Der Pfeil aus dem Himmel

 

Es ist zu befürchten, daß rund 100 Detektivgeschichten mit der Entdeckung beginnen, daß ein amerikanischer Millionär ermordet wurde; ein Ereignis, das aus irgendwelchen Gründen als eine Art Unheil behandelt wird. Ich bin glücklich festzustellen, daß auch diese Geschichte mit einem ermordeten Millionär zu beginnen hat; in gewissem Sinne hat sie sogar mit drei ermordeten Millionären zu beginnen, was manche ohne Zweifel als einen »embarras de richesse« betrachten werden. Aber gerade dieses Zusammentreffen oder diese Kontinuität verbrecherischer Organisationskunst hob die ganze Angelegenheit aus dem üblichen Verlauf von Kriminalfällen heraus und machte aus ihr das außerordentliche Problem, das sie darstellte.

Ziemlich allgemein wurde behauptet, daß sie alle Opfer irgendeiner Fehde oder eines Fluches geworden waren, der am Besitz einer Antiquität großen Wertes sowohl im materiellen wie im historischen Sinne hing: eine Art Kelch, der mit kostbaren Steinen eingelegt war und gemeinhin der Koptenkelch hieß. Seine Ursprünge lagen im dunkeln, aber allgemein wurde angenommen, daß er religiöser Art sei; und manche schrieben das schlimme Geschick, das seine Besitzer verfolgte, dem Fanatismus irgendwelcher orientalischen Christen zu, die es entsetze, ihn in so materialistischen Händen zu sehen. Der geheimnisvolle Vernichter aber war, gleich ob ein solcher Fanatiker oder nicht, bereits zur Gestalt eines gierigen Sensationsinteresses in der Welt von Journalismus und Klatsch geworden. Der Namenlose wurde mit einem Namen oder besser mit einem Spitznamen bedacht. Hier aber haben wir es nur mit der Geschichte des dritten Opfers zu tun; denn nur in diesem dritten Fall fand ein gewisser Father Brown, der das Thema dieser Skizzen ist, Gelegenheit, seine Anwesenheit zur Geltung zu bringen.

Als Father Brown zum ersten Mal von einem Atlantikdampfer aus Amerikas Boden betrat, stellt er wie mancher andere Engländer fest, daß er eine viel bedeutendere Persönlichkeit war, als er je vermutet hätte. Seine kurze Gestalt, sein kurzsichtiges Gesicht ohne besonders markante Züge, seine reichlich schäbige schwarze klerikale Kleidung hätten in seinem eigenen Lande in jeder Menge durchgehen können, ohne als ungewöhnlich aufzufallen, höchstens vielleicht als ungewöhnlich unbedeutend. Amerika aber hat eine besondere Fähigkeit, Ruhm zu ermutigen; und sein Auftreten in ein oder zwei eigenartigen Kriminalfällen hatte zusammen mit seiner langen Beziehung zu Flambeau, dem Ex-Verbrecher und Detektiv, in Amerika zu einem Ruf verdichtet, was in England kaum mehr als ein Gerücht war. Sein rundes Gesicht war leer vor Staunen, als er sich am Kai von einer Gruppe Journalisten wie von einer Brigantenbande aufgehalten fand, die ihn Fragen zu all den Themen fragten, für die er sich selbst am wenigsten als Autorität ansehen würde, wie etwa nach Einzelheiten der Frauenmode und der Verbrechensstatistik des Landes, das er in jenem Augenblick zum ersten Mal sah. Vielleicht war es der Gegensatz zu der schwarzen, schlachterprobten Gemeinschaftlichkeit dieser Gruppe, die eine andere Gestalt um so deutlicher werden ließ, die sich ebenfalls schwarz gegen das brennend weiße Tageslicht jener strahlenden Örtlichkeit und Jahreszeit abhob, vollständig allein; ein großer, fast gelbgesichtiger Mann mit großen Brillengläsern, der ihn mit einer Handbewegung aufhielt, als die Journalisten fertig waren, und sagte: »Verzeihen Sie, aber vielleicht suchen Sie Hauptmann Wain.«

Eine Entschuldigung für Father Brown mag angebracht sein; denn er selbst hätte sich sicherlich sehr entschuldigt. Es muß daran erinnert werden, daß er Amerika niemals zuvor gesehen hatte, und vor allem, daß er diese Art von Schildpattbrillen niemals zuvor gesehen hatte; denn diese Mode hatte zu jener Zeit England noch nicht erreicht. Sein erstes Empfinden war, ein glotzäugiges Seeungeheuer mit einer schwachen Andeutung von Taucherhelm anzustarren. Davon abgesehen war der Mann ausgezeichnet gekleidet; und Brown erschien in seiner Unschuld die Brille als die sonderbarste Entstellung eines Dandys. Es war so, als habe sich ein Dandy als letzte Steigerung der Eleganz ein Holzbein zugelegt. Und auch die Frage verwirrte ihn. Ein amerikanischer Flieger namens Warn, ein Freund seiner Freunde in Frankreich, stand tatsächlich auf der langen Liste von Personen, die während seines Amerika-Besuches zu sehen er eine gewisse Hoffnung hegte; aber er hatte niemals erwartet, von ihm so früh zu hören.

»Um Vergebung«, sagte er zweifelnd, »sind Sie Hauptmann Wain? Kennen – kennen Sie ihn?«

»Nun, ich bin ziemlich sicher, daß ich nicht Hauptmann Wain bin«, sagte der Mann mit der Brille und einem Gesicht aus Holz. »Das war mir ziemlich klar, als ich ihn da drüben im Auto auf Sie warten sah. Aber die andere Frage ist ein bißchen problematischer. Ich nehme an, ich kenne Wain und seinen Onkel, und den alten Merton auch. Ich kenne den alten Merton, aber der alte Merton kennt mich nicht. Und deshalb glaubt er, er sei im Vorteil, und ich glaube, ich bin im Vorteil. Kapiert?«

Father Brown kapierte nicht ganz. Er blinzelte über das glitzernde Gewässer und die Zinnen der Stadt und dann den Mann mit der Brille an. Es war nicht nur diese Maskierung der Augen des Mannes, die den Eindruck des Undurchdringlichen heraufbeschwor. Etwas in seinem gelben Gesicht war fast asiatisch, gar chinesisch; und seine Konversation schien aus verfestigten Schichten Ironie zu bestehen. Er war ein Typ, wie man ihn hier und da in jener offenherzigen und geselligen Bevölkerung findet; er war der unergründliche Amerikaner.

»Mein Name ist Drage«, sagte er, »Norman Drage, und ich bin amerikanischer Bürger, was alles erklärt. Jedenfalls bilde ich mir ein, daß Ihr Freund Wain das übrige erklären möchte; also wollen wir den 4. Juli auf ein anderes Datum vertagen.«

Father Brown wurde in ziemlich benommenem Zustand zu einem Auto geschleppt, das in einiger Entfernung wartete, darinnen ein junger Mann mit Büscheln unordentlichen blonden Haares und gequältem und abgezehrtem Gesicht ihn bereits von ferne begrüßte und sich als Peter Wain vorstellte. Bevor er wußte, wo er war, wurde er in dem Wagen verstaut und reiste mit beachtlicher Geschwindigkeit durch die Stadt und aus ihr hinaus. Er war an den ungestümen Zugriff solchen amerikanischen Handelns nicht gewöhnt und fühlte sich etwa so verwirrt, als entführte ihn eine von Drachen gezogene Kutsche ins Märchenland. Unter diesen beunruhigenden Umständen hörte er zum ersten Mal in langen Monologen von Wain und kurzen Sätzen von Drage die Geschichte des Koptenkelches und der beiden Verbrechen, die bereits mit ihm verbunden waren.

Allem Anschein nach hatte Wain einen Onkel namens Crake, der einen Partner namens Merton hatte, der Nummer drei in der Reihe reicher Geschäftsleute war, denen der Kelch bisher gehört hatte. Der erste von ihnen, Titus P. Trant, der Kupferkönig, hatte von einem Unbekannten, der mit Daniel Doom unterzeichnete, Drohbriefe erhalten. Der Name war vermutlich ein Pseudonym, vertrat aber inzwischen eine sehr bekannte, wenn nicht gar beliebte Figur; jemanden, der so bekannt war wie Robin Hood und Jack the Ripper zusammen. Denn es wurde bald deutlich, daß der Schreiber der Drohbriefe sich nicht aufs Drohen beschränkte. Das Ergebnis jedenfalls war, daß man den alten Trant eines Morgens mit dem Kopf in seinem eigenen Seerosenteich fand, und es gab nicht den Hauch einer Spur. Der Kelch befand sich glücklicherweise sicher in der Bank; und er ging mit dem übrigen Vermögen von Trant in den Besitz seines Vetters Brian Horder über, der ebenfalls ein Mann von großem Reichtum war und ebenfalls von jenem namenlosen Feind bedroht wurde. Brian Horder wurde tot am Fuß einer Klippe vor seiner Strandvilla entdeckt, in die ein Einbruch, diesmal großen Stils, stattgefunden hatte. Denn obwohl der Kelch offenbar erneut entkommen war, wurden doch genug Aktien und Pfandbriefe gestohlen, daß Horders finanzielle Angelegenheiten in größte Unordnung gerieten.

»Brian Horders Witwe«, erklärte Wain, »mußte meines Wissens den größten Teil seiner Wertgegenstände verkaufen, und Brander Merton muß den Kelch bei dieser Gelegenheit gekauft haben, denn er hatte ihn bereits, als ich ihn kennenlernte. Aber Sie können sich ja selbst vorstellen, daß das kein sehr bequemes Besitztum ist.«

»Hat Mr. Merton je Drohbriefe bekommen?« fragte Father Brown nach einer Pause.

»Ich glaube ja«, sagte Mr. Drage; und irgend etwas in seiner Stimme ließ den Priester ihn neugierig ansehen, bis ihm klar wurde, daß der Mann mit der Brille leise lachte, auf eine Weise, die den Neuankömmling ein wenig schaudern machte.

»Ich bin ziemlich sicher, daß ja«, sagte Peter Wain stirnrunzelnd. »Ich habe die Briefe nicht gesehen, da nur sein Sekretär Briefe an ihn sieht, denn er ist in Geschäftsangelegenheiten sehr zurückhaltend, wie große Geschäftsleute zu sein haben. Aber ich habe ihn wegen Briefen sehr verstimmt und verärgert gesehen; und auch, wie er Briefe aufriß, bevor sogar sein Sekretär sie gesehen hat. Und der Sekretär selbst wird nervös und sagt, er sei sicher, daß jemand hinter dem alten Mann her sei; und, kurz und gut, wir wären für ein bißchen Rat in dieser Angelegenheit sehr dankbar. Jeder kennt hier Ihren großen Ruf, Father Brown, und der Sekretär hat mich gebeten, Sie zu fragen, ob es Ihnen etwas ausmachte, sofort zum Merton-Haus zu kommen.«

»Ach so«, sagte Father Brown, dem endlich die Bedeutung dieser offenbaren Entführung aufzugehen begann. »Aber ich sehe wirklich nicht, wie ich mehr tun könnte als Sie. Sie sind an Ort und Stelle und müssen hundertmal mehr Anhaltspunkte haben, um zu einer wissenschaftlichen Schlußfolgerung zu gelangen, als ein zufälliger Besucher.«

»Ja«, sagte Mr. Drage trocken, »unsere Schlußfolgerungen sind viel zu wissenschaftlich, als daß sie wahr sein könnten. Ich nehme an, wenn irgendwas einen Mann wie Titus P. Trant treffen konnte, dann kam das geradewegs von oben, ohne auf wissenschaftliche Erklärungen zu warten. Was man einen Blitz aus heiterem Himmel nennt.«

»Sie wollen doch nicht etwa behaupten«, rief Wain, »daß es übernatürlich war!«

Doch war es zu keiner Zeit besonders leicht herauszufinden, was Mr. Drage möglicherweise meinte, außer daß wenn er sagte, irgend jemand sei ein besonders schlauer Bursche, er mit großer Wahrscheinlichkeit meinte, er sei ein Narr. Mr. Drage behielt eine orientalische Unbeweglichkeit bei, bis der Wagen kurze Zeit danach anhielt, offenbar am Ort ihrer Bestimmung. Es war ein ziemlich einmaliger Ort. Sie waren durch dünn bewaldetes Land gefahren, das sich in eine weite Ebene öffnete, und unmittelbar vor ihnen lag ein Gebäude, das aus einer einzigen Mauer oder einem sehr hohen Zaun bestand, rund wie ein römisches Legionslager, und das eher wie eine Flughalle aussah. Die Umfriedung sah weder nach Holz noch nach Stein aus, und eine nähere Untersuchung erwies, daß sie aus Metall war.

Alle stiegen sie aus dem Wagen aus, und eine schmale Tür in der Mauer glitt nach erheblichen Vorsichtsmaßnahmen und nach Hantierungen, die dem Öffnen eines Safes ähnelten, auf. Sehr zu Father Browns Erstaunen aber zeigte der Mann namens Norman Drage keinerlei Neigung einzutreten, sondern verabschiedete sich von ihnen mit finsterer Fröhlichkeit.

»Ich komm nicht mit rein«, sagte er. »Schätze, das wär zu viel freudige Aufregung für’n alten Mann Merton. Er liebt meinen Anblick so sehr, der würde vor Freude sterben.«

Und er schritt von dannen, während Father Brown mit zunehmender Verwunderung durch die Stahltür eingelassen wurde, die sich unmittelbar hinter ihm klickend schloß. Im Inneren befand sich ein großer und kunstvoll angelegter Garten in heiteren und vielfältigen Farben, jedoch vollständig bar jeden Baumes oder hohen Gebüschs und von Blumen. In der Mitte erhob sich ein Haus von schöner, ja auffallender Architektur, aber so hoch und schmal, daß es eher einem Turm glich. Der brennende Sonnenschein schimmerte oben hier und da in Glasdächern, aber im ganzen unteren Teil schien es kein einziges Fenster zu geben. Über allem lag jene fleckenlose und funkelnde Reinlichkeit, die der klaren amerikanischen Luft so angemessen erscheint. Als sie in das Portal getreten waren, befanden sie sich inmitten von Marmor und Metallen und Emaillen der brillantesten Farben, aber es gab kein Treppenhaus. Zwischen den massiven Wänden stieg in der Mitte lediglich ein einzelner Schacht für einen Aufzug empor, und den Zugang zu ihm bewachten schwere kräftige Männer wie Polizisten in Zivil.

»Ich weiß, ziemlich ausgeklügelte Schutzmaßnahmen«, sagte Wain. »Vielleicht macht es Sie lächeln, Father Brown, daß Merton in einer Festung wie dieser leben muß, selbst ohne jeden Baum im Garten, hinter dem sich jemand verbergen könnte. Aber Sie wissen nicht, mit was wir es in diesem Lande zu tun haben. Und vielleicht wissen Sie auch nicht, was der Name Brander Merton bedeutet. Er sieht bescheiden genug aus, und auf der Straße würde sich niemand nach ihm umdrehen; nicht daß heutzutage viele Gelegenheit dazu bekommen, denn er kann nur noch ab und zu in einem geschlossenen Wagen ausfahren. Wenn aber Brander Merton etwas zustieße, entstünden daraus Erdbeben von Alaska bis zu den Karibischen Inseln. Ich glaube nicht, daß je ein König oder ein Kaiser solche Macht über die Nationen hatte wie er. Im übrigen nehme ich an, daß Sie, forderte man Sie auf, den Zaren oder den König von England zu besuchen, neugierig genug wären, hinzugehen. Sie mögen sich wenig aus Zaren oder Millionären machen; aber es bedeutet doch, daß solche Macht immer interessant ist. Und ich hoffe, daß es Ihren Grundsätzen nicht widerspricht, eine moderne Sorte Kaiser wie Merton zu besuchen.«

»Keineswegs«, sagte Father Brown ruhig. »Es ist meine Pflicht, Häftlinge und alle Unglücklichen in Gefangenschaft zu besuchen.«

Ein Schweigen entstand, und der junge Mann runzelte mit einem sonderbaren und fast durchtriebenen Ausdruck auf seinem hageren Gesicht die Stirn. Dann sagte er abrupt:

»Jedenfalls müssen Sie auch daran denken, daß er nicht bloß einfache Verbrecher oder die Schwarze Hand gegen sich hat. Dieser Daniel Doom ist ein wahrer Teufel. Sie müssen sich nur ansehen, wie er Trant in seinem eigenen Garten und Horder vor seinem Haus umlegte und damit davongekommen ist.«

Das oberste Stockwerk des Gebäudes bestand zwischen den ungeheuer dicken Mauern aus zwei Räumen; einem äußeren Raum, in den sie eintraten, und einem inneren Raum, dem Allerheiligsten des großen Millionärs. Sie betraten den äußeren Raum gerade, als zwei andere Besucher aus dem inneren kamen. Den einen begrüßte Peter Wain als seinen Onkel – ein kleiner, aber sehr kraftvoller und energischer Mann mit rasiertem Schädel, der kahl wirkte, und einem braunen Gesicht, das fast zu braun aussah, als daß es jemals hätte weiß gewesen sein können. Das war der alte Crake, den man gewöhnlich wegen seines Ruhmes aus den letzten Indianerkriegen Hickory Crake nannte in Erinnerung an den berühmteren Old Hickory. Sein Begleiter bildete einen einzigartigen Gegensatz – ein sehr kleiner und lebhafter Gentleman mit dunklem Haar wie ein schwarzer Lacküberzug und einem breiten schwarzen Band an seinem Monokel: Barnard Blake, der Rechtsanwalt des alten Merton, der mit den Partnern Geschäftsangelegenheiten der Firma besprochen hatte. Die vier Männer begegneten sich in der Mitte des äußeren Raumes und blieben im Akte des jeweiligen Gehens beziehungsweise Kommens zu einem kleinen höflichen Gespräch stehen. Und während all dieses Gehens und Kommens saß eine andere Gestalt im Hintergrund des Raumes nahe der Tür zum inneren Raum, mächtig und bewegungslos im Halblicht des inneren Fensters; ein Mann mit Negergesicht und gewaltigen Schultern. Er war das, was die humorvolle Selbstkritik Amerikas neckisch den Bösewicht nennt; den seine Freunde einen Leibwächter nennen mochten, und seine Feinde einen Meuchler.

Dieser Mann bewegte und rührte sich niemals, um jemanden zu begrüßen; aber sein Anblick im äußeren Raum bewegte Peter Wain zu seiner ersten nervösen Frage.

»Ist jemand beim Chef?« fragte er.

»Nun werd nicht nervös, Peter«, kicherte sein Onkel. »Der Sekretär Wilton ist bei ihm, und ich hoffe, das dürfte für jeden ausreichen. Ich glaube nicht, daß Wilton jemals schläft, vor lauter Aufpassen auf Merton. Er ist besser als zwanzig Leibwächter. Und er ist so schnell und lautlos wie ein Indianer.«

»Das mußt du ja wissen«, sagte sein Neffe lachend. »Ich erinnere mich an die Indianertricks, die du mir beigebracht hast, als ich noch ein Junge war und es liebte, Indianergeschichten zu lesen. Aber in meinen Indianergeschichten schienen immer die Indianer irgendwie das schlechte Ende erwischt zu haben.«

»Aber nicht in der Wirklichkeit«, sagte der alte Indianerkämpfer grimmig.

»Wirklich?« fragte der sanfte Mr. Blake. »Ich hätte gedacht, daß sie gegen unsere Feuerwaffen wenig ausrichten konnten.«

»Ich habe einen Indianer inmitten von 100 Gewehren gesehen, der nichts als ein kleines Skalpmesser hatte und damit einen Weißen tötete, der oben auf dem Fort stand«, sagte Crake.

»Ja, aber was tat er denn damit?« fragte der andere.

»Er schleuderte es«, erwiderte Crake, »schleuderte es wie einen Blitz, bevor noch jemand schießen konnte. Ich weiß nicht, wo er den Trick gelernt hat.«

»Nun, ich hoffe, daß du ihn nicht gelernt hast«, sagte sein Neffe lachend.

»Mir scheint«, sagte Father Brown nachdenklich, »daß diese Geschichte eine Moral haben könnte.«

Während sie noch sprachen, war Mr. Wilton, der Sekretär, aus dem inneren Raum gekommen und stand wartend da; ein blasser blonder Mann mit eckigem Kinn und steten Augen mit einem Blick wie der eines Hundes; es war nicht schwer zu glauben, daß er den Blick eines Wachhundes besaß.

Er sagte nur: »Mr. Merton kann Sie in ungefähr 10 Minuten empfangen«, aber das diente als Signal, um die schwatzende Gruppe aufzulösen. Der alte Crake sagte, er müsse sich auf den Weg machen, und sein Neffe begleitete ihn und seinen legalen Gefährten hinaus, so daß Father Brown einen Augenblick mit dem Sekretär allein blieb; denn der riesige Neger am anderen Ende des Raumes konnte kaum als menschlich oder lebendig empfunden werden; so bewegungslos saß er da, seinen breiten Rücken ihnen zugekehrt und auf den inneren Raum starrend.

»Ziemlich ausgeklügelte Vorkehrungen hier, fürchte ich«, sagte der Sekretär. »Sie haben sicherlich alles über diesen Daniel Doom gehört, und warum es nicht gut ist, den Boss zu sehr allein zu lassen.«

»Aber jetzt ist er allein, oder?« sagte Father Brown.

Der Sekretär sah ihn mit ernsten grauen Augen an.

»Für 15 Minuten«, sagte er. »Für 15 Minuten von 24 Stunden. Das ist die einzige Zeit, die er wirklich allein sein kann; und auf der er aus einem sehr bemerkenswerten Grund besteht.«

»Und was für ein Grund ist das?« fragte der Besucher.

Wilton, der Sekretär, behielt seinen stetigen Blick bei, aber sein Mund, der bisher lediglich ernst war, wurde grimmig.

»Der Koptenkelch«, sagte er. »Vielleicht haben Sie den Koptenkelch vergessen; aber er hat weder den noch sonst etwas vergessen. Mit dem Koptenkelch traut er keinem von uns. Der ist irgendwo und irgendwie in jenem Raum verschlossen, so daß nur er allein ihn finden kann; und er nimmt ihn nicht heraus, ehe wir nicht alle draußen sind. Also müssen wir diese Viertelstunde riskieren, während der er dasitzt und ihn anbetet; ich schätze, das ist seine einzige Anbetung. Und dann gibt es ja auch kein wirkliches Risiko; denn ich habe dieses ganze Haus in eine einzige Falle verwandelt, in die wohl nicht einmal der Teufel herein könnte – oder aus der er wenigstens nicht mehr hinauskäme. Wenn dieser höllische Daniel Doom uns einen Besuch abstattete, müßte er zum Abendessen bleiben und, bei Gott, eine ganze Weile länger! Ich sitze hier während der 15 Minuten auf glühenden Steinen, und im gleichen Augenblick, in dem ich einen Schuß hörte oder Geräusche eines Kampfes, würde ich diesen Knopf drücken, und elektrischer Strom würde ringsum die Gartenmauern aufladen, so daß es tödlich wäre, sie zu überklettern. Natürlich kann es gar keinen Schuß geben, denn das hier ist der einzige Eingang; und das einzige Fenster, an dem er sitzt, ist hoch oben an einem Turm, der so glatt wie ein geölter Pfahl ist. Und außerdem sind wir hier natürlich alle bewaffnet; und wenn Doom in jenen Raum käme, wäre er tot, ehe er hinaus könnte.«

Father Brown blinzelte den Teppich in träumerisches Nachdenken versunken an. Dann sagte er plötzlich und zuckte dabei fast zusammen:

»Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel, aber mir schoß gerade ein Gedanke durch den Kopf. Und der betrifft Sie.«

»Soso«, sagte Wilton, »und was ist mit mir?«

»Ich glaube, daß Sie von einer einzigen Idee besessen sind«, sagte Father Brown, »und Sie werden mir vergeben, wenn ich sage, daß das mehr noch die Idee zu sein scheint, Daniel Doom zu erwischen, als Brander Merton zu schützen.«

Wilton fuhr leicht zusammen und starrte seinen Gefährten weiter an; dann begann sein grimmer Mund sehr langsam auf eine sonderbare Weise zu lächeln.

»Wie sind Sie – was bringt Sie auf diesen Gedanken?« fragte er.

»Sie sagten, wenn Sie einen Schuß hörten, könnten Sie den fliehenden Feind sofort durch elektrischen Strom töten«, bemerkte der Priester. »Ich nehme an, Ihnen wird klar sein, daß der Schuß für Ihren Arbeitgeber tödlich sein könnte, ehe der Schock für seinen Feind tödlich würde. Ich meine nicht, daß Sie Mr. Merton nicht beschützen würden, wenn Sie können, daß das aber in Ihren Überlegungen erst an zweiter Stelle steht. Die Vorkehrungen sind ziemlich ausgeklügelt, wie Sie sagten, und Sie scheinen sie ausgeklügelt zu haben. Aber sie scheinen sehr viel mehr darauf angelegt, einen Mörder zu fassen, als einen Mann zu schützen.«

»Father Brown«, sagte der Sekretär, der seine ruhige Stimme wiedergefunden hatte, »Sie sind sehr klug, aber in Ihnen ist noch mehr als nur Klugheit. Irgendwie sind Sie die Art Mann, der man die Wahrheit erzählen möchte; und außerdem werden Sie sie sowieso erfahren, denn auf gewisse Weise ist sie bereits ein Witz, der gegen mich erzählt wird. Alle sagen, daß ich von der Idee, diesen Verbrecher zu fassen, besessen sei, und vielleicht bin ich das. Aber ich werde Ihnen etwas sagen, das die anderen alle nicht wissen. Mein voller Name lautet John Wilton Horder.« Father Brown nickte, als ob er vollständig auf dem laufenden sei, aber der andere fuhr fort:

»Dieser Kerl, der sich Daniel Doom nennt, ermordete meinen Vater und meinen Onkel und ruinierte meine Mutter. Als Merton sich nach einem Sekretär umsah, habe ich die Stellung angenommen, weil ich dachte, daß da, wo sich der Kelch befinde, der Verbrecher früher oder später auftauchen würde. Aber ich weiß nicht, wer der Verbrecher ist, und kann deshalb nur auf ihn warten; und ich habe die Absicht, Merton treu zu dienen.«

»Ich verstehe«, sagte Father Brown sanft; »und übrigens, ist es nicht an der Zeit, daß wir zu ihm hineingehen?«

»Wieso, ja«, antwortete Wilton, der wiederum aus seinem Brüten auffuhr, so daß der Priester schloß, es habe ihn sein Rachedurst wiederum für einen Augenblick verschlungen. »Natürlich, treten Sie ein.«

Father Brown ging geradewegs in den inneren Raum. Kein Geräusch von Begrüßungen folgte, nur ein tödliches Schweigen; und einen Augenblick später erschien der Priester wieder in der Tür.

Im gleichen Augenblick bewegte sich der schweigende Leibwächter, der nahe der Tür saß, plötzlich; es war, als werde ein riesiges Möbelstück lebendig. Es schien, als ob etwas in der Haltung des Priesters wie ein Signal gewirkt habe; denn sein Kopf stand vor dem Licht des inneren Fensters, und sein Gesicht war im Schatten.

»Ich glaube, daß Sie den Knopf jetzt drücken wollen«, sagte er mit einer Art Seufzer.

Wilton schien mit einem Ruck aus seinen wilden Brütereien aufzuwachen, und er sprang auf und rief mit gebrochener Stimme: »Es hat keinen Schuß gegeben!«

»Nun ja«, sagte Father Brown, »das hängt davon ab, was Sie unter einem Schuß verstehen.«

Wilton sprang vor, und gemeinsam stürzten sie in den inneren Raum. Es war ein verhältnismäßig kleiner und einfacher, aber elegant möblierter Raum. Ihnen gegenüber stand ein weites Fenster auf, das den Garten und die bewaldete Ebene überblickte. Nahe beim Fenster standen ein Sessel und ein kleiner Tisch, als hätte der Gefangene während des kurzen Glücks des Alleinseins gar nicht genug Luft und Licht bekommen können.

Auf dem kleinen Tisch unter dem Fenster stand der Koptenkelch; sein Besitzer hatte ihn sich offenbar bei bester Beleuchtung angesehen. Er war es wohl wert, angesehen zu werden, denn das blendendweiße Tageslicht verwandelte seine kostbaren Steine in vielfarbene Flammen, so daß er aussah wie das Urbild des Heiligen Grals. Er war es wohl wert, angesehen zu werden; aber Brander Merton sah ihn nicht an. Denn sein Kopf war ihm rückwärts über die Lehne gesunken, seine Mähne weißen Haares hing ihm nach unten, sein grauer Spitzbart wies zur Decke, und aus seiner Kehle ragte ein langer, braungestrichener Pfeil mit roten Federn am anderen Ende hervor.

»Ein lautloser Schuß«, sagte Father Brown mit leiser Stimme, »ich dachte gerade über diese neue Erfindung lautloser Feuerwaffen nach. Aber das hier ist eine sehr alte Erfindung, und ebenso lautlos.«

Dann fügte er nach einem Augenblick hinzu: »Ich fürchte, er ist tot. Was werden Sie jetzt tun?«

Der bleiche Sekretär erhob sich in jäher Entschlossenheit. »Ich werde natürlich zunächst auf den Knopf drücken«, sagte er, »und wenn das Daniel Doom nicht erledigt, werde ich ihn um die ganze Welt jagen, bis ich ihn finde.«

»Passen Sie auf, daß Sie unsere Freunde nicht erledigen«, bemerkte Father Brown; »sie können noch nicht weit sein; wir rufen sie besser zurück.«

»Die wissen alles über die Mauern«, antwortete Wilton. »Niemand von ihnen wird versuchen, sie zu überklettern, es sei denn, einer von ihnen… wäre in großer Eile.«

Father Brown ging zum Fenster, durch den der Pfeil offenbar hereingekommen war, und blickte hinaus. Der Garten mit seinen flachen Blumenbeeten lag tief drunten wie eine zart getönte Karte der Erde. Der ganze Ausblick erschien so weit und leer, der Turm so hoch in den Himmel gebaut, daß ihm, als er hinausstarrte, ein eigenartiger Satz wieder einfiel.

»Ein Blitz aus heiterem Himmel«, sagte er. »Wer hat doch was von einem Blitz aus heiterem Himmel gesagt und daß der Tod aus dem Himmel komme? Sehen Sie nur, wie weit entfernt alles aussieht; es erscheint außerordentlich, daß ein Pfeil von so weit her hätte kommen können, es sei denn, es wäre ein Pfeil aus dem Himmel.«

Wilton hatte sich umgedreht, aber er antwortete nicht, und der Priester fuhr wie im Selbstgespräch fort.

»Man denkt an die Fliegerei. Wir müssen den jungen Wain fragen… nach der Fliegerei.«

»Davon gibt es hierherum eine ganze Menge«, sagte der Sekretär.

»Der Fall sehr alter oder sehr neuer Waffen«, bemerkte Father Brown. »Einige davon dürften seinem alten Onkel wohl bekannt sein, nehme ich an; wir müssen ihn nach Pfeilen fragen. Der hier sieht eher nach einem Indianerpfeil aus. Ich weiß nicht, womit der Indianer ihn abgeschossen hat; aber erinnern Sie sich der Geschichte, die der alte Mann erzählte. Ich habe da gesagt, sie habe eine Moral.«

»Wenn sie eine Moral hatte«, sagte Wilton mit Wärme, »war es nur die, daß ein echter Indianer Dinge weiter schießen kann, als man sich vorstellt. Es ist Unfug, da Parallelen sehen zu wollen.«

»Ich glaube nicht, daß Sie die Moral richtig verstanden haben«, sagte Father Brown.

Obwohl der kleine Priester am nächsten Tag mit den Millionen in New York zu verschmelzen schien, ohne jeden erkennbaren Versuch, etwas anderes als eine Nummer in einer benummerten Straße zu sein, war er in Wirklichkeit während der nächsten vierzehn Tage doch unauffällig mit dem ihm anvertrauten Auftrag beschäftigt, denn ihn erfüllte eine tiefe Furcht vor einem möglichen Justizirrtum. Ohne daß er den Anschein erweckte, er bevorzuge sie vor seinen anderen neuen Bekannten, gelang es ihm doch leicht, mit den zwei oder drei Männern zu plaudern, die jüngst in den Fall verwickelt waren; und mit dem alten Hickory Crake insbesondere führte er ein eigenartiges und interessantes Gespräch. Das fand auf einer Bank im Central Park statt, wo der alte Kämpe saß und seine knochigen Hände und sein scharfgeschnittenes Gesicht auf den eigentümlich geformten Griff seines Spazierstocks stützte, der aus dunkelrotem Holz und vielleicht einem Tomahawk nachgebildet war.

»Nun, vielleicht war das ein weiter Schuß«, sagte er und schüttelte den Kopf, »aber ich warne Sie davor, sich zu genaue Vorstellungen davon zu machen, wie weit ein Indianerpfeil fliegen könnte. Ich habe einige Pfeilschüsse gesehen, die gerader flogen als irgendeine Kugel und ihr Ziel angesichts ihrer weiten Flugbahn mit erstaunlicher Sicherheit trafen. Natürlich hört man heute praktisch nie mehr von einem Indianer mit Pfeil und Bogen, noch weniger von einem Indianer, der hier in der Gegend wäre. Aber wenn sich zufälligerweise einer der alten indianischen Scharfschützen mit einem der alten indianischen Bögen da hinten in den Bäumen Hunderte Meter jenseits von Mertons Außenmauer versteckt halten sollte – nun, dann würde ich es einem edlen Wilden durchaus zutrauen, daß er einen Pfeil über die Mauer in das oberste Fenster von Mertons Haus schicken könnte; und auch in Merton selbst. Ich habe genauso wunderbare Taten in den alten Tagen geschehen sehen.«

»Zweifellos«, sagte der Priester, »haben Sie so wunderbare Taten nicht nur gesehen, sondern auch selbst getan.«

Der alte Crake kicherte und sagte dann schroff: »Ach, das ist alles längst vergangene Geschichte.«

»Manche Menschen neigen dazu, die vergangene Geschichte zu studieren«, sagte der Priester. »Ich nehme an, daß es in Ihrer Vergangenheit nichts gibt, was die Leute dazu bringen könnte, unfreundlich über diese Geschichte zu sprechen.«

»Was meinen Sie damit?« fragte der alte Crake, wobei sich seine Augen zum ersten Mal schnell hin und her bewegten in seinem roten hölzernen Gesicht, das eher dem Kopf eines Tomahawks ähnelte.

»Nun ja, da Sie mit allen Künsten und Schlichen der Rothäute so wohl vertraut waren – «, begann Father Brown langsam.

Crake hatte zusammengesunken und fast zusammengeschrumpft gewirkt, wie er so dasaß mit dem Kinn auf der sonderbar geformten Krücke. Aber im nächsten Augenblick stand er aufrecht auf dem Weg wie ein kampfbereiter wilder Indianer und umkrampfte die Krücke wie eine Keule.

»Was?« schrie er – in einer Art heiseren Kreischens. »Was zum Teufel! Wollen Sie mir etwa ins Gesicht sagen, daß ich meinen eigenen Schwager ermordet hätte?«

Von einem Dutzend Bänke, die entlang des Weges verstreut standen, blickten Menschen auf die Streitenden, die da auf dem Wege einander gegenüberstanden, der kahlköpfige energische kleine Mann, der seinen fremdartigen Stock wie eine Keule schwang, und die schwarze dickliche Gestalt des kleinen Klerikers, der ihn ansah, ohne mit einem Muskel zu zucken, abgesehen von den blinzelnden Augenlidern. Für einen Augenblick sah es so aus, als werde der schwarzen dicklichen Gestalt auf den Kopf geschlagen und als werde sie mit wahrhaft indianischer Raschheit und Gründlichkeit niedergestreckt; und in der Entfernung konnte man bereits die mächtigen Formen eines irischen Polizisten sich auftürmen und auf die Gruppe zustürmen sehen. Aber der Priester sagte nur ganz gelassen wie einer, der eine gewöhnliche Frage beantwortet:

»Ich bin darüber zu bestimmten Schlußfolgerungen gekommen, aber ich glaube nicht, daß ich sie erwähnen werde, ehe ich meinen Bericht vorlege.«

Ob nun unter dem Einfluß der Fußschritte des Polizisten oder der Augen des Priesters, der alte Hickory jedenfalls stopfte sich seinen Stock wieder unter den Arm und stülpte sich seinen Hut grummelnd wieder über. Der Priester entbot ihm gelassen einen guten Morgen, verließ ohne Eile den Park und machte sich auf den Weg zum Salon des Hotels, wo, wie er wußte, der junge Wain zu finden war. Der junge Mann sprang grüßend auf; er sah noch beunruhigter und abgemagerter aus als zuvor, so als ob irgendein Kummer an ihm zehre; und der Priester hegte den Verdacht, daß sich sein junger Freund in der jüngsten Zeit mit nur zu sichtbarem Erfolg bemüht hatte, dem letzten Zusatz zur amerikanischen Verfassung zu entkommen. Doch beim ersten Wort über seinen Lieblingssport beziehungsweise seine Lieblingswissenschaft war er wieder vollkommen wach und konzentriert. Denn Father Brown hatte auf eine müßige und gesprächige Art gefragt, ob man denn viel in jenem Distrikt flöge, und hatte erzählt, wie er zuerst Mr. Mertons kreisrunde Wallmauer für eine Flughalle gehalten habe.

»Wundert mich, daß Sie davon nichts gesehen haben, als wir da waren«, antwortete Hauptmann Wain. »Manchmal treiben sie sich da rum wie Fliegenschwärme; diese offene Ebene ist für sie ideales Gelände, und ich würde mich nicht wundern, wenn das in Zukunft sozusagen der Hauptbrutplatz für Vögel in meinem Sinn wäre. Ich habe da selbst natürlich schon viel geflogen, und ich kenne die meisten Burschen hier, die im Krieg geflogen sind; aber es gibt inzwischen ‘ne ganze Menge Leute, die sich jetzt da draußen herumtreiben und von denen ich noch nie in meinem Leben gehört habe. Ich nehme an, das wird bald wie Autofahren sein, und jeder in den Staaten wird im Besitze von einem Flugzeug sein.«

»Von seinem Schöpfer begabt«, sagte Father Brown mit einem Lächeln, »mit dem Recht auf Leben, Freiheit und Autofahren – vom Fliegen ganz zu schweigen. Also dürfen wir wohl annehmen, daß ein fremdes Flugzeug, das zu bestimmten Zeiten über das Haus fliegt, nicht besonders zur Kenntnis genommen würde.«

»Nein«, sagte der junge Mann; »ich glaube kaum, daß es würde.«

»Oder selbst wenn der Mann bekannt wäre«, fuhr der andere fort, »nehme ich an, könnte er sich eine Maschine beschaffen, die man nicht als seine erkennen würde. Wenn Sie zum Beispiel auf die übliche Weise vorbeiflögen, könnten Mr. Merton und seine Freunde Sie vielleicht an der Ausstattung erkennen; aber in einem anderen Flugzeugtyp, oder wie immer Sie das nennen, könnten Sie reichlich nahe an dem Fenster vorbeifliegen; nahe genug für praktische Zwecke.«

»Sicher, ja«, begann der junge Mann fast automatisch und brach dann ab und starrte den Kleriker mit offenem Munde und herausquellenden Augen an.

»Mein Gott!« sagte er leise. »Mein Gott!«

Dann erhob er sich bleich und von Kopf bis Fuß zitternd aus seinem Sessel und starrte weiter den Priester an.

»Sind Sie verrückt?« sagte er. »Sind Sie vollkommen verrückt?«

Nach einem Schweigen sprach er schnell und zischend weiter. »Sind Sie wirklich hergekommen, um anzudeuten – «

»Nein; nur um Anregungen zu sammeln«, sagte Father Brown und erhob sich. »Ich bin zu einigen vorläufigen Schlußfolgerungen gelangt, aber die werde ich für den Augenblick besser für mich behalten.«

Und indem er den anderen mit der gleichen steifen Höflichkeit grüßte, verließ er das Hotel, um seine eigenartigen Wanderungen wieder aufzunehmen.

Bei Anbruch des Abends an jenem Tage hatten sie ihn die schmutzigen Sträßchen und Treppen hinabgeführt, die im ältesten und unregelmäßigsten Teil der Stadt hinunter zum Flusse stolpern und taumeln. Unmittelbar unter den farbigen Laternen, die den Eingang zu einem reichlich verkommenen chinesischen Restaurant kennzeichneten, begegnete er einer Gestalt, die er bereits einmal gesehen hatte, die sich aber jetzt keineswegs so dem Blicke bot, wie er sie gesehen hatte.

Mr. Norman Drage trat der Welt immer noch grimmig hinter seiner großen Brille entgegen, die sein Gesicht irgendwie wie eine dunkle Glasmaske zu bedecken schien. Abgesehen von der Brille aber war seine Erscheinung in dem Monat seit dem Mord auf sonderbare Weise verwandelt worden. Damals war er, wie Father Brown bemerkt hatte, auf das Ausgesuchteste gekleidet gewesen – dermaßen, daß es schon fast unmöglich wurde, noch jene feinste Grenzlinie zwischen einem Dandy und einer Modepuppe vor einem Schneideratelier zu ziehen. Nun aber hatten sich all jene Äußerlichkeiten auf geheimnisvolle Weise zum Übelsten verkehrt; als ob die Schneiderpuppe zur Vogelscheuche geworden wäre. Sein Zylinder war noch da, aber zerbeult und schäbig; seine Kleidung war zerlumpt; seine Uhrkette und die kleineren Schmuckstücke waren verschwunden. Aber Father Brown begrüßte ihn, als ob sie sich erst gestern gesehen hätten und nahm keinerlei Anstand, sich neben ihm auf der Bank in dem billigen Eßlokal niederzulassen, wohin der andere seine Schritte gelenkt hatte. Doch war nicht er es, der dann die Unterhaltung begann.

»Nun?« knurrte Drage. »Ist es Ihnen gelungen, Ihren heiligen und heiliggesprochenen Millionär zu rächen? Wir wissen, daß alle Millionäre heilig und heiliggesprochen sind; man findet in der Zeitung am nächsten Tag alles darüber, wie sie vom Lichte der Familienbibel lebten, die sie auf Mutters Knien lasen. Teufel! Wenn sie doch nur die eine oder andere Geschichte aus der Familienbibel laut gelesen hätten, dann wäre wenigstens die Mutter ein bißchen erschrocken gewesen. Und der Millionär vielleicht auch, schätze ich. Das alte Buch ist voller großartiger grimmiger alter Vorstellungen, die heute nicht mehr wachsen; Sorte Weisheit aus der Steinzeit, unter Pyramiden begraben. Stellen Sie sich vor, jemand hätte den alten Mann Merton von der Spitze seines Turmes hinabgeschleudert und ihn unten von den Hunden fressen lassen, das wäre auch nicht schlimmer gewesen, als was Jesabel widerfuhr. Hat man nicht Agag in Stückchen gehackt, nur weil er empfindsam wandelte? Merton wandelte empfindsam all seine Tage, hol ihn der Teufel – bis er zum Schluß zu empfindsam zum Wandeln wurde. Aber der Wurfspieß des Herrn traf ihn, wie das in dem alten Buch hätte geschehen können, und streckte ihn tot nieder, oben auf seinem Turm, auf daß er ein Schauspiel gebe vor allem Volke.«

»Dieser Wurfspieß war aber schließlich materiell«, sagte sein Gefährte.

»Die Pyramiden sind mächtig materiell und halten doch die toten Könige drinnen ganz schön nieder«, grinste der Mann mit der Brille. »Ich glaube, man kann allerhand für diese alten materiellen Religionen sagen. Es gibt alte Skulpturen, die Jahrtausende überdauert haben und ihre Götter und Kaiser mit gespanntem Bogen zeigen; mit Händen, die aussehen, als könnten sie wirklich Bögen aus Stein biegen. Materiell vielleicht – aber aus was für Material. Stehen Sie nicht manchmal auch vor den alten orientalischen Formen und Dingen und betrachten sie, bis Sie das Gefühl haben, der alte Herr Gott führe noch immer daher wie ein dunkler Apoll und verschieße schwarze Todesstrahlen?«

»Wenn er das tut«, erwiderte Father Brown, »würde ich ihn mit einem anderen Namen nennen. Aber ich bezweifle, daß Merton durch einen schwarzen Strahl oder auch nur einen Steinpfeil starb.«

»Ich wette, Sie glauben, er ist der heilige Sebastian«, spottete Drage, »den ein Pfeil tötete. Ein Millionär muß auch ein Märtyrer sein. Woher wollen Sie wissen, daß er das nicht verdient hat? Sie wissen nicht viel über Ihren Millionär, nehme ich an. Na schön, dann lassen Sie mich Ihnen sagen, daß er das hundertmal verdient hat.«

»Und«, fragte Father Brown sanft, »warum haben Sie ihn nicht ermordet?«

»Sie wollen wissen, warum ich das nicht getan hab?« fragte der andere starrend. »Na also, Sie sind mir ‘ne schöne Art Kirchenmann.«

»Keineswegs«, sagte der andere, als ob er ein Kompliment beiseite wedeln wolle.

»Ich nehme an, das ist Ihre Art zu behaupten, daß ich es getan hab«, knurrte Drage. »Na schön, beweisen Sie’s, das ist alles. Aber was ihn angeht, schätze, der war kein Verlust.«

»Doch, war er«, sagte Father Brown scharf. »Er war ein Verlust für Sie. Deshalb haben nicht Sie ihn getötet.«

Und er schritt aus dem Raum und ließ den Mann mit der Brille offenen Mundes zurück.

Fast einen Monat später besuchte Father Brown erneut das Haus, in dem der dritte Millionär der Fehde des Daniel Doom erlegen war. Die besonders interessierten Personen hielten eine Art Rat ab. Der alte Crake saß am Kopf des Tisches, den Neffen zur Rechten, den Anwalt zur Linken; der riesige Mann mit den afrikanischen Zügen, dessen Name sich als Harris herausstellte, war wuchtig anwesend, wenn auch nur als materieller Zeuge; ein rothaariges spitznasiges Individuum, das als Dixon angesprochen wurde, war offenbar als Vertreter von Pinkerton oder irgend so einer Privatdetektei anwesend; und Father Brown glitt unauffällig auf den leeren Stuhl neben ihm.

Alle Zeitungen auf Erden waren voll von der Katastrophe des Finanzkolosses, des großen Organisators des Big Business, das die moderne Welt reitet; aber von der kleinen Gruppe, die ihm im Augenblick seines Todes am nächsten war, konnte man nur wenig erfahren. Onkel, Neffe und Rechtsbeistand erklärten, daß sie sich bereits außerhalb der Außenmauer befunden hätten, als der Alarm losging; und Erkundungen, die man bei den offiziellen Wachen an beiden Sperren einholte, ergaben zwar reichlich verwirrte Antworten, aber im Ganzen doch bestätigende. Nur eine einzige andere Schwierigkeit schien nach Erwägung zu schreien. Es schien, daß ungefähr zur Todeszeit, etwas zuvor oder danach, ein Fremder entdeckt worden war, der rätselhaft am Eingang herumlungerte und forderte, Mr. Merton zu sprechen. Die Bediensteten hatten einige Schwierigkeiten zu verstehen, was er wollte, denn seine Sprache war sehr dunkel; später aber wurde sie als ebenso verdächtig betrachtet, denn er hatte irgendetwas darüber gesagt, daß ein Bösewicht durch ein Wort aus dem Himmel vernichtet werde.

Peter Wain lehnte sich vorwärts, die Augen blitzten in seinem hageren Gesicht, und er sagte: »Darauf würde ich sowieso wetten. Norman Drage.«

»Und wer in aller Welt ist Norman Drage?« fragte sein Onkel.

»Das möchte ich auch wissen«, erwiderte der junge Mann. »Ich hab ihn so gut wie gefragt, aber er hat eine wunderbare Technik, jede gerade Frage krumm zu drehen; das ist, wie nach einem Fechter stechen. Er hat sich mit Hinweisen auf ein Flugschiff der Zukunft an mich gehängt; aber ich hab ihm nie richtig getraut.«

»Was für eine Art Mann ist er denn?« fragte Crake.

»Er ist ein Mystagoge«, sagte Father Brown mit unschuldiger Direktheit. »Von denen schwirrt eine ganze Menge herum; die Art von Männern, die sich in den Städten herumtreiben und einem in Pariser Cafés und Cabarets andeuten, sie hätten den Schleier der Isis gehoben oder kennten das Geheimnis von Stonehenge. In einem Fall wie diesem haben sie mit Sicherheit irgendeine mystische Erklärung.«

Der glatte dunkle Kopf von Barnard Blake, dem Anwalt, neigte sich höflich dem Sprecher zu, aber sein Lächeln war leicht feindselig.

»Ich hätte nicht gedacht, Sir«, sagte er, »daß Sie irgendwelche Vorurteile gegen mystische Erklärungen haben.«

»Im Gegenteil«, erwiderte Father Brown und blinzelte ihn freundlich an. »Aber gerade deshalb kann ich sie beurteilen. Jeder vorgetäuschte Rechtsanwalt könnte mich prellen, aber er könnte Sie nicht prellen, der Sie selber Anwalt sind. Jeder Narr könnte sich als Indianer verkleiden, und ich würde ihn für den originalen Hiawatha halten, aber Mr. Crake würde ihn sofort durchschauen. Jeder Schwindler könnte mir vormachen, daß er alles über Flugzeuge weiß, aber niemals Hauptmann Wain. Und so ist es mit dem anderen auch, wissen Sie? Gerade weil ich ein bißchen von Mystik verstehe, habe ich mit Mystagogen nichts im Sinn. Wirkliche Mystiker verbergen die Mysterien nicht, sie enthüllen sie. Sie stellen das Ding ins hellste Tageslicht, und wenn Sie es sich angesehen haben, ist es immer noch ein Mysterium. Aber der Mystagoge verbirgt die Dinge in Dunkelheit und Geheimnistuerei, und wenn man sie findet, sind es Platitüden. Im Falle von Drage allerdings gebe ich zu, daß er auch einen anderen und praktischeren Grund hatte, als er von Feuer aus dem Himmel oder Blitzen aus dem Blauen sprach.«

»Und welchen Grund hatte er?« fragte Wain. »Ich glaube, was immer der ist, man muß auf ihn eingehen.«

»Nun«, erwiderte der Priester langsam, »er wollte uns glauben machen, daß die Morde Wunder seien, weil… na ja, weil er weiß, daß sie keine waren.«

»Aha«, sagte Wain zischend, »darauf hab ich gewartet. In einfachen Worten, er ist der Verbrecher.«

»In einfachen Worten, er ist der Verbrecher, der das Verbrechen nicht beging«, sagte Father Brown gelassen.

»Entspricht das Ihrer Vorstellung von einfachen Worten?« erkundigte Blake sich höflich.

»Sie werden gleich behaupten, daß jetzt ich der Mystagoge bin«, sagte Father Brown beschämt, aber mit breitem Lächeln, »doch war es wirklich nur ein Zufall. Drage hat das Verbrechen nicht begangen – ich meine dieses Verbrechen. Sein einziges Verbrechen war, daß er jemanden erpreßte, und um das zu tun, trieb er sich hier herum; aber er wollte keineswegs, daß das Geheimnis öffentlich bekannt werde oder daß das ganze Geschäft durch den Tod beendet würde. Wir können uns später über ihn unterhalten. Im Augenblick möchte ich ihn nur aus dem Wege haben.«

»Aus welchem Wege?« fragte der andere.

»Aus dem Weg zur Wahrheit«, erwiderte der Priester und sah ihn mit ruhigen Augenlidern gelassen an.

»Sie meinen«, zögerte der andere, »daß Sie die Wahrheit kennen?«

»Ich glaube ja«, sagte Father Brown bescheiden.

Es gab ein jähes Schweigen, und dann rief Crake plötzlich und zusammenhanglos mit rauher Stimme:

»Und wo ist dieser Bursche, der Sekretär? Wilton! Er sollte jetzt hier sein.«

»Ich stehe in Verbindung mit Mr. Wilton«, sagte Father Brown feierlich; »tatsächlich habe ich ihn gebeten, mich hier in ein paar Minuten anzurufen. Ich darf sagen, daß wir die Sache gemeinsam aufgeklärt haben, gewissermaßen.«

»Wenn Sie zusammenarbeiten, dürfte das ja wohl in Ordnung sein«, brummte Crake. »Ich weiß, daß er andauernd wie ein Bluthund auf der Fährte dieses krummen Hundes war, und also war es vielleicht richtig, mit ihm gemeinsam zu jagen. Aber wenn Sie die Wahrheit darüber wissen, woher zum Teufel haben Sie sie erfahren?«

»Von Ihnen«, sagte der Priester ruhig und fuhr fort, den sprühenden Kämpen sanft anzublicken. »Ich will sagen, mich brachte ein Hinweis in einer Geschichte auf die Spur, die Sie von einem Indianer erzählten, der ein Messer warf und einen Mann oben auf einer Festung traf.«

»Sie haben das schon ein paarmal gesagt«, sagte Wain mit verwirrtem Gesichtsausdruck, »aber ich kann da keinerlei Zusammenhang erkennen, außer daß dieser Mörder einen Pfeil warf und einen Mann auf der Spitze eines Hauses traf, das einer Festung sehr ähnelt. Aber natürlich wurde der Pfeil nicht geworfen, sondern geschossen, und flog viel weiter. Gewiß flog er sogar ungewöhnlich weit; aber ich kann nicht sehen, wie das uns weiterbringen könnte.«

»Ich fürchte, daß Ihnen die Pointe der Geschichte entgangen ist«, sagte Father Brown. »Es handelt sich nicht darum, daß wenn ein Ding weit, ein anderes weiter fliegen kann. Es handelt sich hier darum, daß die falsche Verwendung eines Gerätes zur zweischneidigen Sache werden kann. Die Männer in Crakes Fort dachten an ein Messer als einen Gegenstand für den Nahkampf und vergaßen, daß es ein Geschoß wie ein Wurfspeer sein kann. Andere Männer, die ich kenne, denken an einen Gegenstand wie ein Geschoß ähnlich dem Wurfspeer und vergessen, daß es auch im Nahkampf wie ein Speer verwendet werden kann. Kurz und gut, die Moral von der Geschicht ist, daß wenn man einen Dolch in einen Pfeil verwandeln kann, man einen Pfeil auch in einen Dolch verwandeln kann.«

Jetzt sahen ihn alle an; er aber fuhr auf die gleiche beiläufige und unbewußte Weise fort:

»Natürlich haben wir uns alle gewundert und nach Kräften damit abgeplagt, wer den Pfeil durchs Fenster geschossen hat und ob er von fernher kam und so weiter. Die Wahrheit aber ist, daß niemand den Pfeil abgeschossen hat. Und er kam auch nie durchs Fenster.«

»Wie ist er denn dann gekommen?« fragte der dunkle Anwalt mit eher mürrischem Gesicht.

»Ich nehme an, daß ihn jemand mitgebracht hat«, sagte Father Brown; »es wäre nicht schwierig, ihn bei sich zu tragen oder ihn an sich zu verstecken. Jemand hatte ihn in der Hand, als er neben Merton in Mertons eigenem Zimmer stand. Jemand stach ihn wie einen Dolch in Mertons Kehle und hatte dann den höchst intelligenten Einfall, das Ganze so anzuordnen, daß wir alle sofort überzeugt waren, das Ding sei durchs Fenster hereingeflogen wie ein Vogel.«

»Jemand«, sagte der alte Crake mit einer Stimme so schwer wie Stein.

Das Telephon klingelte mit schneidendem und entsetzlich nachdrücklichem Ton. Es stand im Nebenzimmer, und Father Brown war bereits dorthin geschossen, ehe sich noch jemand anderer bewegen konnte.

»Was zum Teufel ist denn jetzt los?« schrie Peter Wain, der vollkommen zerrüttet und verwirrt schien.

»Er sagte, er erwarte von Wilton, dem Sekretär, angerufen zu werden«, erwiderte sein Onkel mit der gleichen toten Stimme.

»Ich nehme an, das ist Wilton«, bemerkte der Anwalt und sprach wie einer, der ein Schweigen ausfüllen will. Aber niemand antwortete darauf, bis Father Brown plötzlich und schweigend wieder im Raum erschien und die Antwort brachte.

»Meine Herren«, sagte er, als er sich wieder hingesetzt hatte, »Sie haben mich gebeten, die Wahrheit in diesem Rätsel zu suchen; und nachdem ich die Wahrheit gefunden habe, muß ich sie erzählen, ohne irgendwelche Versuche, den Schock zu mildern. Ich fürchte, jeder, der seine Nase in solche Dinge steckt, kann es sich nicht leisten, Rücksicht auf Menschen zu nehmen.«

»Ich nehme an«, sagte Crake und brach das folgende Schweigen, »das bedeutet, daß einige von uns angeklagt oder verdächtigt sind.«

»Wir alle sind verdächtig«, antwortete Father Brown. »Ich selbst könnte verdächtigt werden, denn ich habe die Leiche gefunden.«

»Natürlich sind wir alle verdächtig«, schnappte Wain. »Father Brown hat mir freundlicherweise erklärt, wie ich den Turm mit einem Flugapparat hätte belagern können.«

»Nein«, erwiderte der Priester mit einem Lächeln; »Sie haben mir beschrieben, wie Sie es hätten tun können. Und das war gerade das Interessante daran.«

»Ihm erschien es wahrscheinlich«, grollte Crake, »daß ich ihn selbst mit einem Indianerpfeil umgebracht hätte.«

»Mir erschien das höchst unwahrscheinlich«, sagte Father Brown und zog ein schiefes Gesicht. »Tut mir leid, wenn ich falsch handelte, aber ich konnte mir keine andere Möglichkeit ausdenken, die Fragen zu prüfen. Ich kann mir kaum etwas Unwahrscheinlicheres vorstellen als die Idee, wie Hauptmann Wain in einer großen Maschine am Fenster im Augenblick des Mordes vorbeisaust, und niemand bemerkt ihn; außer vielleicht der Idee, daß ein ehrenwerter alter Herr mit Pfeil und Bogen hinter den Büschen Indianer spielt, um jemanden zu töten, den er auf zwanzig einfachere Weisen hätte töten können. Aber ich mußte herausfinden, ob sie irgend etwas damit zu tun hatten; und so mußte ich sie anklagen, um ihre Unschuld zu beweisen.«

»Und wie haben Sie ihre Unschuld bewiesen?« fragte Blake, der Anwalt, und lehnte sich eifrig vor.

»Durch die Erregung, die sie zeigten, als sie angeklagt wurden«, antwortete der andere.

»Und was meinen Sie damit genau?«

»Wenn Sie mir erlauben, das zu sagen«, bemerkte Father Brown gelassen genug, »so hielt ich es für meine unbezweifelbare Pflicht, Sie und alle anderen zu verdächtigen. Ich verdächtigte Mr. Crake und ich verdächtigte Hauptmann Wain, in dem Sinne, daß ich die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit ihrer Schuld erwog. Ich erzählte ihnen, daß ich zu Schlußfolgerungen gekommen sei; und ich will Ihnen nun erzählen, was diese Schlußfolgerungen waren. Ich überzeugte mich von ihrer Unschuld durch die Art und den Zeitpunkt, in dem sie von Unwissenheit zu Empörung wechselten. So lange sie nicht daran dachten, daß sie angeklagt seien, gaben sie mir unbefangen Material, das die Anklage stützte. Sie haben mir praktisch erklärt, wie sie das Verbrechen hätten begehen können. Dann wurde ihnen plötzlich mit einem Schock und einem Schrei des Zornes klar, daß sie angeklagt waren; das wurde ihnen viel später klar, als sie eigentlich hätten erwarten sollen, angeklagt zu werden, und viel früher, als ich sie anklagte. Nun hätte keine schuldige Person sich so benehmen können. Sie hätte entweder von Anfang an kurz angebunden und mißtrauisch sein können; oder sie hätte Unwissenheit und Unschuld bis zum Ende vortäuschen können. Aber sie würde niemals damit anfangen, die Dinge für sich selbst noch schlimmer zu machen und dann einen großen Schreck bekommen und wütend eben jene Idee zu leugnen beginnen, die zu formen sie selbst beigetragen hatte. Das konnte nur jemand tun, der wirklich nicht begriffen hatte, was er da anregte. Das Selbstbewußtsein eines Mörders würde immer zumindest auf morbide Weise lebendig genug sein, um zu verhindern, daß er zuerst seine Beziehung zu der Tat vergißt und sich danach daran erinnert, sie zu leugnen. Also habe ich Sie beide und andere aus anderen Gründen, die ich jetzt nicht zu besprechen brauche, ausgeschlossen. Da war zum Beispiel der Sekretär – aber darüber werde ich nicht gerade jetzt sprechen. Hören Sie zu, ich habe gerade mit Wilton am Telephon gesprochen, und er hat mir die Erlaubnis erteilt, Ihnen einige sehr ernste Neuigkeiten mitzuteilen. Nun nehme ich an, daß Sie inzwischen alle wissen, wer Wilton war und wohinter er her war.«

»Ich weiß, er ist hinter Daniel Doom her und wird nie mehr glücklich sein, ehe er ihn nicht hat«, antwortete Peter Wain; »und ich habe gehört, daß er der Sohn vom alten Horder und deshalb der Bluträcher ist. Auf jeden Fall sucht er den Mann namens Doom.«

»Ja«, sagte Father Brown, »und er hat ihn gefunden.«

Peter Wain sprang aufgeregt auf.

»Den Mörder!« schrie er. »Sitzt der Mörder schon hinter Gittern?«

»Nein«, sagte Father Brown feierlich; »ich sagte, die Neuigkeiten seien ernst, und sie sind noch ernster als das. Ich fürchte, der arme Wilton hat eine furchtbare Verantwortung auf sich geladen. Ich fürchte, er wird eine furchtbare Verantwortung auf uns laden. Er hat den Verbrecher gestellt, und als er ihn endlich in die Ecke gedrängt hatte – nun ja, da hat er das Gesetz in die eigene Hand genommen.«

»Sie meinen, daß Daniel Doom – «, begann der Anwalt.

»Ich meine, daß Daniel Doom tot ist«, sagte der Priester. »Es gab eine Art wilden Kampfes, und Wilton tötete ihn.«

»Geschah ihm recht«, grollte Mr. Hickory Crake.

»Ich kann Wilton keinen Vorwurf machen, daß er einen solchen Verbrecher umgebracht hat, vor allem, wenn man an die Fehde denkt«, stimmte Wain bei; »das war wie eine Schlange zertreten.«

»Ich bin da anderer Ansicht«, sagte Father Brown. »Ich nehme an, daß wir alle ins Blaue hinein romantischen Unsinn schwatzen, um Lynchjustiz und gesetzlose Willkür zu verteidigen; aber ich habe den Verdacht, daß wir es bedauern werden, wenn wir unsere Rechte und Freiheiten verlieren. Außerdem erscheint es mir unlogisch zu sagen, man könne etwas für Wiltons Mord sagen, ohne auch nur zu fragen, ob man nicht auch etwas für Dooms Morde sagen könnte. Ich bezweifle, daß Doom nur ein einfacher Meuchelmörder war; er könnte ein Gesetzloser gewesen sein mit einer Wahnidee wegen des Kelches, der ihn mit Drohungen gefordert hat, und der erst nach einem Kampf tötete; beide Opfer wurden ganz in der Nähe ihrer Häuser umgebracht. Mein Widerspruch gegen Wiltons Art, die Sache zu regeln, ist, daß wir jetzt niemals Dooms Seite des Falles erfahren werden.«

»Oh, ich kann all dieses sentimentale Weißwaschen von wertlosen mörderischen Erpressern nicht mehr ertragen«, rief Wain hitzig. »Wenn Wilton den Verbrecher um die Ecke gebracht hat, hat er eine gute Tagesarbeit getan, und damit Schluß.«

»Genau das, genau das«, sagte sein Onkel und nickte energisch.

Father Browns Gesicht wurde noch ernster, als er sich langsam im Halbkreis der Gesichter umsah.

»Ist das wirklich Ihrer aller Meinung?« fragte er. Und noch während er das fragte, wurde ihm klar, daß er ein Engländer und im Exil war. Es wurde ihm klar, daß er unter Fremden, wenngleich unter Freunden war. Durch diesen Ring von Fremden lief ein rastloses Feuer, das seiner eigenen Art nicht angeboren war; der grimmigere Geist der westlichen Nation, der rebellieren und lynchen und vor allem kombinieren kann. Er wußte, daß sie bereits kombiniert hatten.

»Nun gut«, sagte Father Brown mit einem Seufzer, »ich muß also annehmen, daß Sie entschieden dieses unglückseligen Mannes Verbrechen vergeben, oder diesen Akt privater Justiz, oder wie immer Sie das nennen wollen. In diesem Fall kann es ihm nicht schaden, wenn ich Ihnen ein bißchen mehr darüber erzähle.«

Er erhob sich plötzlich auf seine Füße; und obwohl sie in seiner Bewegung keine Bedeutung erkennen konnten, schien sie doch selbst die Luft im Raume auf irgendeine Weise zu verändern, ja zu erkälten.

»Wilton tötete Doom auf eher merkwürdige Weise«, begann er.

»Wie hat Wilton ihn getötet?« fragte Crake abrupt.

»Mit einem Pfeil«, sagte Father Brown.

Zwielicht sammelte sich in dem langen Raum, und das Tageslicht schwand bis auf einen Schimmer im großen Fenster des inneren Raumes, wo der große Millionär gestorben war. Fast automatisch wandten die Augen der Gruppe sich ihm langsam zu, noch aber war da kein Ton. Dann kam die Stimme von Crake krächzend und hoch und senil in einer Art krähenden Plapperns.

»Was meinen Sie? Was meinen Sie? Brander Merton von einem Pfeil getötet. Dieser Verbrecher von einem Pfeil getötet – «

»Von demselben Pfeil«, sagte der Priester, »und im selben Augenblick.«

Und wieder war da eine Art von ersticktem, aber doch schwellendem und berstendem Schweigen, und der junge Wain begann: »Sie wollen sagen – «

»Ich will sagen, daß Ihr Freund Merton Daniel Doom war«, sagte Father Brown fest; »und zwar der einzige Daniel Doom, den Sie je finden werden. Ihr Freund Merton war immer verrückt nach dem Koptenkelch, den er jeden Tag wie einen Götzen zu verehren pflegte; und in seiner wilden Jugend hat er wirklich zwei Männer getötet, um ihn in seinen Besitz zu bekommen, obwohl ich immer noch glaube, daß die beiden Toten in gewisser Weise eher Opfer von Unfällen während des Raubes waren. Wie dem auch sei, jetzt hatte er ihn; und dieser Mann Drage kannte die Geschichte und erpreßte ihn. Wilton aber war aus einem ganz anderen Grunde hinter ihm her; ich vermute, daß er die Wahrheit erst entdeckte, nachdem er in sein Haus gekommen war. Wie auch immer, es war in diesem Haus und in jenem Zimmer, wo diese Jagd endete und er den Mörder seines Vaters tötete.«

Lange Zeit sagte niemand etwas. Dann konnte man hören, wie der alte Crake mit den Fingern auf dem Tisch trommelte und vor sich hin murmelte: »Brander muß verrückt gewesen sein. Er muß verrückt gewesen sein.«

»Aber guter Gott!« brach es aus Peter Wain hervor, »was sollen wir denn jetzt tun? Was sollen wir sagen? Aber dann ist ja alles ganz anders! Was ist mit den großen Zeitungen und den Big-Business-Leuten? Brander Merton ist sowas wie der Präsident oder der Papst in Rom.«

»Ich bin sicher, daß jetzt alles anders ist«, begann Barnard Blake, der Rechtsanwalt, mit leiser Stimme. »Die Andersartigkeit involviert ein ganzes – «

Father Brown schlug auf den Tisch, daß die auf ihm stehenden Gläser klirrten; und sie konnten sich fast ein gespenstisches Echo von dem rätselhaften Kelch vorstellen, der immer noch im Raum nebenan stand.

»Nein!« schrie er mit einer Stimme wie ein Pistolenschuß. »Es gibt keine Andersartigkeit. Ich habe Ihnen die Chance gegeben, den armen Teufel zu bedauern, als Sie dachten, er sei ein gewöhnlicher Verbrecher. Da wollten Sie nicht hören; da waren Sie alle für private Rache. Da wollten Sie ihn abschlachten lassen wie ein wildes Tier, ohne Anhörung und ohne öffentliches Gerichtsverfahren, und Sie sagten, er habe nur bekommen, was ihm zustand. Nun gut, wenn Daniel Doom bekommen hat, was ihm zustand, dann hat Brander Merton bekommen, was ihm zustand. Wenn das gut genug für Doom war, dann, bei allem was heilig ist, ist es auch gut genug für Merton. Entweder haltet euch an eure wilde Justiz oder an unsere langweilige Gesetzmäßigkeit; aber im Namen des allmächtigen Gottes, es herrsche entweder gleiche Gesetzlosigkeit oder gleiches Gesetz.«

Niemand antwortete außer dem Rechtsanwalt, und der antwortete mit Knurren:

»Was wird die Polizei sagen, wenn wir ihr erzählen, wir hätten die Absicht, ein Verbrechen zu vergeben?«

»Was wird sie sagen, wenn ich ihr erzähle, daß Sie das bereits getan haben?« erwiderte Father Brown. »Ihr Respekt vor dem Gesetz kommt reichlich spät, Mr. Barnard Blake.«

Und nach einer Pause fuhr er in milderem Ton fort: »Ich für meinen Teil bin bereit, die ganze Wahrheit zu sagen, wenn die richtigen Behörden danach fragen; und ihr übrigen könnt tun, was ihr wollt. Tatsächlich aber wird das wenig Unterschied machen. Wilton hat mich nur angerufen, um mir zu sagen, daß es mir jetzt frei stünde, Ihnen seine Beichte zu unterbreiten; denn wenn Sie sie hören würden, wäre er jenseits aller Verfolgung.«

Er schritt langsam in den inneren Raum und stand dort an dem Tischchen, neben dem der Millionär gestorben war. Der Koptenkelch stand immer noch an derselben Stelle, und dort blieb er eine Weile stehen und starrte in das Gefunkel aller Farben des Regenbogens und darüber hinweg in den blauen Abgrund des Himmels.