!« rief der Hauptmann verächtlich aus. »Ein dummer kleiner Kratzer.«

»Der Blut fließen ließ«, erwiderte der Priester nickend. »Wir wissen, daß jetzt Blut auf der Bronze ist. Und deshalb werden wir nie erfahren, ob bereits vorher Blut da war.«

Schweigen herrschte; und dann sagte Seymour mit einem Nachdruck, der seiner üblichen Redeweise ganz fremd war: »Aber ich habe doch einen Mann in der Passage gesehen.«

»Ich weiß, daß Sie einen Mann sahen«, sagte der Kleriker Brown mit hölzernem Gesicht, »und Hauptmann Cutler sah auch einen Mann. Das macht es so unwahrscheinlich.«

Bevor einer von ihnen sich darüber genügend klar werden konnte, um auch nur zu antworten, hatte Father Brown sich höflich entschuldigt und stapfte mit seinem zerfledderten alten Regenschirm die Straße hinauf.

Wie moderne Zeitungen geleitet werden, sind die ehrlichsten und wichtigsten Nachrichten die Polizeinachrichten. Wenn es zutrifft, daß im 20. Jahrhundert dem Mord mehr Platz eingeräumt wird als der Politik, so aus dem ausgezeichneten Grund, daß Mord ein ernsthafteres Thema ist. Aber selbst das könnte kaum die ungeheure Allgegenwart des »Falles Bruno« oder des »Geheimnisses der Passage« und die weite Verbreitung der Einzelheiten in der Londoner wie in der Provinzpresse erklären. So groß war die Aufregung, daß die Presse für einige Wochen tatsächlich die Wahrheit berichtete; und so sind denn die unendlichen, ja selbst unerträglichen Berichte über die Verhöre und die Kreuzverhöre wenigstens zuverlässig. Der wahre Grund lag natürlich im Zusammentreffen der Persönlichkeiten. Das Opfer war eine beliebte Schauspielerin; der Angeklagte war ein beliebter Schauspieler; und der Angeklagte war sozusagen mit blutigen Händen vom populärsten Soldaten der patriotischen Saison gefaßt worden. Diese außergewöhnlichen Umstände zwangen die Presse zur Aufrichtigkeit und Genauigkeit; und so kann denn der Rest dieser ziemlich einzigartigen Geschichte aus den Reportagen über Brunos Verfahren berichtet werden.

Dem Verfahren saß Richter Monkhouse vor, einer jener, die als witzige Richter verhöhnt werden, die aber im allgemeinen viel ernsthafter sind als die ernsthaften Richter, denn ihre Leichtfertigkeit entspringt ihrer lebendigen Ungeduld professioneller Feierlichkeit gegenüber; während der ernsthafte Richter in Wahrheit voller Frivolität steckt, weil er voller Eitelkeit steckt. Da alle hauptbeteiligten Personen von irdischer Bedeutung waren, hatte man die Anwälte sorgsam ausbalanciert; Staatsanwalt war Sir Walter Cowdray, ein schwerer, aber gewichtiger Advokat jener Art, die weiß, wie man englisch und vertrauenswürdig erscheint und wie man sich rhetorisch zurückhaltend hervortut. Den Gefangenen verteidigte der Anwalt Patrick Butler, den jene für einen bloßen »Flaneur« hielten, die den Charakter der Iren mißverstehen – und jene, die von ihm noch nicht verhört worden sind. Die medizinischen Untersuchungsberichte ergaben keine Widersprüche, da der Arzt, den Seymour sofort beigezogen hatte, mit dem bedeutenden Chirurgen übereinstimmte, der die Leiche später untersucht hatte. Aurora Rome war mit einem scharfen Instrument wie Messer oder Dolch erstochen worden; einem Instrument zumindest, dessen Klinge kurz war. Die Wunde befand sich unmittelbar über dem Herzen, und sie war sofort gestorben. Als der Arzt sie zuerst sah, konnte sie kaum mehr als 20 Minuten tot sein. Deshalb konnte sie, als Father Brown sie fand, kaum mehr als 3 Minuten tot sein.

Einige amtliche Polizeiberichte folgten, die sich vor allem mit der Anwesenheit oder Abwesenheit jeglichen Beweises für einen Kampf befaßten; der einzige Hinweis auf so etwas war, daß das Kleid an der Schulter zerrissen war, und das wiederum paßte nicht eben gut zu Richtung und Endgültigkeit des Hiebes. Nachdem diese Einzelheiten vorgetragen, wenn auch nicht erklärt waren, wurde der erste der wichtigen Zeugen aufgerufen.

Sir Wilson Seymour machte seine Aussage, wie er alles tat, was er überhaupt tat – nicht nur gut, sondern vollendet. Obwohl selbst weitaus mehr ein Mann der Öffentlichkeit als der Richter, vermittelte er doch gerade jenen feinen Hauch von Selbstrücknahme vor des Königs Gerichtshof; und obwohl jedermann ihn ebenso beobachtete, wie man den Premierminister oder den Erzbischof von Canterbury beobachtet hätte, hätte doch niemand etwas anderes über sein Auftreten sagen können, als daß es das eines privaten Gentleman war, wobei die Betonung auf dem Hauptwort liegt. Zudem war er erfrischend klar, wie er es auch bei Ausschußsitzungen war. Er hatte Miss Rome im Theater besucht; er hatte dort Hauptmann Cutler getroffen; es hatte sich ihnen für kurze Zeit der Angeklagte angeschlossen, der dann in seine eigenen Gemächer zurückgekehrt war; danach hatte sich ihnen ein römisch-katholischer Priester angeschlossen, der nach der verstorbenen Dame fragte und sagte, sein Name sei Brown. Miss Rome sei dann aus dem Theater bis zum Eingang der Passage gegangen, um Hauptmann Cutler ein Blumengeschäft zu zeigen, wo er ihr noch mehr Blumen kaufen sollte; und der Zeuge sei da im Raum verblieben und habe einige Worte mit dem Priester gewechselt. Er habe dann ganz deutlich die Verstorbene, nachdem sie den Hauptmann auf seinen Botengang entsandt habe, sich lachend umkehren und die Passage hinab zum anderen Ende laufen gehört, wo sich die Garderobe des Gefangenen befand. In müßiger Neugier betreffend die schnellen Bewegungen seiner Freunde sei er selbst zum Anfang der Passage hinausgeschlendert und habe sie hinab zur Tür des Gefangenen hin überblickt. Ob er in der Passage etwas gesehen habe? Ja; er habe in der Passage etwas gesehen.

Sir Walter Cowdray ließ eine eindrucksvolle Pause entstehen, während der der Zeuge zu Boden blickte und trotz seiner üblichen Gelassenheit bleicher als üblich erschien. Dann fragte der Staatsanwalt mit leiserer Stimme, die zugleich anteilnehmend und schleichend klang: »Haben Sie es deutlich gesehen?«

Sir Wilson Seymour hatte, wie erregt auch immer, sein ausgezeichnetes Hirn in der vollsten Arbeitsordnung. »Sehr deutlich, was die Umrisse angeht, aber nur sehr undeutlich, oder besser überhaupt nicht, was die Einzelheiten innerhalb des Umrisses angeht. Die Passage ist so lang, daß jemand in ihrer Mitte vor der Helligkeit am anderen Ende einfach schwarz erscheint.« Der Zeuge senkte seine steten Augen ein weiteres Mal und fügte hinzu: »Ich hatte diese Tatsache bereits zuvor bemerkt, als Hauptmann Cutler sie zuerst betrat.« Wiederum entstand ein Schweigen, und der Richter lehnte sich vor und machte sich eine Notiz.

»Na schön«, sagte Sir Walter geduldig, »und wie sah der Umriß aus? Ähnelte er zum Beispiel der Gestalt der ermordeten Frau?«

»Nicht im entferntesten«, antwortete Seymour ruhig.

»Wie erschien er Ihnen denn?«

»Er erschien mir«, erwiderte der Zeuge, »wie ein großer Mann.«

Jedermann im Gericht hielt seine Augen auf seine Feder gerichtet, oder seine Regenschirmkrücke, oder sein Buch, oder seine Stiefel, oder worauf er auch immer zufällig blickte. Alle schienen ihre Blicke mit Gewalt von dem Gefangenen fortzuhalten; aber sie empfanden seine Anwesenheit auf der Anklagebank, und sie empfanden sie als gigantisch. Wie groß Bruno auch immer dem Auge erscheinen mochte, als aller Augen von ihm abgewandt waren, schien er immer größer und größer zu werden.

Cowdray nahm mit seinem feierlichen Gesicht seinen Platz wieder ein und strich sich glättend über die schwarze Seidenrobe und den weißen Seidenbackenbart. Sir Wilson verließ nach einigen letzten Einzelheiten, für die es viele andere Zeugen gab, den Zeugenstand, als der Anwalt der Verteidigung aufsprang und ihn anhielt.

»Ich werde Sie nur für einen Augenblick aufhalten«, sagte Mr. Butler, eine bäuerisch aussehende Person mit roten Augenbrauen und dem Ausdruck einer gewissen Schläfrigkeit. »Wollen Sie bitte dem Hohen Gericht sagen, woher Sie wußten, daß es ein Mann war?«

Ein schwaches feines Lächeln schien über Seymours Züge zu gleiten. »Ich fürchte, es handelt sich um etwas so Vulgäres wie Hosenbeine«, sagte er. »Als ich zwischen den langen Beinen das Tageslicht sah, war ich schließlich sicher, daß es sich um einen Mann handelte.«

Butlers schläfrige Augen öffneten sich so plötzlich wie durch eine lautlose Explosion. »Schließlich!« wiederholte er langsam. »Also dachten Sie zuerst, es handele sich um eine Frau?«

Seymour sah zum ersten Mal beunruhigt aus. »Es handelt sich zwar nicht um eine Tatsache«, sagte er, »aber wenn das Hohe Gericht wünscht, daß ich meinem Eindruck Ausdruck gebe, will ich das natürlich tun. Da war etwas an dem Ding, das nicht so recht zu einer Frau paßte, und doch auch wieder nicht ganz zu einem Mann; irgendwie waren die Kurven anders. Und es hatte etwas, das wie lange Haare aussah.«

»Ich danke Ihnen«, sagte der Anwalt Butler und setzte sich so plötzlich nieder, als habe er bekommen, was er wünschte.

Hauptmann Cutler war ein bei weitem weniger glaubwürdiger und gefaßter Zeuge als Sir Wilson, aber sein Bericht über die Anfangsereignisse war im wesentlichen gleich. Er beschrieb die Rückkehr Brunos in seine Garderobe, seine eigene Entsendung zum Einkauf eines Maiglöckchenstraußes, seine Rückkehr zum oberen Ende der Passage, wie er das Ding in der Passage sah, seinen Verdacht gegen Seymour und seinen Kampf mit Bruno. Aber er konnte nur geringen künstlerischen Beistand hinsichtlich der schwarzen Gestalt geben, die er und Seymour gesehen hatten. Gefragt nach dem Umriß sagte er, daß er kein Kunstkritiker sei – mit einem etwas zu offensichtlichen Hohngrinsen zu Seymour hin. Gefragt nach Mann oder Frau, sagte er, es habe mehr nach einem Tier ausgesehen – mit einem zu offensichtlichen Knurren zum Gefangenen hin. Doch war der Mann von Kummer und aufrichtigem Zorn offensichtlich erschüttert, und Cowdray entband ihn rasch von der Aufgabe, Tatsachen zu bestätigen, die schon ausreichend klar waren.

Und auch der Anwalt der Verteidigung war in seinem Kreuzverhör wiederum kurz; obwohl er (wie das seine Gewohnheit war) selbst beim Kurzsein sich lange Zeit nahm. »Sie verwendeten einen ziemlich bemerkenswerten Ausdruck«, sagte er und sah Cutler schläfrig an. »Was meinten Sie, als Sie sagten, es habe mehr nach einem Tier ausgesehen, als nach einem Mann oder einer Frau?«

Cutler schien wirklich aufgeregt. »Vielleicht hätt’ ich das nicht sagen sollen«, sagte er; »aber das Vieh hatte mächtige bucklige Schultern wie ein Schimpanse, und Borsten ragten ihm aus dem Kopf wie einem Schwein – «

Mr. Butler schnitt ihm seine sonderbare Ungeduld in der Mitte ab. »Egal, ob das Haar wie Schweinsborsten war«, sagte er, »war es das einer Frau?«

»Einer Frau!« schrie der Soldat. »Großer Gott, nein!«

»Der letzte Zeuge sagte, ja«, kommentierte der Anwalt mit skrupelloser Raschheit. »Und hatte die Gestalt irgendwelche jener geschwungenen und irgendwie weiblichen Kurven, auf die so beredt angespielt wurde? Nein? Keine weiblichen Kurven? Die Gestalt war also, wenn ich Sie richtig verstehe, eher schwerfällig und eckig als anders?«

»Er kann sich ja vornübergebeugt haben«, sagte Cutler mit heiserer und ziemlich schwacher Stimme.

»Oder auch nicht«, sagte Mr. Butler und setzte sich zum zweiten Mal plötzlich nieder.

Der dritte Zeuge, den Sir Walter Cowdray aufrief, war der kleine katholische Kirchenmann, im Vergleich zu den anderen so klein, daß sein Kopf kaum über den Zeugenstand ragte, so daß es aussah, als werde ein Kind kreuzverhört. Unglücklicherweise hatte sich in Sir Walters Kopf der Gedanke festgesetzt (vor allem wegen einiger Verzwicktheiten in der Religion seiner Familie), daß Father Brown auf der Seite des Gefangenen stehe, weil der Gefangene böswillig und ausländisch und sogar teilweise schwarz war. Deshalb fuhr er Father Brown jedesmal scharf an, wenn jener stolze Kirchenfürst es wagte, irgend etwas erklären zu wollen; und befahl ihm, mit Ja oder Nein zu antworten und die einfachen Tatsachen ohne alle Jesuiterei zu erzählen. Als Father Brown in seiner Einfalt darüber zu berichten begann, wer seiner Meinung nach der Mann in der Passage gewesen sei, erklärte ihm der Staatsanwalt, er wünsche seine Theorien nicht.

»Eine schwarze Form wurde in der Passage gesehen. Und Sie sagen, Sie haben die schwarze Form gesehen. Also gut, welche Form war das?«

Father Brown zwinkerte, als sei er getadelt worden; aber er kannte seit langem die wörtliche Natur des Gehorsams. »Die Form«, sagte er, »war kurz und dick, aber hatte zwei scharfe schwarze Auswüchse, die sich an jeder Seite des Kopfes oder oben hochwölbten, ähnlich wie Hörner, und – «

»Oha! Der Teufel mit Hörnern, zweifellos«, stieß Cowdray hervor und setzte sich in triumphierender Heiterkeit nieder. »Es war der Teufel, der gekommen ist, um Protestanten zu fressen.«

»Nein«, sagte der Priester leidenschaftslos; »ich weiß, wer es war.«

Die im Gerichtssaal Anwesenden waren in ein irrationales aber höchst reales Gefühl irgendeiner Ungeheuerlichkeit geraten. Sie hatten die Gestalt auf der Anklagebank vergessen und dachten nur an die Gestalt in der Passage. Und die Gestalt in der Passage, die von drei fähigen und ehrenwerten Männern beschrieben wurde, welche sie alle gesehen hatten, wurde zu einem sich wandelnden Albtraum: einer nannte sie eine Frau, und der andere ein Tier, und der nächste einen Teufel…

Der Richter sah Father Brown mit stetigen und durchdringenden Augen an. »Sie sind ein außergewöhnlicher Zeuge«, sagte er; »aber irgend etwas an Ihnen überzeugt mich davon, daß Sie sich bemühen, die Wahrheit zu sagen. Alsdann, wer war der Mann, den Sie in der Passage gesehen haben?«

»Er war ich«, sagte Father Brown.

Anwalt Butler sprang in der außerordentlichen Stille auf und sagte sehr ruhig: »Erlaubt mir das Hohe Gericht Kreuzverhör?« Und dann, ohne Pause, schoß er gegen Brown die offenkundig zusammenhanglose Frage ab: »Sie haben von diesem Dolch gehört; Sie wissen, daß die Fachleute behaupten, das Verbrechen sei mit einer kurzen Klinge begangen worden?«

»Eine kurze Klinge«, stimmte Brown zu und nickte feierlich wie eine Eule, »aber ein sehr langer Schaft.«

Noch ehe die Zuhörer sich ganz von der Vorstellung befreien konnten, der Priester habe sich wirklich selbst gesehen, wie er den Mord mit einem kurzen Dolch an einem langen Schaft (was die Sache irgendwie noch schauerlicher machte) beging, beeilte er sich mit einer Erklärung.

»Ich meine, Dolche sind nicht die einzigen Dinge mit kurzen Klingen. Speere haben auch kurze Klingen. Und auch Speere treffen mit der Stahlspitze wie Dolche, wenn es sich um jene Art von nachgemachten Speeren handelt, wie man sie im Theater hat; wie der Speer, mit dem der arme alte Parkinson seine Frau tötete, die gerade nach mir geschickt hatte, um die familiären Schwierigkeiten zu regeln – und ich kam um einen Augenblick zu spät, Gott verzeihe mir! Aber er starb in Reue – er starb geradezu aus Reue. Er konnte nicht ertragen, was er getan hatte.«

Der allgemeine Eindruck im Gerichtssaal war, daß der kleine Priester, der da vor sich hin brabbelte, im Zeugenstand buchstäblich verrückt geworden sei. Aber der Richter sah ihn nach wie vor mit hellen und stetigen Augen voller Interesse an; und der Anwalt der Verteidigung fuhr ungerührt mit seinen Fragen fort.

»Wenn Parkinson es mit jenem Theaterspeer getan hat«, sagte Butler, »dann muß er ihn aus etwa 4 Metern Entfernung geschleudert haben. Wie erklären Sie sich dann die Anzeichen eines Kampfes, zum Beispiel das von der Schulter gezerrte Kleid?« Er hatte begonnen, seinen einfachen Zeugen wie einen Fachmann zu behandeln; aber im Augenblick bemerkte das niemand.

»Das Kleid der armen Dame war zerrissen«, sagte der Zeuge, »weil es sich in einem Rahmen verfangen hatte, der gerade hinter ihr herausglitt. Sie bemühte sich freizukommen, und während sie das tat, kam Parkinson aus dem Zimmer des Angeklagten und schleuderte den Speer.«

»Ein Rahmen?« fragte der Staatsanwalt mit neugieriger Stimme.

»Es war ein Spiegel auf der anderen Seite«, erklärte Father Brown. »Als ich in der Garderobe war, bemerkte ich, daß einige von ihnen wahrscheinlich in die Passage hinausgeschoben werden konnten.«

Danach herrschte ein weiteres ausgedehntes und unnatürliches Schweigen, und dieses Mal war es der Richter, der sprach. »Sie meinen also wirklich, daß als Sie die Passage hinabblickten, der Mann, den Sie sahen, Sie selbst waren – in einem Spiegel?«

»Ja, Euer Ehren; das habe ich versucht zu sagen«, sagte Brown, »aber dann fragte man mich nach der Form; und unsere Hüte haben Ecken wie Hörner, und so habe ich – «

Der Richter lehnte sich nach vorne, seine alten Augen glänzten noch heller, und er sagte mit besonderer Betonung: »Wollen Sie wirklich behaupten, daß als Sir Wilson Seymour jenes wilde Was-auch-immer mit Kurven und Frauenhaar und Männerhosen sah, er in Wirklichkeit Sir Wilson Seymour sah?«

»Ja, Euer Ehren«, sagte Father Brown.

»Und Sie wollen behaupten, daß als Hauptmann Cutler jenen Schimpansen mit buckligen Schultern und Schweineborsten sah, er sich einfach selbst sah?«

»Ja, Euer Ehren.«

Der Richter lehnte sich in seinen Sitz mit einem solchen Behagen zurück, daß man darin Zynismus und Bewunderung kaum auseinanderhalten konnte. »Und können Sie uns auch sagen«, fragte er, »warum Sie Ihre eigene Gestalt im Spiegel erkannten, wo das zwei so bedeutende Persönlichkeiten nicht konnten?«

Father Brown blinzelte noch schmerzlicher als zuvor; dann stammelte er: »Wirklich, Euer Ehren, ich weiß nicht… vielleicht, weil ich nicht so oft hineinschaue.«