Das Paradies der Diebe

 

Der große Muscari, der originellste unter den jungen toskanischen Dichtern, eilte in sein Lieblingsrestaurant, das, von einem Sonnensegel überdacht und von kleinen Limonen- und Orangenbäumen umzäunt, das Mittelmeer überblickt. Kellner in weißen Schürzen legten auf weißen Tafeln bereits die Insignien eines frühen und eleganten Mahles aus; und das schien in ihm eine Zufriedenheit noch zu steigern, die ohnehin bereits ans Prahlerische grenzte. Muscari hatte eine Adlernase wie Dante; Haare und Halstuch waren dunkel und wallend; er trug einen schwarzen Umhang, und es schien fast, als trüge er auch eine schwarze Maske, so sehr umgab ihn die Atmosphäre venezianischen Melodrams. Er benahm sich, als ob ein Troubadour immer noch ein öffentliches Amt innehabe wie ein Bischof. Er bemühte sich, so weit ihm sein Jahrhundert das gestattete, die Welt wahrhaft als Don Juan zu durchwandeln, mit Degen und Gitarre.

Denn niemals reiste er ohne einen Kasten mit Degen, mit denen er so manches brillante Duell ausgefochten hatte, oder ohne den entsprechenden Kasten mit seiner Mandoline, auf der er gegenwärtig Miss Ethel Harrogate, der äußerst konventionellen Tochter eines Bankiers aus Yorkshire in Ferien, Serenaden darbrachte. Und doch war er weder Scharlatan noch Kindskopf, sondern ein heißblütiger, logisch denkender Südländer, der etwas Bestimmtes mochte und war. Seine Poesie war ebenso geradeaus wie anderer Leute Prosa. Er begehrte Ruhm oder Wein oder die Schönheit von Frauen mit einer sengenden Direktheit, die in den wolkigen Idealen und den wolkigen Kompromissen des Nordens unvorstellbar ist; verschwommeneren Rassen roch seine Intensität nach Gefahr oder gar Verbrechen. Wie das Feuer oder die See war er zu einfach, als daß man ihm hätte vertrauen können.

Der Bankier und seine wunderschöne englische Tochter wohnten in dem Muscaris Restaurant angeschlossenen Hotel; deshalb war es sein Lieblingsrestaurant. Ein schneller Blick durch den Raum zeigte ihm jedoch, daß die englische Gesellschaft noch nicht herabgekommen war. Das Restaurant glitzerte, war aber noch verhältnismäßig leer. Zwei Priester unterhielten sich an einem Tisch in einer Ecke, aber Muscari (ein glühender Katholik) nahm von ihnen nicht mehr Notiz wie von einem Paar Krähen. Doch von einem noch entfernteren Platz, den ein von Orangen goldener Zwergbaum teilweise verdeckte, erhob sich eine Person und kam auf den Poeten zu, deren Gewandung den heftigsten Gegensatz zu seiner eigenen bildete.

Diese Gestalt war in buntscheckigen Tweed gekleidet, mit rosaroter Krawatte, einem steifen Kragen und grellgelben Schuhen. Es gelang ihr in der wahren Tradition ‘Arrys zu Margate, gleichzeitig auffallend und gewöhnlich auszusehen. Als aber diese Cockney-Erscheinung näher kam, bemerkte Muscari erstaunt, daß sich der Kopf auffällig vom Körper unterschied. Es war ein italienischer Kopf: kraushaarig, dunkel und mit lebhaftem Mienenspiel, der jäh aus dem Stehkragen wie aus Karton und der komischen rosaroten Krawatte aufragte. Tatsächlich war es sogar ein Kopf, den er kannte. Er erkannte ihn über all dieser gräßlichen englischen Ferienaufmachung als das Gesicht eines alten, wenngleich vergessenen Freundes namens Ezza. Dieser Knabe war das Wunderkind seiner Schule gewesen, und europaweiter Ruhm war ihm bereits versprochen, als er noch kaum fünfzehn zählte; doch als er ins Leben hinaustrat, scheiterte er, zunächst öffentlich als Dramatiker und Redner und dann während endloser Jahre privat als Schauspieler, Handlungsreisender, Geschäftsvertreter und Journalist. Muscari hatte ihn zuletzt hinter den Scheinwerfern auf der Bühne erblickt; er war mit den Aufregungen jenes Berufes nur zu vertraut gewesen, und allgemein ward angenommen, daß ihn irgendeine Herzenskatastrophe verschlungen habe.

»Ezza!« rief der Poet, erhob sich und schüttelte ihm in angenehmer Überraschung die Hände. »Ich hab dich im grünen Salon zwar schon in mancherlei Kostüm gesehen; aber ich habe niemals erwartet, dich je als Engländer verkleidet zu erblicken.«

»Dieses«, sprach Ezza feierlich, »ist nicht das Kostüm eines Engländers, sondern das des Italieners der Zukunft.«

»In diesem Fall«, bemerkte Muscari, »bekenne ich, daß ich den Italiener der Vergangenheit vorziehe.«

»Das ist dein alter Fehler, Muscari«, sagte der Mann im Tweed und schüttelte den Kopf; »und der Fehler Italiens. Im 16. Jahrhundert begann mit uns Toskanern der neue Tag: Wir hatten den modernsten Stahl, die modernsten Skulpturen, die modernste Chemie. Warum sollten wir nicht auch jetzt die modernsten Fabriken, die modernsten Motoren, das modernste Finanzwesen haben – und die modernste Kleidung?«

»Weil es sich nicht lohnt, sie zu haben«, antwortete Muscari. »Man kann die Italiener nicht wirklich fortschrittlich machen, dazu sind sie zu intelligent. Menschen, die eine Abkürzung zum angenehmen Leben kennen, werden niemals die neuen ausgeklügelten Straßen fahren.«

»Naja, aber für mich sind Marconi oder D’Annunzio die Sterne Italiens«, sagte der andere. »Und deshalb bin ich Futurist geworden – und Reiseführer.«

»Reiseführer!« lachte Muscari. »Ist das der neueste Beruf auf deiner Liste? Und wen führst du?«

»Ach, einen Menschen namens Harrogate und seine Familie, soviel ich weiß.«

»Aber doch nicht den Bankier hier im Hotel?« fragte der Poet mit einigem Eifer.

»Das ist der Mann«, antwortete der Reiseführer.

»Zahlt sich das denn aus?« fragte der Troubadour unschuldig.

»Für mich wird es sich auszahlen«, sagte Ezza mit einem sehr rätselhaften Lächeln. »Aber ich bin auch eine merkwürdige Art Reiseführer.« Und dann, wie um das Thema zu wechseln, sagte er abrupt: »Er hat eine Tochter – und einen Sohn.«

»Die Tochter ist göttlich«, bestätigte Muscari, »Vater und Sohn sind vermutlich menschlich. Aber wenn man ihm auch seine harmlosen Eigenschaften zugesteht, erscheint dir dieser Bankier nicht als ein glänzender Beweis meiner These? Harrogate hat Millionen im Tresor, und ich habe – ein Loch in der Tasche. Aber du wirst nicht behaupten – du kannst nicht behaupten, daß er klüger als ich ist, oder kühner als ich, oder auch nur tatkräftiger. Er ist nicht klug, seine Augen sind wie blaue Knöpfe; er ist nicht tatkräftig, er bewegt sich von Stuhl zu Stuhl wie ein Gelähmter. Er ist ein gewissenhafter, freundlicher, alter Schwachkopf; aber er hat Geld, einfach weil er Geld sammelt, wie ein Junge Briefmarken sammelt. Du hast einen viel zu selbständigen Geist fürs Geschäft, Ezza. Du würdest keinen Erfolg haben. Um klug genug zu sein, so viel Geld zusammenzutragen, muß man dumm genug sein, das zu wollen.«

»Dazu bin ich dumm genug«, sagte Ezza düster. »Aber ich rege eine Vertagung deiner Kritik an dem Bankier an, denn hier kommt er.«

Mr. Harrogate, der große Finanzmann, betrat tatsächlich den Raum, aber niemand beachtete ihn. Er war ein massiger älterer Mann mit verwaschen wirkenden, blauen Augen und einem verblaßten, grau-sandfarbenen Schnurrbart; wenn er nicht von so gebeugter Haltung gewesen wäre, hätte er ein Oberst sein können. Er hielt eine Anzahl ungeöffneter Briefe in der Hand. Sein Sohn Frank war ein wirklich wohlgeratener Bursche, kraushaarig, sonnenverbrannt und lebhaft; aber auch ihn beachtete niemand. Aller Augen richteten sich wie üblich, wenigstens im Augenblick, auf Ethel Harrogate, deren goldenes griechisches Haupt und deren Farben der Morgenröte wie absichtlich über jene saphirene See gesetzt erschienen, wie das Haupt einer Göttin. Der Poet Muscari sog die Luft ein, als täte er einen tiefen Trunk, was er auch wirklich tat. Er trank klassische Antike; die seine Ahnen geschaffen hatten. Ezza betrachtete sie mit der gleichen Intensität, aber mit unsteterem Blick.

Miss Harrogate war bei dieser Gelegenheit besonders strahlend und zum Plaudern aufgelegt; und ihre Familie hatte sich in die bequemere kontinentale Lebensweise sinken lassen, die es dem fremden Muscari und sogar dem Reiseführer Ezza gestattete, ihnen bei Tisch und Gespräch Gesellschaft zu leisten. In Ethel Harrogate krönte sich Konventionalität durch Vollendung und eigenen Glanz selbst. Stolz auf ihres Vaters Steinreichtum, fröhlich fashionablen Vergnügungen hingegeben, liebende Tochter, aber wetterwendischer Flirt, all das war sie, doch in einer Art goldiger Gutmütigkeit, die selbst noch ihren eigenen Stolz erfreulich und ihre gesellschaftliche Ehrsamkeit erfrischend und erquickend machte.

Sie waren in heller Erregung über irgendwelche Gefahren auf den Bergstraßen, die sie in jener Woche befahren wollten. Diese Gefahren bestanden nicht in Steinschlag und Lawinen, sondern in etwas weit Romantischerem. Ethel war in allem Ernst versichert worden, daß Banditen, die wahren Gurgelschlitzer moderner Märchen, immer noch in den Apenninen die einen Klüfte heimsuchten, die anderen Paßstraßen hielten.

»Man sagt«, rief sie mit dem ehrfurchtsvollen Vergnügen eines Schulmädchens, »daß diese ganze Landschaft nicht vom König von Italien, sondern vom König der Diebe beherrscht wird. Wer ist der König der Diebe?«

»Ein großer Mann«, erwiderte Muscari, »wohl wert, zusammen mit Ihrem Robin Hood genannt zu werden, Signorina. Von Montano, dem König der Diebe, hörte man in den Bergen zum ersten Mal vor etwa 10 Jahren, als man behauptete, die Banditen seien ausgerottet. Aber seine wilde Macht verbreitete sich mit der Schnelligkeit einer schweigenden Revolution. Man fand seine herrischen Bekanntmachungen in jedem Gebirgsdorf angenagelt; seine Wachposten, die Büchse in der Hand, in jeder Bergesschlucht. Sechsmal versuchte die italienische Regierung, ihn auszuheben, und sechsmal ward sie in regelrechten Schlachten besiegt, wie von Napoleon.«

»Also so was«, bemerkte der Bankier gewichtig, »würde in England niemals zugelassen werden; vielleicht sollten wir doch eine andere Strecke wählen. Aber unser Reiseführer war der Ansicht, daß sie vollkommen sicher sei.«

»Sie ist vollkommen sicher«, sagte der Reiseführer verächtlich. »Ich habe sie schon zwanzigmal befahren. Vielleicht gab es da zur Zeit unserer Großmütter irgendeinen alten Galgenvogel, den man König nannte; aber das gehört in die Geschichte, wenn nicht gar in die Legende. Heute ist das Banditentum völlig ausgerottet.«

»Es kann niemals völlig ausgerottet werden«, sagte Muscari; »denn der bewaffnete Aufstand ist den Südländern eine Art natürliche Reaktion. Unsere Bauern sind wie ihre Berge, reich an Anmut und grüner Heiterkeit, aber darunter glühen die Feuer. Es gibt in der menschlichen Verzweiflung einen Grenzpunkt, an dem die nördlichen Armen zu den Flaschen greifen – und unsere Armen zu den Dolchen.«

»Dichter haben Vorrechte«, höhnte Ezza zur Antwort. »Wenn Signor Muscari Engländer wäre, würde er immer noch bei Wandsworth nach Straßenräubern suchen. Glauben Sie mir, da besteht in Italien nicht größere Gefahr, entführt zu werden, als in Boston skalpiert zu werden.«

»Also schlagen Sie vor, es zu versuchen?« fragte Mr. Harrogate stirnrunzelnd.

»Oh, das klingt eher schrecklich«, rief das Mädchen und wandte ihre strahlenden Augen Muscari zu. »Glauben Sie wirklich, daß der Paß gefährlich ist?«

Muscari warf seine schwarze Mähne zurück. »Ich weiß, daß er gefährlich ist«, sagte er. »Ich werde ihn morgen überqueren.«

Der junge Harrogate blieb einen Augenblick zurück, um sein Glas Weißwein zu leeren und sich eine Zigarette anzuzünden, während die Schönheit sich mit dem Bankier, dem Reiseführer und dem Poeten zurückzog und Glockentöne silbriger Satire um sich streute. Etwa zur gleichen Zeit erhoben sich die beiden Priester in der Ecke; der größere, ein weißhaariger Italiener, verabschiedete sich. Der kleinere Priester wandte sich um und ging auf den Bankierssohn zu, und diesen erstaunte es festzustellen, daß jener, obwohl katholischer Priester, doch Engländer war. Er konnte sich schwach erinnern, daß er ihm bei gesellschaftlichen Veranstaltungen einiger seiner katholischen Freunde bereits begegnet war. Aber ehe seine Erinnerungen sich noch sammeln konnten, sprach der Mann ihn an.

»Mr. Frank Harrogate, nehme ich an«, sagte er. »Ich bin Ihnen zwar schon vorgestellt worden, will mich darauf aber nicht berufen. Das Eigenartige, was ich zu sagen habe, kommt besser von einem Fremden. Mr. Harrogate, ich will nur ein Wort sagen und dann gehen: Nehmen Sie sich Ihrer Schwester in ihrem großen Schmerz an.«

Selbst für Franks wahrhaft brüderliche Gleichgültigkeit schienen Glanz und Übermut seiner Schwester noch zu strahlen und zu klingen; er konnte ihr Lachen noch aus dem Hotelgarten hören, und so starrte er seinen düsteren Ratgeber nur verwirrt an.

»Meinen Sie die Banditen?« fragte er; und dann erinnerte er sich unbestimmter eigener Befürchtungen. »Oder denken Sie etwa an Muscari?«

»Man denkt niemals an den wahren Schmerz«, sagte der seltsame Priester. »Man kann nur liebevoll sein, wenn er kommt.«

Und damit verließ er den Raum, und ließ den anderen sozusagen mit offenem Munde zurück.

 

Ein oder zwei Tage danach kroch und rüttelte tatsächlich eine Kutsche mit der ganzen Gesellschaft die Ausläufer der bedrohlichen Bergkette hinan. Zwischen Ezzas heiterer Verneinung der Gefahr und Muscaris prahlerischer Verachtung, war die Finanzfamilie fest bei ihrem ursprünglichen Plan geblieben; und Muscari ließ seine Bergreise mit der ihren zusammenfallen. Überraschender war da schon das Auftauchen des kleinen Priesters aus dem Restaurant, der in der Station der Küstenstadt zustieg; er deutete lediglich an, daß auch ihn Geschäfte zwängen, das Gebirge zu überqueren. Aber der junge Harrogate konnte gar nicht anders, als seine Gegenwart mit den geheimnisvollen Ängsten und Warnungen vom Vortag in Verbindung zu bringen.

Die Kutsche war eine Art bequemer Waggonette, erfunden von den modernistischen Talenten des Reiseführers, der die Expedition mit seiner wissenschaftlichen Betriebsamkeit und seinem unbeschwerten Witz beherrschte. Der Gedanke an eine Gefährdung durch Räuber ward aus Gedanken und Gespräch verbannt; obwohl gewissermaßen formell dergestalt anerkannt, daß gewisse Schutzmaßnahmen ergriffen waren. Der Reiseführer und der junge Bankier führten geladene Revolver mit sich, und Muscari hatte sich (mit lebhaftem Lausbubenspaß) unter seinem schwarzen Umhang eine Art Hirschfänger umgeschnallt.

Er hatte seine Person mit fliegendem Sprung neben die liebliche Engländerin gepflanzt; auf ihrer anderen Seite saß der Priester, dessen Name Brown und der selbst glücklicherweise eine schweigsame Person war; Reiseführer und Vater und Sohn saßen auf der hinteren Bank. Muscari war in überschäumender Laune, und da er selbst ernsthaft an die Gefahren glaubte, hätte seine Unterhaltung mit Ethel sie leicht dazu bringen können, ihn für einen Irren zu halten. Aber da war etwas an diesem verrückten und überwältigenden Aufstieg zwischen Klippen wie Bergkuppen, die mit Wäldern wie Obsthaine bedeckt waren, das ihren Geist gemeinsam mit dem seinen in purpurn bizarre Himmel voll kreisender Sonnen emporsog. Die weiße Straße klomm empor wie eine weiße Katze; sie überspannte sonnenlose Abgründe wie das straff gespannte Seil von Seiltänzern; sie war um ferne Vorgebirge geschleudert wie ein Lasso.

Doch wie hoch auch immer sie kamen, überall blühte die Einöde wie eine Rose. Die Felder flammten in Sonne und Wind in den Farben von Eisvogel und Papagei und Kolibri; den Schattierungen von hundert blühenden Blumen. Es gibt keine lieblicheren Wiesen und Wälder als die englischen, keine erhabeneren Grate und Klüfte als die von Snowdon und Glencoe. Ethel Harrogate aber hatte niemals zuvor südliche Gärten auf die Zacken nördlicher Bergspitzen gespreitet gesehen; die Klamm von Glencoe beladen mit den Früchten von Kent. Nichts war hier von jener Kälte und Verlassenheit, die man in England mit wilder Bergwelt verbindet. Es wirkte eher wie ein von Erdbeben zerstörter Mosaikpalast; oder wie ein holländischer Tulpengarten, den man mit Dynamit sternwärts gesprengt hat.

»Das ist wie Kew Gardens auf Beachy Head«, sagte Ethel.

»Das ist unser Geheimnis«, sagte er, »das Geheimnis des Vulkans; das ist auch das Geheimnis der Revolution – daß etwas gewalttätig und zugleich fruchtbar sein kann.«

»Sie sind selbst ziemlich gewalttätig«, und sie lächelte ihn an.

»Und dabei ziemlich fruchtlos«, gab er zu; »wenn ich heute nacht sterbe, sterbe ich unverheiratet und als Narr.«

»Es ist nicht meine Schuld, daß Sie mitgekommen sind«, sagte sie nach schwierigem Schweigen.

»Es ist niemals Ihre Schuld«, antwortete Muscari; »es war nicht Ihre Schuld, daß Troja stürzte.«

Während er so sprach, kamen sie unter überhängende Klippen, die sich fast wie Schwingen über einer Ecke von besonderer Gefährlichkeit spreizten. Vom schweren Schatten über dem schmalen Pfade erschreckt, schreckten die Pferde unsicher zurück. Der Kutscher sprang zu Boden, um sie am Kopfzaum zu packen, und da gerieten sie außer Kontrolle. Ein Pferd bäumte sich auf zu seiner vollen Höhe – der riesigen und schrecklichen Höhe eines Pferdes, das zum Zweibeiner wird. Das reichte, um das Gleichgewicht zu verändern; die ganze Kutsche kenterte wie ein Schiff und stürzte krachend durch den Buschsaum über die Klippe. Muscari schlang einen Arm um Ethel, die sich an ihn klammerte, und schrie laut auf. Für solche Augenblicke lebte er.

Im gleichen Augenblick, da die prunkenden Bergwände wie purpurne Windmühlen um den Kopf des Poeten wirbelten, geschah etwas, das oberflächlich noch erstaunlicher war. Der ältliche und lethargische Bankier sprang in der Kutsche auf und hinab in den Abgrund, noch ehe das kenternde Fahrzeug ihn dorthin zu bringen vermochte. Auf den ersten Blick wirkte der Vorgang wie ein verrückter Selbstmordversuch; aber auf den zweiten so sinnvoll wie eine sichere Kapitalanlage. Der Mann aus Yorkshire besaß offenbar mehr Geistesgegenwart und Klugheit, als Muscari ihm zugetraut hatte; denn er landete auf einem Landstreifen, der aussah, als sei er eigens zu seinem Empfang mit Rasen und Klee gepolstert worden. Nun geschah es tatsächlich, daß die gesamte Gesellschaft in ihrer Niederfahrt gleich glücklich, wenngleich weniger würdevoll war. Unmittelbar unter dieser schroffen Kehre der Straße befand sich eine grasige und blumenbedeckte Mulde wie eine abgesunkene Wiese; eine Art grünsamtener Tasche in den langen, grünen, schleppenden Gewändern der Berge. In diese nun wurden sie alle mit geringem Schaden gestürzt und gestoßen, abgesehen davon, daß ihr kleinstes Gepäck und selbst der Inhalt aus ihren Taschen zerstreut im Grase um sie herum lag. Die zertrümmerte Kutsche hing immer noch über ihnen, in die zähen Hecken verhakt, und die Pferde kämpften sich mühsam den Abhang hinab. Als erster richtete sich der kleine Priester auf, der sich mit einem Ausdruck dummer Verwunderung am Kopfe kratzte. Frank Harrogate hörte ihn zu sich selbst sagen: »Warum in aller Welt sind wir bloß genau hierhin gestürzt?«

Er blinzelte in den Wirrwarr um sich herum und fand da seinen besonders unhandlichen Regenschirm wieder. Dahinter lag der breite Sombrero, der von Muscaris Kopf gefallen war, und daneben ein versiegelter Geschäftsbrief, den er nach einem Blick auf die Adresse dem älteren Harrogate zurückgab. Auf der anderen Seite verbarg das Gras teilweise Miss Ethels Sonnenschirm, und direkt dahinter lag eine sonderbare kleine Glasflasche, knapp zwei Zoll lang. Der Priester hob sie hoch; auf schnelle und unauffällige Weise entkorkte er sie und roch an ihr, und da nahm sein schweres Gesicht die Farbe von Lehm an.

»Der Himmel bewahre uns!« murmelte er. »Das kann nicht ihr gehören! Hat denn ihr Schmerz sie schon erreicht?« Er ließ sie in die Westentasche gleiten. »Ich habe, glaube ich, das Recht dazu«, sagte er, »bis ich ein wenig mehr darüber weiß.«

Er blickte bekümmert zu dem Mädchen hin, das in diesem Augenblick von Muscari aus den Blumen gehoben wurde, der dazu sagte: »Wir sind in den Himmel gestürzt; das ist ein Zeichen. Sterbliche klimmen empor und stürzen ab; aber nur Götter und Göttinnen können aufwärts stürzen.«

Und wirklich stieg sie aus dem Meer der Farben als eine so schöne und glückliche Erscheinung empor, daß der Priester seinen Verdacht erschüttert und vergehen spürte. »Vielleicht«, dachte er, »ist das schließlich gar nicht ihr Gift; vielleicht ist das nur einer von Muscaris melodramatischen Tricks.«

Muscari stellte die Dame leicht auf ihre Füße, machte ihr eine absurde theatralische Verbeugung, zog dann seinen Hirschfänger und hackte mit ihm scharf auf die angespannten Geschirre der Pferde ein, so daß diese auf ihre Hufe kamen und mit fliegenden Flanken im Gras standen. Als er das erledigt hatte, ereignete sich ein höchst bemerkenswerter Vorfall. Ein sehr ruhiger, sehr ärmlich gekleideter, aber äußerst sonnenverbrannter Mann kam aus dem Gebüsch und faßte die Pferde bei den Köpfen. Er hatte ein eigenartig geformtes Messer, sehr breit und krumm, an den Gürtel geschnallt; sonst war nichts Bemerkenswertes an ihm, außer seinem plötzlichen und schweigenden Erscheinen. Der Poet fragte ihn, wer er sei, aber er antwortete nicht.

Als Muscari dann die verwirrte und aufgeschreckte Gruppe in der Mulde überblickte, gewahrte er, daß ein weiterer verbrannter und verlumpter Mann mit einem kurzen Karabiner unterm Arm vom unteren Wiesenrand zu ihnen aufsah, wobei er die Ellenbogen auf den Rasensaum stützte. Dann blickte er zur Straße hinauf, von der sie herabgestürzt waren, und sah von dort die Mündungen von vier weiteren Karabinern und vier weitere braune Gesichter mit hellen, aber ziemlich bewegungslosen Augen auf sie herabschauen.

»Die Banditen!« schrie Muscari in einer Art monströser Heiterkeit. »Dies war eine Falle. Ezza, wenn du mich dir zu Dankbarkeit verpflichten und zunächst den Kutscher erschießen willst, können wir uns unseren Weg noch heraushauen. Ihrer sind nur sechs.«

»Der Kutscher«, sagte Ezza, der ingrimmig mit den Händen in den Hosentaschen dastand, »ist zufällig ein Diener von Mr. Harrogate.«

»Um so mehr Grund, ihn zu erschießen«, rief der Dichter ungeduldig; »man hat ihn bestochen, daß er seinen Herrn umwerfe. Dann wollen wir die Dame in die Mitte nehmen und die Linie da oben in einem Sturmlauf durchbrechen.«

Und durch wildes Gras und Blumen watend, rückte er furchtlos gegen die vier Karabiner vor; doch als er bemerkte, daß ihm niemand außer dem jungen Harrogate folgte, wandte er sich um und schwang seinen Hirschfänger, um die anderen anzustacheln. Dabei sah er den Fremdenführer immer noch in der Mitte des Rasenringes stehen, mit leicht gespreizten Beinen, die Hände in den Taschen; und sein hageres ironisches Italienergesicht schien im Abendlicht länger und länger zu werden.

»Du hast geglaubt, Muscari, daß ich unter uns Schulkameraden der Versager sei«, sagte er, »und du der Erfolg. Aber ich war erfolgreicher als du und werde einen größeren Platz in der Geschichte einnehmen. Ich habe Epen gelebt, während du sie geschrieben hast.«

»Mach schon voran!« donnerte Muscari von oben herab. »Willst du da herumstehen und Unsinn über dich selbst deklamieren, während es eine Dame zu retten gilt und drei starke Männer zur Hilfe bereit stehen? Wie würdest Du Dich da wohl nennen?«

»Ich nenne mich Montano«, rief der sonderbare Reiseführer mit gleichermaßen lauter und voller Stimme. »Ich bin der König der Diebe, und ich heiße euch alle in meiner Sommerresidenz willkommen.«

Und während er noch sprach, kamen fünf weitere schweigsame Männer mit bereitgehaltenen Waffen aus den Büschen und blickten ihn um Befehle an. Einer von ihnen hielt ein großes Blatt Papier in den Händen.

»Dieses hübsche kleine Nest, in dem wir jetzt alle picknicken werden«, fuhr der Reiseführer-Bandit mit dem gleichen leichten, aber düsteren Lächeln fort, »nennt man zusammen mit einigen darunter liegenden Höhlen Das Paradies der Diebe. Es ist meine wichtigste Festung in diesen Bergen; denn dieser Adlerhorst ist (wie Sie zweifellos bemerkt haben) von der Straße oben ebenso unsichtbar wie vom Tale unten. Er ist noch besser als unbezwinglich; er ist unsichtbar. Hier lebe ich meistens, und hier werde ich sicherlich sterben, wenn die Gendarmen mich je hier aufspüren sollten. Ich bin kein Verbrecher jener Art, die sich ›die Verteidigung vorbehält‹, ich gehöre zu jener besseren Art, die sich die letzte Kugel vorbehält.«

Alle starrten ihn still und wie vom Donner gerührt an, mit Ausnahme von Father Brown, der einen mächtigen Seufzer der Erleichterung ausstieß und die kleine Flasche in seiner Tasche befingerte. »Gott sei Dank!« murmelte er. »So wird das sehr viel wahrscheinlicher. Das Gift gehört natürlich diesem Räuberhauptmann. Er trägt es mit sich, damit man ihn wie Cato niemals gefangennehmen kann.«

Der König der Diebe jedoch setzte seine Ansprache mit der gleichen gefährlichen Höflichkeit fort. »Mir bleibt noch übrig«, sagte er, »meinen Gästen jene gesellschaftlichen Umstände zu erklären, unter denen ich das Vergnügen habe, sie bei mir zu empfangen. Ich brauche mich nicht über das seltsame alte Ritual des Lösegeldes auszulassen, das aufrechtzuerhalten mir obliegt; und selbst das betrifft nur einen Teil der Gesellschaft. Hochwürden Father Brown und den berühmten Signor Muscari werde ich morgen im Morgengrauen freilassen und zu meinen Vorposten geleiten lassen. Poeten und Priester besitzen, wenn Sie mir bitte die Direktheit meiner Rede verzeihen, niemals Geld. Und deshalb (da es denn unmöglich ist, aus ihnen etwas herauszuholen) wollen wir die Gelegenheit wahrnehmen und unsere Bewunderung für die klassische Literatur und unsere Hochachtung vor der Heiligen Kirche bezeugen.«

Er hielt mit einem unerfreulichen Lächeln inne; und Father Brown blinzelte ein paarmal zu ihm herüber und schien dann plötzlich mit großer Aufmerksamkeit zu lauschen. Der Räuberhauptmann nahm das große Blatt Papier von seinem Räuberdiener entgegen und fuhr, indem er es überflog, fort: »Meine anderen Absichten werden in diesem öffentlichen Dokument, das ich gleich herumgehen lasse, in aller Deutlichkeit klargestellt; danach wird es in jedem Dorf im Tal und an jeder Kreuzung im Gebirge an Bäume angeschlagen. Ich will Sie nicht mit dem Wortlaut langeweilen, da Sie ihn überprüfen können; das Wesentliche meiner Proklamation ist dies: Ich gebe zunächst bekannt, daß ich den englischen Millionär, den Giganten des Finanzwesens, Mr. Samuel Harrogate, gefangengenommen habe. Alsdann gebe ich bekannt, daß ich bei ihm Noten und Wertpapiere für 2000 Pfund gefunden habe, die er mir übergeben hat. Nun wäre es höchst unmoralisch, einen solchen Vorgang einem gläubigen Publikum zu verkünden, wenn er nicht stattgefunden hat, weshalb ich anrege, daß er ohne weitere Verzögerung stattfinden sollte. Ich rege an, daß Mr. Harrogate senior mir nun die 2000 Pfund aus seiner Tasche übergebe.«

Der Bankier sah ihn unter zusammengezogenen Brauen an, rotgesichtig und mürrisch, aber offenbar eingeschüchtert. Jener Sprung aus der stürzenden Kutsche schien seine letzte Männlichkeit aufgezehrt zu haben. Er hatte sich wie ein geprügelter Hund zurückgehalten, als sein Sohn und Muscari einen kühnen Vorstoß versucht hatten, um aus der Falle der Banditen auszubrechen. Und nun hob sich seine rote und zitternde Hand zögerlich zu seiner Brusttasche und übergab dem Banditen ein Bündel Papiere und Umschläge.

»Ausgezeichnet!« rief jener Gesetzlose fröhlich; »bisher geht alles höchst angenehm. Ich komme also zu den Punkten meiner Proklamation zurück, die in Kürze in ganz Italien veröffentlicht wird. Der dritte Punkt ist der des Lösegeldes. Ich fordere von den Freunden der Familie Harrogate ein Lösegeld von 3000 Pfund, was gegenüber dieser Familie gewiß schon fast eine Beleidigung wegen der bescheidenen Einschätzung ihrer Bedeutung ist. Wer würde denn nicht das Dreifache dieser Summe für einen weiteren Tag in diesem häuslichen Kreise zahlen? Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß das Dokument mit gewissen juristischen Phrasen endet über jene unerfreulichen Dinge, die sich ereignen könnten, wenn das Geld nicht bezahlt wird; aber in der Zwischenzeit lassen Sie mich, meine Damen und Herren, versichern, daß ich hier ausreichend mit den nötigsten Bequemlichkeiten sowie mit Wein und Zigarren versorgt bin und Ihnen für den Augenblick mit den Genüssen des Paradieses der Diebe den Willkomm eines Sportsmannes entbiete.«

Während der ganzen Zeit seiner Ansprache hatten sich zweifelhaft aussehende Männer mit Karabinern und speckigen Schlapphüten schweigend in so überwältigender Menge versammelt, daß selbst Muscari die Hoffnungslosigkeit seines Ausfalls mit dem Schwerte einzusehen gezwungen war. Er blickte sich um; aber das Mädchen war bereits hinübergegangen, um ihren Vater zu trösten und es ihm bequem zu machen, denn ihre natürliche Zuneigung zu seiner Person war ebenso stark, wenn nicht stärker als ihr etwas hochnäsiger Stolz auf seinen Erfolg. Muscari bewunderte diese töchterliche Ergebenheit und wurde doch in der Unlogik des Liebenden durch sie irritiert. Er stieß sein Schwert in die Scheide zurück und warf sich selbst einigermaßen schmollend auf eine der grünen Bänke. Der Priester setzte sich in ein oder zwei Meter Entfernung von ihm nieder, und Muscari wandte ihm seine Adlernase in einer momentanen Verärgerung zu.

»Na«, sagte der Poet schneidend, »meinen die Herrschaften immer noch, ich sei zu romantisch? Gibt es, frage ich, immer noch Banditen in den Bergen?«

»Könnte sein«, sagte Father Brown agnostisch.

»Was meinen Sie damit?« fragte der andere scharf.

»Ich meine, daß ich verwirrt bin«, erwiderte der Priester. »Mich verwirrt Ezza oder Montano oder wie immer er heißen mag. Er scheint mir als Bandit noch viel unerklärlicher denn als Reiseführer.«

»Aber wieso denn?« fragte sein Gefährte nach. »Santa Maria! Mir scheint, daß er als Bandit doch einfach genug ist.«

»Ich finde da drei eigenartige Schwierigkeiten«, sagte der Priester mit ruhiger Stimme. »Ich würde dazu ganz gerne Ihre Meinung hören. Zunächst muß ich berichten, daß ich in jenem Restaurant am Meeresufer gespeist habe. Als Sie zu viert den Raum verließen, gingen Sie und Miss Harrogate vorauf, Sie sprachen und lachten miteinander; der Bankier und der Reiseführer folgten Ihnen, sie sprachen kaum und dann sehr leise. Aber ich konnte es nicht vermeiden, Ezza sagen zu hören: ›Na schön, lassen wir sie noch ein bißchen Spaß haben; Sie wissen ja, welcher Schlag sie jeden Augenblick niederwerfen kann.‹ Mr. Harrogate antwortete nichts; also müssen diese Worte einige Bedeutung gehabt haben. Aus dem Impuls des Augenblicks heraus warnte ich ihren Bruder, daß sie in Gefahr sein könnte; ich sagte aber nichts über deren Natur, denn die kannte ich nicht. Doch wenn es diese Entführung im Gebirge bedeuten sollte, dann ist das alles Unsinn. Warum sollte der Banditen-Reiseführer seinen Brotherrn selbst auch nur durch einen Hinweis warnen, wenn es doch sein ganzes Streben war, ihn in diese Gebirgsmausefalle zu locken? Also kann das nicht gemeint gewesen sein. Wenn aber nicht das, was ist dann jene Gefahr, die sowohl der Reiseführer wie der Bankier kennen und die über Miss Harrogates Haupt schwebt?«

»Gefahr für Miss Harrogate!« brach der Poet aus und richtete sich heftig auf. »Erklären Sie sich; los, weiter.«

»Alle meine Rätsel drehen sich um unseren Banditenhäuptling«, fuhr der Priester nachdenklich fort. »Und hier kommt das zweite. Warum hat er in seiner Lösegeldforderung so nachdrücklich die Tatsache betont, daß er seinem Opfer an Ort und Stelle bereits 2000 Pfund abgenommen hat? Das kann doch das Lösegeld in keiner Weise lockerer machen. Ganz im Gegenteil. Harrogates Freunde würden doch sehr viel eher um ihn Befürchtungen hegen, wenn sie glauben, daß die Räuber arm und verzweifelt sind. Und doch wurde die Ausplünderung an Ort und Stelle nicht nur betont, sondern auch noch an die erste Stelle vor die Lösegeldforderung gesetzt. Warum sollte Ezza Montano ganz Europa erzählen wollen, daß er die Taschen des Opfers vor der Erpressung leerte?«

»Kann ich mir auch nicht vorstellen«, sagte Muscari und rieb sich sein schwarzes Haar ausnahmsweise mit einer natürlichen Geste. »Vielleicht glauben Sie, daß Sie mich erleuchtet haben, aber Sie haben mich nur tiefer in die Dunkelheit geführt. Und was ist der dritte Einwand gegen den König der Diebe?«

»Der dritte Einwand«, sagte Father Brown immer noch nachdenklich, »ist dieser Rand, auf dem wir sitzen. Warum nennt unser Banditen-Reiseführer das hier seine Hauptburg und das Paradies der Diebe? Es ist sicherlich eine sanfte Stelle, um darauf zu stürzen, und eine liebliche Stelle, um sie anzusehen. Es ist auch wahr, daß sie, wie er sagt, vom Tal wie vom Berg aus unsichtbar ist und also ein Versteck. Aber es ist keine Burg. Es könnte nie eine Burg sein. Ich halte es für die schlechteste Befestigung auf Erden. Denn in Wirklichkeit wird sie von der öffentlichen Hochstraße über die Berge da oben beherrscht – ausgerechnet von jenem Platz aus, an dem die Polizei mit großer Sicherheit vorüberkäme. Haben uns denn nicht fünf schäbige kurzläufige Flinten hier noch vor einer halben Stunde hilflos festgehalten? Auch nur ein Zug von Soldaten jeder beliebigen Art könnte uns mühelos über den Klippenrand blasen. Was immer also dieser sonderbare kleine Fleck aus Gras und Blumen bedeuten mag, eine Verschanzung ist er nicht. Er ist irgend etwas anderes; er hat irgendeine andere eigenartige Bedeutung; irgendeinen Wert, den ich nicht begreife. Das Ganze ist eher eine improvisierte Bühne oder eine natürliche Pergola; es ist die Szenerie einer romantischen Komödie; es ist wie…«

Als die Worte des kleinen Priesters sich in die Länge zogen und in einer stumpfen und träumerischen Ernsthaftigkeit verloren, hörte Muscari, dessen animalische Sinne wachsam und ungeduldig waren, ein neues Geräusch im Gebirge. Selbst für ihn war der Klang noch sehr schwach und leise; aber er hätte schwören können, daß die Abendbrise etwas wie das Hämmern von Pferdehufen und fernes Hallogeschrei mit sich brachte.

Im gleichen Augenblick, und lange bevor die Vibrationen die weniger erfahrenen englischen Ohren erreichten, rannte Montano der Bandit den Hang über ihnen hinauf, faßte in der zerbrochenen Hecke Posten, lehnte sich an einen Baum und starrte die Straße hinab. Er gab da oben eine eigentümliche Figur ab, denn als König der Banditen hatte er sich einen phantastischen Schlapphut und ein schaukelndes Wehrgehänge mit Hirschfänger beigelegt, aber der grelle prosaische Tweed des Reiseführers schimmerte doch überall durch.

Im nächsten Augenblick wandte er sein olivfarbenes, höhnisches Gesicht um und machte eine Bewegung mit der Hand. Die Banditen zerstreuten sich auf das Signal hin, nicht in Verwirrung, sondern in einer offenkundigen Art von Guerrilla-Disziplin. Statt aber die Straße entlang des Höhenkamms zu besetzen, verteilten sie sich an ihr entlang hinter den Bäumen und der Hecke, als beobachteten sie ungesehen einen Feind. Das Geräusch wurde nun immer stärker und begann, die Bergstraße zu erschüttern, und eine Stimme konnte deutlich gehört werden, wie sie Befehle erteilte. Die Banditen wurden unruhig und liefen durcheinander, sie fluchten und flüsterten, und die Abendluft war voller leichter metallischer Geräusche, als sie ihre Pistolen spannten oder ihre Messer zückten oder mit ihren Scheiden über die Steine schleiften. Dann begegneten sich die Geräusche von beiden Seiten oben auf der Straße; Zweige brachen, Pferde wieherten, Menschen riefen.

»Entsatz!« schrie Muscari, sprang auf die Füße und schwang seinen Hut. »Die Gendarmen sind über ihnen! Jetzt für die Freiheit, und schlagt gut zu! Jetzt seid Rebellen gegen die Räuber! Los doch, laßt uns nicht alles der Polizei überlassen; das ist so schrecklich modern. Fallt den Schurken in den Rücken. Die Gendarmen retten uns; auf denn, Freunde, laßt uns die Gendarmen retten!«

Und damit schleuderte er seinen Hut über die Bäume, zog erneut seinen Hirschfänger und begann, den Anhang zur Straße hinauf zu erklimmen. Frank Harrogate sprang auf und rannte, den Revolver in der Faust, hinüber, um ihm beizustehen, fand sich aber zu seinem Erstaunen gebieterisch von der rauhen Stimme seines Vaters zurückgerufen, der in heftiger Erregung war.

»Ich will das nicht«, sagte der Bankier mit erstickender Stimme; »ich befehle dir, dich nicht einzumischen.«

»Aber Vater«, sagte Frank hitzig, »ein italienischer Gentleman geht voran. Du wirst doch nicht wollen, daß man sagt, die Engländer seien zurückgeblieben.«

»Nutzlos«, sagte der ältere Mann, der heftig zitterte, »es ist nutzlos. Wir müssen uns unserem Schicksal beugen.«

Father Brown sah den Bankier an; dann legte er die Hand instinktiv wie auf sein Herz, in Wirklichkeit aber auf die kleine Giftflasche; und eine große Helligkeit kam in sein Antlitz wie jene Helligkeit, durch die sich der Tod ankündigt.

Muscari hatte inzwischen, ohne weiter auf Hilfe zu warten, den Straßenrand erklommen und schlug dem Banditenkönig so hart auf die Schulter, daß der stolperte und herumschwang. Auch Montano hatte seinen Hirschfänger aus der Scheide gezogen, und Muscari führte, ohne weitere Worte, einen Hieb nach jenes Kopf, den er abfangen und parieren mußte. Aber noch während die beiden kurzen Klingen sich kreuzten und aneinander klangen, senkte der König der Diebe absichtlich seine Spitze und lachte.

»Was soll denn das, alter Junge?« sagte er in gutgelauntem italienischem Slang. »Diese verdammte Farce ist gleich vorbei.«

»Was meinst du damit, du Ränkeschmied?«, keuchte der feuerfressende Poet. »Ist dein Mut ebenso Betrug wie deine Ehre?«

»Ich bin insgesamt Betrug«, antwortete der Ex-Reiseführer in der besten Laune. »Ich bin ein Schauspieler; und wenn ich jemals einen privaten eigenen Charakter hatte, dann habe ich den längst vergessen. Ich bin ebensowenig ein echter Bandit, wie ich ein echter Reiseführer bin. Ich bin nur ein Bündel Masken, und mit dem kannst du kein Duell fechten.« Und er lachte mit bübischem Vergnügen und fiel wieder in seine alte breitbeinige Haltung zurück und wandte dem Gefecht auf der Straße den Rücken zu.

Dunkelheit nahm unter den Bergwänden zu, und es war nicht leicht, etwas von dem Fortgang des Gefechtes zu erkennen, abgesehen davon, daß hochgewachsene Männer die Nüstern ihrer Pferde durch eine zusammenhaltende Masse Banditen drängten, die allem Anschein nach eher dazu neigten, die Angreifer zu belästigen und zu beschubsen als sie zu töten. Es gemahnte eher an eine Menschenmenge in der Stadt, die der Polizei den Weg verlegen will, als an jenes Bild vom letzten Gefecht eines verlorenen Haufens blutrünstiger Verbrecher, wie es sich der Dichter nur immer ausgemalt hatte. Aber als er gerade begann, seine Augen vor Verwunderung zu verdrehen, fühlte er eine Berührung am Arm und fand den sonderbaren kleinen Priester wie einen kleinen Noah mit einem großen Hut dastehen, der um ein kurzes Gespräch bat.

»Signor Muscari«, sagte der Kleriker, »in dieser eigenartigen Krise sei mir eine gewisse Vertraulichkeit gestattet. Ich möchte Ihnen, ohne Ihnen nahezutreten, einen Rat geben, wie Sie mehr Gutes tun können als dadurch, daß Sie den Gendarmen helfen, die auf jeden Fall siegen werden. Vergeben Sie mir die zudringliche Intimität; aber bedeutet Ihnen das Mädchen etwas? Genug, um Sie zu heiraten und ihr ein guter Ehemann zu sein?«

»Ja«, sagte der Dichter einfach.

»Bedeuten Sie ihr etwas?«

»Ich glaube ja«, war die ebenso ernsthafte Antwort.

»Dann gehen Sie zu ihr und bitten sie um ihre Hand«, sagte der Priester. »Bieten Sie ihr alles, was Sie haben; bieten Sie ihr Himmel und Erde, wenn Sie die besitzen. Die Zeit ist knapp.«

»Warum?« fragte der erstaunte Mann der Feder.

»Weil«, sagte Father Brown, »ihr Schicksal die Straße heraufkommt.«

»Nichts kommt die Straße herauf«, erklärte Muscari, »außer der Rettung.«

»Los doch, gehen Sie zu ihr«, sagte sein Ratgeber, »und halten Sie sich bereit, sie vor den Rettern zu retten.«

Fast noch während er sprach, brachen überall den ganzen Kamm entlang die flüchtenden Banditen jählings durch die Hecken. Sie tauchten in Gebüsche und dichtes Gras, wie geschlagene Männer, die verfolgt werden; und man sah die hohen Federhüte der berittenen Gendarmerie oben an der niedergebrochenen Hecke entlangziehen. Ein anderer Befehl ward gegeben; es erklangen die Geräusche des Absitzens, und ein hochgewachsener Offizier mit Federhut und grauem Kaiserbart und einem Papier in der Hand erschien in der Lücke, die das Portal zum Paradies der Diebe war. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, das in ungewöhnlicher Weise durch den Bankier gebrochen wurde, der mit rauher und erstickender Stimme schrie: »Beraubt! Ich bin beraubt worden!«

»Was denn, das war doch schon vor Stunden«, rief sein Sohn erstaunt, »als man Dir 2000 Pfund raubte.«

»Nicht 2000 Pfund«, sagte der Finanzier in jäher und schrecklicher Gefaßtheit, »nur ein kleines Fläschchen.«

Der Polizist mit dem grauen Kaiserbart strebte über die grüne Mulde. Als er auf seinem Weg dem König der Diebe begegnete, schlug er ihm mit einer Mischung von Zärtlichkeit und Grobheit auf die Schulter und gab ihm einen Stoß, der ihn beiseite taumeln ließ. »Du wirst auch noch Schwierigkeiten bekommen«, sagte er, »wenn du weiter solche Spiele spielst.«

Und wieder erschien das Muscaris Künstlerauge keineswegs wie die Festnahme eines großen niedergehetzten Gesetzlosen. Der Polizist schritt weiter, hielt dann vor der Harrogate-Gruppe inne und sagte: »Samuel Harrogate, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes wegen Unterschlagung der Gelder der Hull & Huddersfield-Bank.«

Der große Bankier nickte in einer sonderbaren Art geschäftsmäßiger Zustimmung, schien einen Augenblick nachzudenken, wandte sich halb um und tat, bevor sich jemand einmischen konnte, einen Schritt, der ihn an den Rand der äußeren Bergwand brachte. Dann warf er die Hände hoch und sprang, genau so wie er aus der Kutsche gesprungen war. Aber dieses Mal fiel er nicht auf eine gerade darunter liegende kleine Wiese; er fiel tausend Fuß hinab, um im Tal ein Haufen zerbrochener Knochen zu werden.

Der Ärger des italienischen Polizisten, den er wortmächtig gegenüber Father Brown ausdrückte, war kräftig mit Bewunderung durchsetzt. »Das sieht ihm ähnlich, uns noch im letzten Augenblick zu entkommen«, sagte er. »Der war ein wirklich großer Bandit, wenn Sie so wollen. Und sein letzter Trick ist meines Wissens ohne Vorbild. Er floh mit dem Geld der Gesellschaft nach Italien, wo er sich von falschen Banditen, die in seinem Solde standen, entführen ließ, um so das Verschwinden des Geldes ebenso wie sein eigenes Verschwinden zu erklären. Diese Lösegeldforderung ist von der Polizei fast überall ernstgenommen worden. Aber solche vorzüglichen Spiele hat er schon seit Jahren gespielt, mindestens so vorzügliche. Er wird ein schwerer Verlust für seine Familie sein.«

Muscari führte die unglückliche Tochter fort, die sich eng an ihn klammerte, wie sie das noch für viele Jahre danach tun sollte. Aber selbst während dieses tragischen Zusammenbruchs konnte er ein Lächeln und einen Handschlag halb spöttischer Freundschaft für den unhaltbaren Ezza Montano nicht unterdrücken. »Und wohin ziehst du jetzt?« fragte er über die Schulter.

»Birmingham«, antwortete der Schauspieler und paffte aus seiner Zigarette. »Hab ich dir nicht erzählt, daß ich Futurist bin? Ich glaube wirklich an diese Dinge, wenn ich denn überhaupt an etwas glaube. Wechsel, Bewegung und Neues jeden Morgen. Ich gehe nach Manchester, Liverpool, Leeds, Hull, Huddersfield, Glasgow, Chicago – kurz: in die aufgeklärte, energiegeladene, zivilisierte Gesellschaft!«

»Kurz«, sagte Muscari, »in das wahre Paradies der Diebe.«