Der Kopf Caesars

 

Irgendwo in Brompton oder Kensington gibt es eine Straße mit hohen Häusern, prächtig, aber meist leer, die wie eine Anlage von Grabdenkmälern aussieht. Sogar die Stufen, die zu den dunklen Portalen emporführen, erscheinen so steil wie die Seiten einer Pyramide; man zögert, an die Tür zu pochen, aus Angst, es möchte eine Mumie öffnen. Aber eine noch niederdrückendere Eigenart der grauen Häuserfassaden ist ihre unabsehbare Länge und ihre abwechslungslose Kontinuität. Den Pilgrim, der sie hinabwandert, überkommt die Vorstellung, er werde niemals an eine Unterbrechung oder eine Ecke kommen; und doch gibt es eine Ausnahme – eine zwar nur sehr kleine, aber vom Pilgrim fast mit einem Jubelschrei begrüßt. Es gibt da zwischen zweien der hohen Gebäude eine Art Stallung, ein bloßer Schlitz wie ein Türspalt im Vergleich zur Straße, doch aber gerade groß genug, daß dort eine winzige Bier- oder Eßkneipe in der Ecke Platz findet, wie sie die Reichen ihren Stallknechten noch eben zugestehen. Da ist etwas Fröhliches gerade in ihrer Kleinheit, und etwas Freies und Märchenhaftes gerade in ihrer Anspruchslosigkeit. Zu Füßen jener grauen Steingiganten sieht sie wie ein beleuchtetes Zwergenhaus aus.

Wer nun an einem bestimmten, selbst schon fast märchenhaften Herbstabend hier vorbeigekommen wäre, hätte eine Hand sehen können, wie sie die rote Halbgardine beiseite schob, die (zusammen mit einigen großen weißen Buchstaben) das Innere halb vor der Straße verbarg, und ein Gesicht, wie es einem unschuldigen Kobold nicht unähnlich herausschaute. Es war in der Tat das Gesicht jemandes mit dem harmlos menschlichen Namen Brown, vormals Priester in Cobhole/Essex, der nun in London arbeitete. Sein Freund Flambeau, ein halbamtlicher Detektiv, saß ihm gegenüber und schloß gerade seine Notizen über einen Fall ab, den er in der Nachbarschaft aufgeklärt hatte. Sie saßen an einem kleinen Tisch nahe dem Fenster, als der Priester den Vorhang zurückzog und hinausschaute. Er wartete, bis ein Fremder in der Straße am Fenster vorübergegangen war, ehe er den Vorhang wieder fallen ließ. Dann rollten seine runden Augen zu den großen weißen Buchstaben über seinem Kopf hoch, und wanderten dann hinüber zum Nachbartisch, an dem nur ein Bauarbeiter bei Bier und Käse saß, und ein junges Mädchen mit rotem Haar und einem Glas Milch. Dann (als er sah, daß sein Freund das Notizbuch wegsteckte) sagte er milde:

»Wenn Sie 10 Minuten Zeit hätten, möchte ich, daß Sie dem Mann mit der falschen Nase folgen.«

Flambeau blickte überrascht auf; aber auch das Mädchen mit dem roten Haar blickte auf, jedoch von Stärkerem als nur Erstaunen bewegt. Sie war einfach, ja fast nachlässig mit einem hellbraunen leinenen Hängekleid bekleidet; aber sie war eine Dame, und zwar, wie ein zweiter Blick zeigte, eine eher unnötig hochmütige. »Der Mann mit der falschen Nase!« wiederholte Flambeau. »Wer ist das?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Father Brown. »Ich möchte, daß Sie das herausfinden; ich bitte Sie um diesen Gefallen. Er ist da hinabgegangen« – und er wies mit seinem Daumen in einer seiner unbestimmten Gesten über die Schulter – »und kann noch keine drei Straßenlaternen weit gekommen sein. Ich möchte nur seine Richtung wissen.«

Flambeau starrte seinen Freund einige Zeit lang mit einer Mischung aus Bestürzung und Belustigung an; dann erhob er sich vom Tisch, quetschte seine riesige Gestalt durch die kleine Tür der Zwergenkneipe, und verschwand im Dämmerlicht.

Father Brown nahm ein kleines Buch aus der Tasche und begann, gelassen zu lesen; er verriet durch nichts, ob er sich der Tatsache bewußt war, daß die rothaarige Dame ihren Tisch verlassen und sich ihm gegenüber niedergesetzt hatte. Schließlich lehnte sie sich vor und sagte mit leiser, kräftiger Stimme: »Warum haben Sie das gesagt? Woher wissen Sie, daß sie falsch ist?«

Er hob seine ziemlich schweren Augenlider, die in beträchtlicher Verwirrung flatterten. Dann schweifte sein zweifelhafter Blick wieder hinauf zu den weißen Buchstaben an der Glasscheibe der Kneipe. Der Blick der jungen Frau folgte dem seinen und blieb dort ebenfalls haften, wenngleich in völligem Unverständnis.

»Nein«, sagte Father Brown, indem er ihre Gedanken beantwortete. »Das bedeutet nicht ›Sela‹ wie das Ding in den Psalmen; ich habe das eben auch so gelesen, als ich vor mich hin träumte; es bedeutet ›Ales‹.«

»Und?« fragte die entgeistert blickende junge Dame. »Was spielt denn das für eine Rolle?«

Sein nachdenklicher Blick schweifte über des Mädchens leichten Leinenärmel, der am Handgelenk mit einer sehr schmalen kunstreichen Spitzenborte abgesetzt war, gerade genug, um ihn vom Arbeitskleid einer gewöhnlichen Frau zu unterscheiden und ihn mehr wie das Arbeitskleid einer Kunststudentin wirken zu lassen. Darin schien er reiche Nahrung für seine Gedanken zu finden; aber seine Antwort kam sehr langsam und zögerlich. »Nun ja, mein Fräulein«, sagte er, »von außen sieht dieses Lokal – es ist selbstverständlich ein höchst anständiges Lokal – aber Damen wie Sie denken – denken im allgemeinen nicht so. Sie betreten ein solches Lokal niemals freiwillig, abgesehen von – «

»Und?« wiederholte sie.

»Abgesehen von ein paar Unglücklichen, die aber nicht hereinkommen, um Milch zu trinken.«

»Sie sind ein sehr sonderbarer Mensch«, sagte die junge Dame. »Warum tun Sie das alles?«

»Nicht, um Ihnen dadurch Kummer zu bereiten«, sagte er sehr sanft. »Nur um mich mit genügend Kenntnissen auszurüsten, um Ihnen helfen zu können für den Fall, daß Sie aus freien Stücken um meine Hilfe bitten.«

»Aber warum sollte ich denn Hilfe brauchen?«

Er setzte seinen träumerischen Monolog fort. »Sie können nicht hereingekommen sein, um Schützlinge zu treffen, arme Leute oder so, sonst wären Sie weiter in den Aufenthaltsraum gegangen… und Sie können nicht hereingekommen sein, weil Sie sich schlecht fühlen, sonst hätten Sie mit der Wirtin gesprochen, die offensichtlich ehrbar ist… und außerdem sehen Sie nicht krank aus in diesem Sinne, sondern nur unglücklich… Diese Straße ist die einzige echt lange Gasse, die keine Kurven aufweist; und die Häuser auf beiden Seiten sind geschlossen… Ich kann mir nur vorstellen, daß Sie jemanden kommen sahen, dem Sie nicht zu begegnen wünschten; und da entdeckten Sie dieses Lokal als einzigen Zufluchtsort in dieser Wüstenei aus Stein… Ich glaube nicht, daß ich die Befugnisse eines Fremden überschritten habe, als ich einen Blick auf den einzigen Mann warf, der kurz danach vorbeikam… Und da ich meine, daß er wie etwas Falsches aussah… und Sie wie etwas Richtiges aussehen… hielt ich mich bereit, Ihnen zu helfen, falls er Sie belästigen sollte; das ist alles. Was meinen Freund angeht, so wird er bald zurück sein; und er wird sicherlich nichts ausfindig machen, indem er eine Straße wie diese hinabstürmt… Damit habe ich auch nicht gerechnet.«

»Aber warum haben Sie ihn denn dann losgeschickt?« rief sie und lehnte sich mit noch intensiverer Neugier vor. Sie hatte das stolze ungestüme Gesicht einer Rothaarigen, und eine römische Nase wie Marie Antoinette.

Er sah sie zum ersten Mal unmittelbar an und sagte: »Weil ich hoffte, Sie würden mich ansprechen.«

Sie sah ihn eine Weile mit erhitztem Gesicht an, in dem der rote Schatten eines Zorns hing; dann aber brach trotz aller Ängste ihr Humor aus ihren Augen und ihren Mundwinkeln, und sie antwortete fast grimmig: »Nun gut, wenn Sie so scharf auf meine Unterhaltung sind, dann beantworten Sie mir vielleicht meine Frage.« Und nach einer Pause fügte sie hinzu: »Ich hatte die Ehre, Sie zu fragen, wieso Sie glaubten, daß die Nase des Mannes falsch war.«

»Wachs wird bei solchem Wetter immer ein bißchen fleckig«, antwortete Father Brown ganz einfach.

»Aber das ist doch so eine krumme Nase«, widersprach das rothaarige Mädchen.

Der Priester lächelte seinerseits. »Ich sage ja auch nicht, daß man eine solche Nase aus reiner Fopperei trägt«, gab er zu. »Dieser Mann trägt sie, glaube ich, weil seine wirkliche viel edler geformt ist.«

»Aber warum?« fragte sie beharrlich.

»Wie heißt es doch in dem Kinderlied?« bemerkte Brown zerstreut. »War einst ein krummer Mann, ging einen krummen Weg… Dieser Mann, stelle ich mir vor, geht eine sehr krumme Straße – indem er seiner Nase nachgeht.«

»Was hat er denn getan?« fragte sie ziemlich unsicher.

»Ich will mich auf keinen Fall in Ihr Vertrauen drängen«, sagte Father Brown sehr ruhig. »Aber ich glaube, daß Sie mir darüber mehr erzählen könnten, als ich Ihnen.«

Das Mädchen sprang auf und stand ganz ruhig da, aber mit geballten Händen, so wie jemand, der gleich fortgeht; dann lösten sich ihre Hände langsam, und sie setzte sich wieder hin. »Sie sind ein noch größeres Geheimnis als die anderen«, sagte sie verzweifelt, »aber ich habe das Gefühl, daß in Ihrem Geheimnis ein Herz stecken könnte.«

»Was wir alle am meisten fürchten«, sagte der Priester mit leiser Stimme, »ist ein Irrgarten ohne Mittelpunkt. Darum ist der Atheismus nur ein Alptraum.«

»Ich werde Ihnen alles erzählen«, sagte das rothaarige Mädchen trotzig, »außer warum ich es Ihnen erzähle; denn das weiß ich nicht.«

Sie zupfte an der gestopften Tischdecke herum und fuhr fort: »Sie sehen aus, als wüßten Sie, was Snobismus nicht ist und was es ist; und wenn ich sage, daß meine Familie eine gute alte Familie ist, dann werden Sie verstehen, daß das ein wesentlicher Teil der Geschichte ist; tatsächlich besteht meine größte Gefahr in den vereinsamten Vorstellungen meines Bruders über die Abkehr vom Alltagsleben, über ›noblesse oblige‹ und dergleichen. Ich heiße Christabel Carstairs; und mein Vater war jener Oberst Carstairs, von dem Sie vielleicht schon gehört haben und der die berühmte Carstairs-Sammlung römischer Münzen aufgebaut hat. Ich könnte Ihnen meinen Vater niemals beschreiben; das Zutreffendste wäre noch, daß er selbst sehr wie eine römische Münze war. Er war genauso schön und echt und wertvoll und metallisch und veraltet. Er war stolzer auf seine Sammlung als auf sein Wappen – und das sagt ja wohl alles. Sein außerordentlicher Charakter äußerte sich am deutlichsten in seinem Testament. Er hatte zwei Söhne und eine Tochter. Er hatte Streit mit dem einen Sohn, meinem Bruder Giles, dem er ein kleines Einkommen aussetzte und den er damit nach Australien schickte. Dann verfaßte er sein Testament, durch das er die Carstairs-Sammlung mit einem noch kleineren Einkommen meinem Bruder Arthur vermachte. Er sah das als eine Belohnung an, als die höchste Ehre, die er zu vergeben hatte, in Anerkennung von Arthurs Loyalität und Rechtschaffenheit und jener Ehrungen, die er in Mathematik und Wirtschaftswissenschaften bereits in Cambridge errungen hatte. Mir hinterließ er praktisch sein ganzes, ziemlich großes Vermögen; und ich bin sicher, daß er das verachtungsvoll meinte.

Nun könnten Sie sagen, daß Arthur sich darüber mit Recht hätte beklagen können; aber Arthur ist in allem erneut mein Vater. Zwar hatte er in seiner Jugend einige Auseinandersetzungen mit meinem Vater gehabt, doch kaum hatte er die Sammlung übernommen, als er zu einem heidnischen, seinem Tempel geweihten Priester wurde. Er vermischte diese römischen Halbpfennige auf die gleiche steife, götzendienerische Weise mit der Familienehre der Carstairs wie sein Vater vor ihm. Er benahm sich, als müsse römisches Geld von allen römischen Tugenden gehütet werden. Er gönnte sich keine Vergnügungen; er gab nichts für sich selbst aus; er lebte für die Sammlung. Oftmals machte er sich nicht einmal die Mühe, sich zu seinen einfachen Mahlzeiten umzuziehen; sondern er wirtschaftete in einem alten braunen Morgenmantel zwischen seinen verschnürten braunen Päckchen herum (die sonst niemand auch nur anrühren durfte). Mit der Kordel und der Quaste und seinem blassen, schmalen, verfeinerten Gesicht sah er aus wie ein alter asketischer Mönch. Ab und zu allerdings erschien er gekleidet wie ein entschieden modebewußter Gentleman; das aber nur dann, wenn er sich zu Londoner Versteigerungen oder Läden begab, um der Carstairs-Sammlung Neues hinzuzufügen.

Wenn Sie jemals irgendwelche jungen Leute gekannt haben, werden Sie nicht schockiert sein, wenn ich Ihnen sage, daß ich bei all diesem nachgerade in einen ziemlich unerfreulichen Geisteszustand geriet; jenen Geisteszustand, in dem man zu sagen beginnt, daß einem die alten Römer reichlich egal sind. Ich bin nicht so wie mein Bruder Arthur; ich will mich mit Vergnüglichem vergnügen. Ich habe eine ganze Menge Romantik und Unsinn von da mitbekommen, wo ich auch mein rotes Haar herhabe, von der anderen Seite der Familie. Der arme Giles war genauso; und ich glaube, daß diese Münzenatmosphäre als Entschuldigung für ihn dienen kann; obwohl er wirklich Übles getan hat und fast ins Gefängnis gekommen ist. Aber er hat sich auch nicht schlechter benommen als ich; wie Sie gleich hören werden.

Denn ich komme jetzt zum törichten Teil der Geschichte. Ein so kluger Mann wie Sie kann sicherlich die Art von Vorgang erraten, die sich ereignen mußte, um für eine widerspenstige Siebzehnjährige die Monotonie einer solchen Position zu erleichtern. Aber mich haben schrecklichere Dinge so verwirrt, daß ich meine eigenen Gefühle kaum mehr lesen kann und nicht weiß, ob ich sie jetzt als einen Flirt verachte oder als gebrochenes Herz trage. Wir lebten damals in einem kleinen Seebad in Südwales. Ein paar Häuser weiter lebte ein Seekapitän im Ruhestand, der einen Sohn etwa 5 Jahre älter als ich hatte, mit dem Giles befreundet gewesen war, ehe er in die Kolonien ging. Sein Name spielt zwar für meine Geschichte keine Rolle; aber ich sage Ihnen, daß er Philip Hawker hieß, denn ich erzähle Ihnen alles. Wir zogen zusammen auf Garnelenfang und sagten und dachten, daß wir einander liebten; wenigstens sagte er es entschieden, und ich dachte es entschieden. Wenn ich Ihnen nun sage, daß er einen bronzenen Lockenkopf hatte und eine Art Falkengesicht, von der See ebenfalls bronzen, dann versichere ich Ihnen, daß es nicht seinetwegen geschieht, sondern wegen der Geschichte; denn das war der Ursprung eines sehr sonderbaren Zwischenfalls.

Eines Sommernachmittags, als ich versprochen hatte, mit Philip am Strand auf Garnelenfang zu gehen, wartete ich ziemlich ungeduldig im vorderen Salon und beobachtete Arthur, wie er sich mit einigen Päckchen Münzen beschäftigte, die er gerade erworben hatte, und sie langsam, jeweils eine oder zwei zugleich, in sein düsteres Arbeitszimmer und Museum schaffte, das sich hinten im Haus befand. Sobald ich die schwere Tür sich endlich hinter ihm schließen hörte, stürzte ich zu meinem Garnelennetz und der Schottenmütze und wollte gerade aus dem Haus schlüpfen, als ich sah, daß mein Bruder eine Münze zurückgelassen hatte, die da schimmernd auf der langen Bank am Fenster lag. Es war eine Bronzemünze, und diese Farbe, zusammen mit der exakten Krümmung der römischen Nase und irgend etwas im Schwung des langen sehnigen Nackens, machte aus dem Kopf Caesars auf der Münze das fast vollkommene Porträt von Philip Hawker. Dann erinnerte ich mich plötzlich daran, daß Giles einst Philip von einer Münze erzählt hatte, die ihm so ähnlich war, und daß Philip sich wünschte, sie zu besitzen. Vielleicht können Sie sich die wilden törichten Gedanken vorstellen, die in meinem Kopf herumwirbelten; ich fühlte mich, als hätte mich die gute Fee beschenkt. Mir schien es so, daß wenn ich nur mit ihr fortlaufen und sie Philip geben könnte wie eine Art wilden Traurings, das ein ewiger Bund zwischen uns wäre; tausend solche Dinge fühlte ich gleichzeitig. Und dann gähnte plötzlich unter mir wie der Höllenschlund die grausige furchtbare Erkenntnis dessen, was ich da tat; und vor allem anderen der unerträgliche Gedanke, als faßte ich glühendes Eisen an, was Arthur darüber denken würde. Eine Carstairs eine Diebin; und eine Diebin am Carstairs-Schatz! Ich glaube, mein Bruder hätte mich dafür wie eine Hexe brennen sehen können. Dann aber stachelte gerade dieser Gedanke an eine solch fanatische Grausamkeit meinen alten Haß auf seine verstaubte Antiquitätenpedanterie ebenso an wie meine Sehnsucht nach Jugend und Freiheit, die mich vom Meer her riefen. Draußen war strahlender Sonnenschein, und ein Wind ging; und der gelbe Kopf eines Besenkrauts oder Stechginsters im Garten klopfte an die Fensterscheibe. Ich dachte daran, wie all das lebendige und wachsende Gold mir von allen Heiden der Welt aus zurief – und dann, wie das tote stumpfe Gold meines Bruders und die Bronze und das Messing staubiger und staubiger wurden, während das Leben verging. Natur und Carstairs-Sammlung waren endlich aneinander geraten.

Die Natur ist älter als die Carstairs-Sammlung. Als ich durch die Straßen zum Meer hinabrannte, die Münze in der fest geballten Faust, spürte ich das ganze Römische Reich auf meinen Schultern, und zusätzlich den ganzen Carstairschen Stammbaum. Nicht nur der alte silberne Wappenlöwe brüllte mir ins Ohr, sondern auch alle Adler der Caesaren schienen mich flatternd und kreischend zu verfolgen. Und doch stieg mein Herz höher und höher wie der Drache eines Kindes, bis ich über die lockeren trockenen Sandhügel zu den ebenen, nassen Sänden kam, wo Philip schon knöcheltief im flachen, glitzernden Wasser stand, einige hundert Meter seewärts. Es gab einen gewaltigen roten Sonnenuntergang; und die weite Fläche flachen Wassers, das für über eine halbe Meile kaum über den Knöchel stieg, war wie ein See aus rubinenen Flammen. Erst nachdem ich mir die Schuhe und Strümpfe ausgezogen hatte und dahin gewatet war, wo er stand, ziemlich weit vom trockenen Land entfernt, drehte ich mich um und schaute umher. Wir waren in dem Ring aus Seewasser und nassem Sand allein; und da gab ich ihm den Kopf Caesars.

In diesem gleichen Augenblick widerfuhr mir ein Schock der Einbildungskraft: daß ein Mann weit weg auf den Sandhügeln mich intensiv anstarre. Mir muß unmittelbar danach bewußt geworden sein, daß das nur ein Zucken unvernünftiger Nerven war; denn der Mann war lediglich ein dunkler Punkt in der Entfernung, und ich konnte kaum mehr sehen, als daß er ganz still stand und starrte, den Kopf ein bißchen auf die Seite geneigt. Es gab keinerlei logischen irdischen Beweis, daß er überhaupt zu mir herübersah; er hätte genauso gut nach einem Schiff oder nach dem Sonnenuntergang oder nach den Seemöwen oder auch nach irgendeinem der Menschen schauen können, die hier und da auf dem Ufer zwischen uns herumliefen. Jedoch: Woraus auch immer mein Erschrecken kam, es war prophetisch; denn während ich noch starrte, begann er, über die weiten nassen Sände energisch gerade auf uns zu auszuschreiten. Als er näher und näher kam, sah ich, daß er dunkel und bärtig war und daß eine dunkle Brille seine Augen kennzeichnete. Er war ärmlich, aber anständig in Schwarz gekleidet, von dem alten schwarzen Zylinder auf seinem Kopf bis zu den soliden schwarzen Stiefeln an seinen Füßen. Ohne Rücksicht auf sie ging er ohne das geringste Zögern in die See hinein und kam mit der Stetigkeit einer Kugel auf mich zu.

Ich kann Ihnen das Gefühl des Ungeheuerlichen und Übernatürlichen nicht beschreiben, das mich überkam, als er so schweigend die Schranken zwischen Land und Wasser durchbrach. Es war, als ob er direkt über eine Klippe hinaus geschritten wäre und immer noch stetig mitten durch die Luft marschiere. Es war, als ob ein Haus in die Luft geflogen oder der Kopf eines Mannes abgefallen wäre. Zwar machte er sich nur die Stiefel naß; aber er schien ein Dämon zu sein, der sich über ein Naturgesetz hinwegsetzte. Wenn er auch nur eine Sekunde am Rande des Wassers gezögert hätte, so wäre es nichts gewesen. Aber so erschien es, als schaue er so ausschließlich mich an, daß er den Ozean nicht bemerkte. Philip war einige Meter entfernt mit dem Rücken zu mir und beugte sich über sein Netz. Der Fremde kam heran, bis er zwei Meter vor mir stand, während das Wasser ihn bis halbwegs zum Knie umspülte. Dann sagte er mit einer klar modulierten, aber doch gezierten Aussprache: ›Würde es Sie inkommodieren, andernorts eine Münze mit einer etwas anderen Beschriftung zu kontribuieren?‹

Mit einer Ausnahme gab es eigentlich nichts eindeutig Abnormales an ihm. Seine gefärbten Gläser waren nicht wirklich undurchsichtig, sondern von einer ziemlich gewöhnlichen blauen Sorte, und auch die Augen hinter ihnen waren nicht etwa unstet, sondern sahen mich stetig an. Sein dunkler Bart war nicht wirklich lang oder ungepflegt; aber er sah besonders haarig aus, denn der Bart setzte sehr hoch in seinem Gesicht an, unmittelbar unter den Backenknochen. Seine Hautfarbe war nicht etwa fahl oder gar aschfahl, sondern im Gegenteil recht klar und jugendlich; aber gerade das gab ihm ein rosig-weißes, wächsernes Aussehen, das irgendwie (ich weiß nicht warum) den Schrecken nur noch steigerte. Die einzige feststellbare Eigentümlichkeit war, daß seine Nase, im übrigen von gutem Schnitt, an der Spitze leicht zur Seite verdreht war; als ob man, als sie noch weich war, mit einem Spielzeughammer auf die eine Seite geschlagen hätte. Man könnte es kaum eine Mißgestaltung nennen; und doch kann ich Ihnen gar nicht sagen, welch ein lebender Albtraum das für mich war. Als er da in dem sonnenfleckigen Wasser stand, erschien er mir wie ein höllisches Meeresungeheuer, das gerade brüllend aus einer See von Blut aufgetaucht ist. Ich weiß gar nicht, warum eine Verlegung der Nase meine Einbildungskraft so stark beeinflussen konnte. Ich glaube, weil es so aussah, als könne er seine Nase wie einen Finger bewegen. Und als hätte er sie in diesem Augenblick gerade bewegt.

›Jegliche Art kleiner Hülfe‹, fuhr er in demselben sonderbaren, geckenhaften Akzent fort, ›die der Notwendigkeit abhülfe, daß ich mich mit der Familie in Verbindung setzen müßte.‹

Da wurde mir plötzlich klar, daß ich wegen des Diebstahls der Bronzemünze erpreßt wurde; und all meine lediglich abergläubischen Ängste und Zweifel wurden von einer einzigen, alles überwältigenden praktischen Frage verschlungen. Wie war er dahintergekommen? Ich hatte das Ding jählings und spontan gestohlen; ich war mit Sicherheit allein gewesen, denn ich hatte immer dafür gesorgt, unbeobachtet zu sein, wenn ich hinausschlüpfte, um Philip auf diese Weise zu treffen. Allem Anschein nach war mir niemand durch die Straßen gefolgt; und wenn doch, hätte niemand die Münze in meiner geballten Hand ohne Röntgenstrahlen sehen können. Der Mann, der auf den Sanddünen stand, hätte ebensowenig sehen können, was ich Philip gab, wie er einer Fliege das Auge hätte ausschießen können wie der Mann im Märchen.

›Philip‹, rief ich hilflos, ›frag doch diesen Mann, was er von mir will.‹

Als Philip schließlich den Kopf von seiner Netzflickerei hob, sah er ziemlich rot aus, als ob er schmolle oder sich schäme; aber das kann auch nur von der Anstrengung des Bückens gekommen sein und von der roten Abendsonne; vielleicht habe ich auch nur eine weitere der Einbildungen gehabt, die um mich her zu tanzen schienen. Er sagte lediglich schroff zu dem Mann: ›Hauen Sie hier ab.‹ Er winkte mir, ihm zu folgen, und begann der Küste zuzuwaten, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Er stieg auf einen steinernen Wellenbrecher, der sich vom Fuß der Sandhügel her erstreckte, und wanderte auf ihm heimwärts, vielleicht in der Überzeugung, unser höllischer Plagegeist würde es schwieriger finden, auf so rauhen, von Tang grünen und schlüpfrigen Steinen zu laufen als wir, die wir jung waren und daran gewöhnt. Aber mein Verfolger schritt ebenso geziert dahin wie er sprach; und immer noch folgte er mir, und wählte sich seinen Weg, und wählte sich seine Phrasen. Ich hörte seine delikate widerwärtige Stimme mich über meine Schulter ständig ansprechen, bis schließlich, als wir die Sandhügel überquert hatten, Philips Geduld (die bei den meisten anderen Anlässen keineswegs so sichtbar wurde) riß. Er wandte sich plötzlich um und sagte: ›Gehen Sie. Ich kann jetzt nicht mit Ihnen sprechen.‹ Und als der Mann zögerte und den Mund aufmachte, hieb Philip ihm einen solchen Schlag darauf, daß er von der obersten Spitze des höchsten Sandhügels bis ganz hinunter stürzte. Ich sah ihn da unten sandbedeckt herauskriechen.

Dieser Hieb tröstete mich irgendwie, obwohl er meine Gefährdung durchaus noch vergrößern mochte; aber Philip zeigte nichts von seinem üblichen Stolz auf den eigenen Mut. Obwohl so liebevoll wie immer, schien er doch niedergeschlagen zu sein; und bevor ich ihn noch zu irgend etwas gründlicher fragen konnte, nahm er vor seiner Tür von mir Abschied mit zwei Bemerkungen, die mir eigenartig vorkamen. Er sagte, daß ich in Anbetracht aller Umstände die Münze eigentlich wieder in die Sammlung zurückgeben müßte, daß er sie aber ›für den Augenblick‹ selbst verwahren werde. Und dann fügte er ebenso plötzlich wie zusammenhanglos hinzu: ›Weißt du übrigens, daß Giles aus Australien zurück ist?‹«

Die Tür der Taverne öffnete sich, und der riesige Schatten des Forschers Flambeau fiel über den Tisch. Father Brown stellte ihn der Dame in seiner eigenen nachlässig einnehmenden Sprechweise vor und erwähnte seine Kenntnisse und seine Einfühlungsgabe in solchen Fällen; und fast ohne es zu bemerken, wiederholte bald darauf das Mädchen ihre Geschichte vor zwei Zuhörern. Flambeau jedoch, während er sich verneigte und dann niedersetzte, überreichte dem Priester einen schmalen Streifen Papiers. Brown nahm ihn mit einiger Überraschung entgegen und las auf ihm: »Droschke nach Wagga Wagga, Mafeking Avenue 379, Putney.« Das Mädchen indes fuhr mit ihrer Geschichte fort.

»Ich ging die steile Straße zu meinem eigenen Haus hinauf, während sich mir der Kopf drehte; er hatte auch noch nicht begonnen, sich zu klären, als ich unsere Hausschwelle erreichte, auf der ich eine Milchflasche fand – und den Mann mit der verdrehten Nase. Die Milchflasche erzählte mir, daß die Bediensteten alle ausgegangen waren; denn natürlich würde Arthur, während er in seinem braunen Morgenmantel in seinem braunen Arbeitszimmer herumfuhrwerkte, die Haustürklingel weder hören noch beachten. Also gab es niemanden im Haus, der mir hätte helfen können außer meinem Bruder, und dessen Hilfe mußte mein Ruin sein. In meiner Verzweiflung drückte ich dem entsetzlichen Wesen zwei Schilling in die Hand und sagte ihm, er solle sich in ein paar Tagen wieder melden, wenn ich mir die Sache überlegt hätte. Er zog mißmutig ab, aber gutwilliger als ich erwartet hatte – vielleicht hatte ihn der Sturz doch etwas erschüttert –, und ich beobachtete mit schrecklich rachsüchtiger Freude, wie sich der Sandfleck auf seinem Rücken die Straße hinab entfernte. Er verschwand etwa sechs Häuser weiter um eine Ecke.

Danach ging ich hinein, machte mir etwas Tee und versuchte, mir die Sache zu überlegen. Ich saß am Fenster des Salons und blickte hinaus in den Garten, der im letzten vollen Abendlicht erglühte. Doch ich war zu zerstreut und versunken, als daß ich den Rasen und die Blumentöpfe und Blumenbeete hätte mit Aufmerksamkeit betrachten können. Und deshalb traf mich der Schock um so schärfer, als ich ihn erst so spät bemerkte.

Der Mann oder das Ungeheuer, das ich fortgeschickt hatte, stand ganz ruhig in der Mitte des Gartens. Ach, wir alle haben viel über fahlgesichtige Phantome im Dunkeln gelesen; aber das hier war noch viel schlimmer, als irgend etwas von jener Art je sein könnte. Denn obwohl er einen langen Abendschatten warf, stand er doch noch im warmen Sonnenschein. Und weil sein Gesicht nicht fahl war, sondern jenen wächsern rosigen Ton zeigte, den Frisierpuppen haben. Er stand ganz ruhig da, sein Gesicht mir zugewandt; und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schrecklich er da zwischen den Tulpen und all den hohen, prangenden, fast nach Gewächshaus aussehenden Blumen wirkte. Es sah aus, als hätten wir eine Wachspuppe statt einer Statue in der Mitte des Gartens aufgestellt.

Doch im gleichen Augenblick, da er sah, wie ich mich am Fenster bewegte, wandte er sich um und rannte durch die hintere Pforte aus dem Garten, die offenstand und durch die er zweifellos hereingekommen war. Diese neuerliche Verzagtheit auf seiner Seite war so völlig verschieden von der unverschämten Selbstsicherheit, mit der er in die See geschritten war, daß ich mich undeutlich getröstet fühlte. Ich stellte mir vielleicht vor, daß er eine Begegnung mit Arthur mehr fürchtete, als ich wußte. Jedenfalls setzte ich mich schließlich hin und hatte ein ruhiges Abendessen allein (denn es war gegen die Spielregeln, Arthur zu stören, wenn er das Museum neu ordnete), und meine Gedanken flohen, ein bißchen erleichtert, zu Philip und verloren sich, vermute ich. Jedenfalls blickte ich abwesend, aber eher vergnügt als sonst etwas auf ein anderes vorhangloses Fenster, das inzwischen durch das endgültige Niedersinken der Nacht schwarz wie Schiefer war. Mir schien es, als wäre da etwas wie eine Schnecke draußen an der Fensterscheibe. Aber als ich aufmerksamer hinblickte, sah es eher wie der gegen die Scheibe gepreßte Daumen eines Mannes aus; jedenfalls hatte es das geriffelte Aussehen eines Daumens. Meine Angst und mein Mut waren gemeinsam wieder erwacht, und so stürzte ich denn ans Fenster und fuhr mit einem erstickten Schrei zurück, den jeder andere Mann außer Arthur gehört haben würde.

Denn es war weder ein Daumen noch eine Schnecke.

Es war die Spitze einer krummen Nase, die gegen das Glas gepreßt wurde; sie war weiß von dem Druck; und das starrende Gesicht und die Augen hinter ihr waren zunächst unsichtbar und wurden dann grau wie ein Geist. Irgendwie schlug ich die Fensterläden zu, rannte hinauf in mein Zimmer und schloß mich ein. Aber während ich vorbeirannte, hätte ich schwören können, daß ich ein zweites schwarzes Fenster sah mit etwas daran wie eine Schnecke.

Vielleicht wäre es doch am besten, zu Arthur zu gehen. Wenn das Ding das Haus umschlich wie eine Katze, mochte es vielleicht noch üblere Absichten als Erpressung haben. Mein Bruder könnte mich zwar aus dem Haus werfen und auf ewig verfluchen, aber er war ein Gentleman, und er würde mich auf der Stelle verteidigen. Nach zehn Minuten strengen Nachdenkens ging ich hinab, klopfte an die Tür und trat ein: um den letzten und gräßlichsten Anblick zu sehen.

Der Stuhl meines Bruders war leer, und er war offensichtlich nicht da. Aber der Mann mit der krummen Nase saß da und wartete auf seine Rückkehr, den Hut noch immer unverfroren auf dem Kopf, und er las tatsächlich ein Buch meines Bruders unter meines Bruders Lampe. Sein Gesicht sah gefaßt und beschäftigt aus, aber seine Nasenspitze schien immer noch der beweglichste Teil seines Gesichtes zu sein, so, als habe sie sich gerade wieder von links nach rechts bewegt, wie der Rüssel eines Elefanten. Ich hatte ihn schon ekelhaft genug empfunden, als er mich verfolgte und beobachtete; aber ich denke, daß sein Nichtbemerken meiner Anwesenheit noch schrecklicher war.

Ich glaube, daß ich laut und lang geschrieen habe; aber das ist unwichtig. Wichtig ist, was ich als nächstes tat: Ich gab ihm alles Geld, das ich hatte, einschließlich eines guten Teils in Papieren, die zwar mir gehörten, die ich aber eigentlich nicht antasten durfte. Schließlich zog er ab und kleidete sein hassenswertes taktvolles Bedauern in lange Wörter; und ich setzte mich nieder und fühlte mich in jeder Beziehung ruiniert. Und doch wurde ich noch in der gleichen Nacht durch einen puren Zufall gerettet. Arthur war plötzlich nach London gefahren, wie er das aus geschäftlichen Gründen so oft tat; und er kam spät zurück, aber strahlend, denn es war ihm fast gelungen, sich einen Schatz zu sichern, der selbst der Familiensammlung zusätzlichen Glanz verleihen könnte. Er war so glänzender Laune, daß ich mich fast ermutigt fühlte, ihm die Entwendung jener minderen Gemme zu bekennen; doch walzte er alle anderen Themen mit seinen überwältigenden Projekten nieder. Da das Geschäft aber immer noch jeden Augenblick schiefgehen konnte, bestand er darauf, daß ich sofort packe und mit ihm in eine kleine Wohnung ziehe, die er bereits in Fulham gemietet hatte, um dem Raritätenladen nahe zu sein. So entfloh ich ohne eigenes Zutun fast bei Nacht und Nebel meinem Feind – aber auch Philip… Mein Bruder besuchte oft das South-Kensington-Museum, und ich zahlte, um mir eine Art zweiten Lebens zu schaffen, für einige Kurse an der Kunstschule. Von dort kam ich heute abend zurück, als ich jenes unsägliche Scheusal in Person die lange gerade Straße herabkommen sah, und das übrige war so, wie dieser Herr bereits gesagt hat.

Ich habe nur noch eines zu sagen. Ich verdiene nicht, daß man mir hilft; und ich stelle meine Bestrafung nicht in Frage oder bejammere sie; sie ist gerecht, es mußte so kommen. Aber ich frage mich immer noch mit zerplatzendem Hirn, wie es dazu kommen konnte. Bestraft mich ein Wunder? Oder wie könnte irgend jemand außer Philip und mir wissen, daß ich ihm inmitten des Meeres eine winzige Münze gegeben habe?«

»Das ist ein ungewöhnliches Problem«, gab Flambeau zu.

»Nicht so ungewöhnlich wie die Antwort«, bemerkte Father Brown reichlich düster. »Miss Carstairs, werden Sie zu Hause sein, wenn wir Sie in Ihrer Wohnung in Fulham in anderthalb Stunden aufsuchen?«

Das Mädchen sah ihn an, erhob sich dann und zog sich die Handschuhe an. »Ja«, sagte sie; »ich werde dort sein«; und verließ im gleichen Augenblick das Lokal.

An jenem Abend sprachen der Priester und der Detektiv immer noch über die Angelegenheit, als sie sich dem Fulham-Haus näherten, einem Mietshaus, das selbst als zeitweiliger Wohnsitz für die Carstairs-Familie von sonderbarer Armseligkeit war.

»Natürlich würde der oberflächliche Betrachter«, sagte Flambeau, »zuerst an diesen australischen Bruder denken, der zuvor in Schwierigkeiten war, jetzt so plötzlich zurückgekommen ist und genau der Mann ist, um finstere Verbündete zu haben. Aber ich kann mir absolut keine Möglichkeit ausdenken, wie er in diese Geschichte paßt, es sei denn – «

»Ja?« fragte sein Begleiter geduldig.

Flambeau senkte seine Stimme. »Es sei denn, der Liebhaber des Mädchens gehört auch dazu und ist der wirklich schwarze Schuft. Der australische Kerl wußte, daß Hawker sich die Münze wünschte. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie er hätte wissen können, daß Hawker sie erhalten hat, es sei denn, daß Hawker es ihm oder einem Komplizen übers Ufer hin zusignalisiert hätte.«

»Das stimmt«, sagte der Priester anerkennend.

»Haben Sie übrigens auch bemerkt«, fuhr Flambeau eifrig fort, »daß Hawker zuhört, wie seine Liebste beleidigt wird, aber erst zuschlägt, als sie sich in den sanften Sanddünen befinden, wo er in einem Scheinkampf Sieger bleiben kann. Wenn er zwischen Felsen und Meer zugeschlagen hätte, wäre sein Verbündeter vielleicht verletzt worden.«

»Stimmt auch«, sagte Father Brown nickend.

»Und nun noch einmal von vorne. Alles spielt sich zwischen wenigen Personen ab, aber mindestens dreien. Zum Selbstmord braucht man eine Person; zum Mord zwei Personen; aber wenigstens drei Personen für Erpressung.«

»Warum?« fragte der Priester sanft.

»Das ist doch offensichtlich«, rief sein Freund; »eine Person zum Bloßstellen; eine, die Bloßstellung androht; und wenigstens eine, für die die Bloßstellung entsetzlich wäre.«

Nach einer langen nachdenklichen Pause sagte der Priester: »Sie haben einen logischen Fehltritt begangen. Drei Personen braucht man als Idee. Nur zwei sind in der Wirklichkeit vonnöten.«

»Wie meinen Sie das?« fragte der andere.

»Warum sollte ein Erpresser«, fragte Brown mit leiser Stimme, »seinem Opfer nicht mit sich selbst drohen? Nehmen wir an, eine Ehefrau wird strikte Abstinenzlerin, um ihren Ehemann dazu zu bringen, daß er ihr seine Kneipenbesuche verheimlicht, und schreibt ihm dann mit verstellter Handschrift Briefe, in denen sie ihm androht, ihn an seine Frau zu verraten! Warum sollte das nicht funktionieren? Nehmen wir an, ein Vater verbietet seinem Sohn das Glücksspiel, folgt ihm dann in guter Verkleidung und bedroht den Jungen schließlich mit seiner eigenen vorgetäuschten väterlichen Strenge! Nehmen wir an – aber da sind wir schon, mein Freund.«

»Mein Gott!« rief Flambeau; »Sie meinen doch nicht etwa – «

Eine lebhafte Gestalt sprang die Stufen des Hauses herab und ließ im goldenen Laternenlicht den unverkennbaren Kopf erkennen, der der römischen Münze glich. »Miss Carstairs«, sagte Hawker formlos, »wollte das Haus nicht eher betreten, bis Sie kämen.«

»Nun«, bemerkte Brown vertraulich, »meinen Sie nicht, daß war das Beste, was sie tun konnte, draußen zu warten – mit Ihnen als Beschützer? Wie Sie sehen, habe ich erraten, daß Sie selbst auch alles erraten haben.«

»Ja«, sagte der junge Mann leise, »ich habe es auf den Sänden erraten, und jetzt weiß ich es; deshalb habe ich ihn so sanft stürzen lassen.«

Flambeau nahm von dem Mädchen den Schlüssel und von Hawker die Münze entgegen, öffnete sich und seinem Freund das leere Haus, und schritt in den äußeren Salon. Er war menschenleer mit einer Ausnahme. Der Mann, den Father Brown an der Taverne hatte vorübergehen sehen, stand an der Wand wie in die Ecke getrieben; unverändert, abgesehen davon, daß er seinen schwarzen Mantel abgelegt hatte und nun einen braunen Morgenmantel trug.

»Wir sind gekommen«, sagte Father Brown höflich, »um diese Münze ihrem Besitzer zurückzugeben.« Und er übergab sie dem Mann mit der Nase.

Flambeaus Augen traten hervor. »Ist dieser Mann ein Münzsammler?« fragte er.

»Dieser Mann ist Arthur Carstairs«, sagte der Priester bestimmt, »und er ist ein Münzsammler von eigentümlicher Art.«

Der Mann wechselte so entsetzlich die Farbe, daß die krumme Nase aus seinem Gesicht wie ein selbständiges und komisches Ding herausragte. Er sprach dennoch mit einer Art von verzweifelter Würde. »Sie werden gleich sehen«, sagte er, »daß ich noch nicht alle Familieneigenschaften verloren habe.« Und er wandte sich plötzlich um, ging in eines der inneren Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

»Haltet ihn auf!« schrie Father Brown, der lossprang und fast über einen Stuhl stürzte; und Flambeau hatte nach ein oder zwei Anläufen die Tür auf. Aber es war zu spät, in tödlichem Schweigen ging Flambeau zum Telephon und rief Arzt und Polizei an.

Eine leere Arzneiflasche lag auf dem Boden. Über dem Tisch lag die Leiche des Mannes im braunen Morgenmantel inmitten seiner geplatzten und aufklaffenden braunen Päckchen, aus denen Münzen strömten und rollten, keine römischen, sondern sehr moderne englische.

Der Priester hielt den bronzenen Kopf Caesars hoch. »Dies«, sagte er, »ist alles, was von der Carstairs-Sammlung übriggeblieben ist…«

Und nach einer Pause fuhr er mit mehr als gewöhnlichem Zartgefühl fort: »Es war ein grausames Testament, das sein bösartiger Vater verfaßte, und der Sohn nahm es, wie Sie sehen, einigermaßen übel auf. Er haßte das römische Geld, das er besaß, und sehnte sich immer mehr nach wirklichem Geld, das ihm verweigert war. Er verkaufte nicht nur Stück für Stück die Sammlung, sondern sank Stück für Stück auf die gemeinsten Arten des Geldmachens hinab – bis hin zur Erpressung seiner eigenen Familie in Verkleidung. Er erpreßte seinen Bruder aus Australien mit dessen kleinem vergessenen Vergehen (deshalb nahm er eine Droschke nach Wagga Wagga in Putney), er erpreßte seine Schwester mit dem Diebstahl, den er allein bemerkt haben konnte. Und deshalb hatte sie übrigens jene übernatürliche Empfindung, als er weit weg in den Sanddünen stand. Gestalt und Haltung erinnern uns, wie entfernt auch immer, viel eher an jemanden, als ein gut zurechtgemachtes Gesicht aus der Nähe.«

Wiederum herrschte Schweigen. »Nun gut«, knurrte der Detektiv, »dann war also dieser große Numismatiker und Münzsammler nichts anderes als ein elender Geizhals.«

»Ist da ein so großer Unterschied?« fragte Father Brown in dem selben sonderbaren, nachsichtigen Ton. »Was ist an einem Geizhals falsch, das nicht oftmals ebenso falsch an einem Sammler ist? Was ist da falsch, außer… Du sollst dir kein geschnitztes Bildnis machen; du sollst dich nicht vor ihm verneigen und ihm dienen, denn Ich… aber wir müssen gehen und nachsehen, wie es den armen jungen Leuten geht.«

»Ich glaube«, sagte Flambeau, »daß es ihnen trotz allem vermutlich ziemlich gut geht.«