Das Duell des Dr. Hirsch

 

Monsieur Maurice Brun und Monsieur Armand Armagnac querten die sonnenbeschienenen Champs Elysées in einer Art lebhafter Ehrbarkeit. Sie waren beide kurz, kräftig und kühn. Sie trugen beide schwarze Bärte, die aber nicht zu ihren Gesichtern zu gehören schienen dank der sonderbaren französischen Mode, die echtes Haar wie falsches aussehen läßt. Monsieur Brun trug ein dunkles keilförmiges Bärtchen, das ihm offenbar an die Unterlippe geklebt war. Monsieur Armagnac trug zur Abwechslung zwei Bärte; je einer sproß an den beiden Ecken seines energischen Kinns hervor. Beide waren jung. Beide waren Atheisten, mit deprimierend festgelegten Ansichten, aber höchst beweglich in ihrer Darlegung. Beide waren Schüler des großen Dr. Hirsch, Wissenschaftler, Publizist, Moralist.

Monsieur Brun war berühmt geworden durch seinen Vorschlag, aus allen französischen Klassikern das geläufige Wort »Adieu« zu streichen, und eine leichte Geldstrafe für seine Verwendung im Privatleben zu verhängen. »Dann«, sagte er, »wird selbst der Name eures eingebildeten Gottes zum letzten Male im Ohr der Menschheit erklungen sein.« Monsieur Armagnac spezialisierte sich hingegen mehr auf einen Widerstand gegen den Militarismus und wünschte den Refrain der Marseillaise geändert von »Zu den Waffen, Bürger« in »Auf zum Streike, Bürger«. Doch war sein Antimilitarismus ausgesprochen eigenartig und gallisch. Ein hervorragender und äußerst reicher englischer Quaker, der ihn besuchte, um mit ihm die Entwaffnung des ganzen Planeten zu planen, ward von Armagnacs Vorschlag recht gepeinigt, man solle (als Anfang) die Soldaten ihre Offiziere erschießen lassen.

Und tatsächlich unterschieden sich beide Männer in dieser Hinsicht am meisten von ihrem Führer und Vater in der Philosophie. Dr. Hirsch war, obwohl in Frankreich geboren und mit den triumphalsten Segnungen der französischen Erziehung ausgestattet, von ganz anderem Temperament – sanft, träumerisch, menschlich; und trotz seines skeptischen Denksystems nicht ohne Sinn fürs Transzendentale. Um es kurz zu machen, er ähnelte mehr einem Deutschen als einem Franzosen; und so sehr sie ihn auch bewunderten, etwas im Unterbewußtsein dieser Gallier wurde durch seine so friedfertige Weise, sich für den Frieden einzusetzen, gereizt. Den Friedensfreunden in ganz Europa aber galt Paul Hirsch als ein Heiliger der Wissenschaft. Seine umfassenden und kühnen kosmischen Theorien bezeugten sein strenges Leben und seine unschuldige, wenn auch etwas frostige Moralität; er vertrat so etwas wie die Position Darwins, verdoppelt um die Position Tolstois. Doch war er weder anarchistisch noch antipatriotisch; seine Ansichten über die Abrüstung waren gemäßigt und evolutionär – die republikanische Regierung setzte hinsichtlich bestimmter chemischer Verbesserungen beträchtliches Vertrauen in ihn. Jüngst hatte er sogar einen geräuschlosen Sprengstoff entdeckt, dessen Geheimnis die Regierung sorgfältig hütete.

Sein Haus stand in einer hübschen Straße nahe dem Elysée – in einer Straße, die in jenem heißen Sommer fast so belaubt erschien wie dessen Park selbst; eine Reihe von Kastanienbäumen zerbrach den Sonnenschein und wurde nur an einer Stelle unterbrochen, wo ein großes Café sich bis an die Straße heranschob. Ihm fast gegenüber befanden sich die weiß-grünen Sonnenblenden am Haus des großen Wissenschaftlers, an dem ein ebenfalls grüngestrichener schmiedeeiserner Balkon vor den Fenstern des ersten Stockwerks entlanglief. Darunter befand sich der Eingang in eine Art von Innenhof, geschmückt durch Sträucher und Fliesen, in den die beiden Franzosen in lebhaftem Gespräch einbogen.

Die Tür ward ihnen von Simon, des Doktors altem Diener, geöffnet, der selbst sehr wohl für einen Doktor hätte angesehen werden können mit seinem strengen schwarzen Anzug, der Brille, dem grauen Haar und der vertrauenerweckenden Umgangsweise. Er gab in der Tat einen sehr viel ansehnlicheren Mann der Wissenschaft ab als sein Herr, Dr. Hirsch, der wie ein gegabelter Rettich aussah und dessen mächtiger Schädel den Körper bedeutungslos erscheinen ließ. Mit all der Würde eines bedeutenden Arztes im Umgang mit einem Rezept händigte Simon Monsieur Armagnac einen Brief aus. Dieser Ehrenmann riß ihn mit der seiner Rasse eigentümlichen Ungeduld auf und las rasch das Folgende:

 

»Ich kann jetzt nicht hinabkommen, um mit Ihnen zu reden. Im Haus befindet sich ein Mann, den zu sprechen ich mich weigere. Er ist ein chauvinistischer Offizier namens Dubosc. Er sitzt auf den Treppenstufen. Er hat in all den anderen Zimmern die Möbel herumgeschmissen; ich habe mich in meinem Arbeitszimmer gegenüber dem Café eingeschlossen. Wenn Sie mich lieben, gehen Sie hinüber ins Café und warten an einem der Tische draußen. Ich will versuchen, ihn zu Ihnen hinüberzuschicken. Ich möchte, daß Sie ihm antworten und mit ihm sprechen. Ich kann ihn nicht selbst treffen. Ich kann nicht: ich will nicht. Es wird einen neuen Fall Dreyfus geben.

P. HIRSCH«

 

Monsieur Armagnac sah Monsieur Brun an. Monsieur Brun nahm sich den Brief, las ihn und sah Monsieur Armagnac an. Dann begaben sich beide rasch zu einem der kleinen Tische unter den Kastanien gegenüber, wo sie sich zwei große Gläser scheußlich grünen Absinths bestellten, den sie offenbar bei jedem Wetter und zu jeglicher Zeit trinken konnten. Im übrigen erschien das Café leer, mit Ausnahme eines Soldaten, der an einem der Tische einen Kaffee trank, und, an einem anderen Tisch, eines großen Mannes, der einen kleinen Aperitif trank, und eines Priesters, der nichts trank.

Maurice Brun räusperte sich und sagte: »Natürlich müssen wir dem Meister in jeder Weise behilflich sein, aber – «

Dann herrschte jäh Schweigen, bis Armagnac sagte: »Er mag ja ganz ausgezeichnete Gründe dafür haben, den Mann nicht selbst treffen zu wollen, aber – «

Bevor noch einer von ihnen seinen Satz beenden konnte, wurde offenkundig, daß der Eindringling aus dem gegenüberstehenden Haus herausgeworfen worden war. Das Gebüsch unter der Toreinfahrt bebte und barst auseinander, als jener unwillkommene Besucher wie eine Kanonenkugel herausschoß.

Es war eine handfeste Gestalt mit einem kleinen kecken Tirolerhut, eine Gestalt, die in der Tat etwas allgemein Tirolerisches an sich hatte. Die Schultern des Mannes waren mächtig und breit, aber seine Beine waren schlank und beweglich in Bundhosen und Strickstrümpfen. Sein Gesicht war nußbraun; er hatte sehr helle und unruhige braune Augen; sein dunkles Haar war vorne streng zurückgebürstet und hinten kurz geschnitten und ließ einen quadratischen mächtigen Schädel erkennen; und er hatte einen riesigen schwarzen Schnurrbart wie das Gehörn eines Wisents. So ein mächtiges Haupt sitzt normalerweise auf einem Stiernacken; aber dieser hier war von einem großen bunten Schal verhüllt, der sich bis zu des Mannes Ohren schlang und vorne in seiner Jacke stak wie eine Art farbenfroher Weste. Es war ein Schal von starken stumpfen Farben, Dunkelrot und Altgold und Purpur, vermutlich ein orientalisches Gewebe. Insgesamt war um den Mann ein Hauch Barbarisches; eher ein ungarischer Landedelmann als ein gewöhnlicher französischer Offizier. Sein Französisch jedoch war offenkundig das eines Eingeborenen; und sein französischer Patriotismus war so impulsiv, daß es ans Absurde grenzte. Nachdem er aus dem Torweg herausgeflogen kam, rief er als erstes mit Stentorstimme die Straße hinab: »Gibt es hier Franzosen?«, als riefe er in Mekka nach Christen.

Armagnac und Brun erhoben sich sofort; aber sie waren schon zu spät. Von den Straßenecken rannten bereits Männer herbei; es bildete sich eine kleine, aber ständig dichter werdende Menge. Mit dem untrüglichen Instinkt des Franzosen für die Politik der Straße war der Mann mit dem schwarzen Schnurrbart bereits zu einer Ecke des Cafés gerannt, auf einen der Tische gesprungen und schrie, während er sich an einem Kastanienast festhielt, wie einst Camille Desmoulins schrie, als er Eichenlaub unter das Volk streute.

»Franzosen!« donnerte er. »Ich kann nicht reden! Gott steh’ mir bei, und deshalb rede ich! Die Kerle in ihren lausigen Parlamenten, die gelernt haben zu reden, haben auch gelernt zu schweigen – zu schweigen wie jener Spion, der da drüben in seinem Haus kauert! Zu schweigen wie er, als ich gegen seine Schlafzimmertür schlug! Zu schweigen wie er eben jetzt, obwohl er meine Stimme über die Straße hinweg hört und erbebt, wo er auch sitzen mag! Oh, sie können beredt schweigen – die Politiker! Aber die Zeit ist gekommen, da wir, die wir nicht reden können, reden müssen. Ihr seid an die Preußen verraten. Verraten in diesem Augenblick. Verraten durch jenen Mann. Ich bin Jules Dubosc, Oberst der Artillerie, Belfort. Wir haben gestern in den Vogesen einen deutschen Spion gefangengenommen und bei ihm ein Papier gefunden – ein Papier, das ich hier in der Hand halte. Oh, sie haben versucht, die Sache zu vertuschen; aber ich bin mit ihm direkt zu dem Mann gegangen, der es geschrieben hat – zu dem Mann in jenem Haus! Es ist in seiner Handschrift. Es ist mit seinen Initialen gezeichnet. Es ist eine Anweisung, wo man das Geheimnis dieses neuen geräuschlosen Sprengstoffs findet. Hirsch hat ihn erfunden; Hirsch hat diese Notiz darüber geschrieben. Diese Notiz ist in deutsch verfaßt, und sie wurde in der Tasche eines Deutschen gefunden. ›Sagen Sie dem Mann, die Formel für Sprengstoff ist im grauen Umschlag in der ersten Schublade links vom Schreibtisch des Kriegsministers, mit roter Tinte. Er muß vorsichtig sein. P.H.‹«

Er rasselte die kurzen Sätze wie ein Maschinengewehr heraus, aber er war offensichtlich von jener Art Mann, die entweder verrückt ist oder recht hat. Die Masse der Menge war Nationalisten und bereits in bedrohlichem Aufruhr; und eine Minderheit gleichermaßen zorniger Intellektueller, angeführt von Armagnac und Brun, machte die Mehrheit nur noch militanter.

»Wenn das ein militärisches Geheimnis ist«, brüllte Brun, »warum schreien Sie es dann in den Straßen aus?«

»Das will ich Ihnen sagen!« brüllte Dubosc über die brüllende Menge hinweg. »Ich bin offen und höflich zu diesem Mann gegangen. Falls er irgendeine Erklärung hätte, sollte er sie in vollständiger Vertraulichkeit geben können. Er verweigert jede Erklärung. Er verweist mich an zwei Fremde in einem Café wie an zwei Lakaien. Er hat mich aus dem Haus geworfen, aber ich werde wieder hineingehen, mit dem Volk von Paris hinter mir!«

Ein Aufschrei schien die Fassade des Häuserblocks zu erschüttern, und zwei Steine flogen, deren einer eine Scheibe über dem Balkon zerbrach. Der aufgebrachte Oberst stürzte sich erneut durch den Torweg, und man hörte ihn drinnen brüllen und donnern. Jeden Augenblick schwoll die menschliche See weiter und weiter an; sie brandete gegen die Geländer und Treppen am Haus des Verräters; es erschien bereits gewiß, daß man das Haus stürmen werde wie einst die Bastille, als sich die zerbrochene Glastüre öffnete und Dr. Hirsch auf den Balkon heraustrat. Für einen Augenblick wandelte sich der Zorn halb in Gelächter; denn in einer solchen Szene bildete er eine absurde Erscheinung. Sein langer nackter Hals und die sackenden Schultern bildeten die Gestalt einer Champagnerflasche nach, aber das war auch das einzig Festliche an ihm. Seine Jacke hing an ihm wie an einem Kleiderhaken; er trug sein karottenrotes Haar lang und ungepflegt; Wangen und Kinn waren von einem jener beunruhigenden Bärte umwuchert, die fern vom Munde wachsen. Er war sehr bleich, und er trug blaue Gläser.

Fahl wie er war, sprach er doch mit so fester Entschlossenheit, daß der Pöbel zur Mitte seines dritten Satzes hin ruhig war:

»…euch jetzt nur zwei Dinge zu sagen. Das erste gilt meinen Feinden, das zweite meinen Freunden. Meinen Feinden sage ich: Es stimmt, daß ich Monsieur Dubosc nicht treffen will, obwohl er gegenwärtig vor diesem Zimmer hier herumtobt. Es stimmt, daß ich zwei andere Herren gebeten habe, sich an meiner Stelle mit ihm zu treffen. Und ich will euch sagen warum! Weil ich ihn nicht sehen will und nicht sehen darf – denn ihn zu sehen wäre gegen alle Regeln der Würde und der Ehre. Bevor ich aber durch einen Gerichtshof im Triumph von allen Anwürfen gereinigt werde, schuldet dieser Ehrenmann mir als Ehrenmann eine andere Art der Genugtuung, und wenn ich ihn an meine Sekundanten verweise, so folge ich genauestens – «

Armagnac und Brun schwenkten wild ihre Hüte, und selbst die Gegner des Doktors brüllten dieser unerwarteten Herausforderung Beifall. Wieder waren einige Sätze unhörbar, aber dann konnte man ihn sagen hören: »…meinen Freunden – ich selbst würde immer rein geistige Waffen vorziehen, und eine entwickelte Menschheit wird sich eines Tages sicherlich auf sie beschränken. Nun ist aber unsere wertvollste Wahrheit die Grundmacht von Materie und Vererbung. Meine Bücher sind erfolgreich; meine Theorien sind unwiderlegt; aber in der Politik leide ich unter einem geradezu physischen Vorurteil der Franzosen. Ich kann nicht reden wie Clemenceau und Déroulède, denn ihre Worte sind wie der Widerhall ihrer Pistolen. Die Franzosen gieren nach Duellanten wie die Engländer nach Sportlern. Nun gut, ich will die Probe aufs Exempel ablegen: Ich werde diese barbarische Bestechung bezahlen und dann für den Rest meines Lebens zur Vernunft zurückkehren.«

Sofort fanden sich in der Menge selbst zwei Männer, die Oberst Dubosc ihre Dienste anboten, der kurz darauf befriedigt herauskam. Der eine war der gemeine Soldat mit dem Kaffee, der einfach sagte: »Ich stehe zu Ihrer Verfügung, mein Herr. Ich bin der Herzog de Valognes.« Der andere war der große Mann, den sein Freund der Priester zunächst davon abzubringen suchte, ehe er dann allein von dannen schritt.

Am frühen Abend wurde hinten im Café Charlemagne ein leichtes Abendessen aufgetragen. Obwohl nicht überdacht durch Glas oder vergoldeten Stuck, befanden sich fast alle Gäste unter einem zarten unregelmäßigen Dach aus Laub; denn die dekorativen Bäume standen so dicht um die Tische und zwischen ihnen, daß sie den Dämmer wie den Schimmer eines lauschigen Haines verbreiteten. An einem der Mitteltische saß ein sehr stämmiger kleiner Priester in vollständiger Einsamkeit und widmete sich mit der feierlichsten Genüßlichkeit einem Turm gebratener Brätlinge. Da sein Alltagsleben sehr einfach war, hatte er einen besonderen Geschmack für plötzliche und ausgefallene Genüsse; er war ein enthaltsamer Epikureer. Er hob den Blick nicht von seinem Teller, um den in strenger Ordnung roter Pfeffer, Zitronen, Schwarzbrot, Butter etc. aufgereiht standen, bis ein großer Schatten über den Tisch fiel und sein Freund Flambeau sich ihm gegenüber niederließ. Flambeau war düster.

»Ich fürchte, daß ich mich aus diesem Geschäft zurückziehen muß«, sagte er schwer. »Ich bin ganz auf Seiten der französischen Soldaten wie Dubosc, und ich bin ganz gegen die französischen Atheisten wie Hirsch; aber mir scheint, daß wir in diesem Fall einen Fehler begangen haben. Der Herzog und ich fanden es für angebracht, die Anklage zu untersuchen, und ich muß sagen, ich bin froh darüber.«

»Dann ist das Papier also eine Fälschung?« fragte der Priester.

»Das ist gerade das Verrückte«, erwiderte Flambeau. »Es ist absolut Hirschs Handschrift, und niemand kann darin den kleinsten Fehler finden. Aber es ist nicht von Hirsch geschrieben worden. Wenn er ein französischer Patriot ist, hat er es nicht geschrieben, weil es Deutschland Informationen übermittelt. Und wenn er ein deutscher Spion ist, hat er es nicht geschrieben, nun ja – weil es Deutschland keine Informationen gibt.«

»Sie meinen, die Information ist falsch?« fragte Father Brown.

»Falsch«, erwiderte der andere, »und genau da falsch, wo Dr. Hirsch richtig gewesen wäre – im Hinblick auf das Versteck seiner eigenen Geheimformel in seinem eigenen Dienstbüro. Mit Genehmigung von Hirsch und den Behörden haben der Herzog und ich die Erlaubnis erhalten, die Geheimschublade im Kriegsministerium zu untersuchen, in der Hirschs Formel verwahrt wird. Wir sind die einzigen, die sie außer dem Erfinder und dem Kriegsminister gesehen haben; aber der Minister erlaubte es, um Hirsch das Duell zu ersparen. Und jetzt können wir Dubosc wirklich nicht mehr unterstützen, falls seine Enthüllungen Schwindel sind.«

»Sind sie das denn?« fragte Father Brown.

»Sie sind es«, sagte sein Freund düster. »Es ist eine ungeschickte Fälschung durch jemanden, der vom richtigen Versteck nichts weiß. Sie behauptet, das Papier sei in dem Aktenschrank rechts vom Schreibtisch des Ministers. Tatsächlich steht der Aktenschrank mit der Geheimschublade ein Stück links vom Schreibtisch. Sie behauptet, der graue Umschlag enthalte ein langes Dokument, das mit roter Tinte geschrieben sei. Es ist nicht mit roter Tinte geschrieben, sondern mit einfacher schwarzer. Es ist offenkundig absurd zu behaupten, daß Hirsch sich über ein Papier geirrt haben kann, das niemand außer ihm selbst kennt; oder versucht hat, einem ausländischen Dieb zu helfen, indem er ihn anweist, in der falschen Schublade zu suchen. Ich glaube, wir müssen die Sache aufgeben und uns beim alten Rotkopf entschuldigen.«

Father Brown schien nachzudenken; er schob einen kleinen Brätling auf die Gabel. »Sie sind sicher, daß der graue Umschlag sich im linken Aktenschrank befand?« fragte er.

»Absolut«, erwiderte Flambeau. »Der graue Umschlag – es war in Wirklichkeit ein weißer – befand – «

Father Brown legte den kleinen silbernen Fisch und die Gabel nieder und starrte seinen Gefährten über den Tisch hinweg an. »Was?« fragte er mit veränderter Stimme.

»Wie, was?« wiederholte Flambeau und aß herzhaft.

»Er war nicht grau«, sagte der Priester. »Flambeau, Sie machen mir Angst.«

»Was zum Teufel macht Ihnen denn Angst?«

»Ein weißer Umschlag macht mir Angst«, sagte der andere ernsthaft. »Wenn er doch nur grau gewesen wäre! Zum Henker, er könnte doch ebensogut grau gewesen sein. Aber wenn er weiß war, ist das ganze Geschäft schwarz. Der Doktor hat also doch wieder im alten Höllenschwefel herumgestochert.«

»Aber ich sag Ihnen doch, daß er eine solche Notiz niemals hätte schreiben können!« rief Flambeau. »Die Notiz ist vollständig falsch im Hinblick auf alle Fakten. Und ob nun unschuldig oder schuldig, Dr. Hirsch weiß alles über die Fakten.«

»Der Mann, der diese Notiz geschrieben hat, wußte alles über die Fakten«, sagte sein kirchlicher Freund nüchtern. »Er könnte sie niemals alle so falsch hingekriegt haben, wenn er nicht alles über sie wüßte. Man muß eine ganze Menge wissen, um in jeder Einzelheit falsch zu sein – wie der Teufel.«

»Sie meinen –?«

»Ich meine, daß ein Mann, der Zufallslügen erzählt, zufällig auch Stückchen der Wahrheit erzählt hätte«, sagte sein Freund fest. »Stellen Sie sich vor, jemand beauftragt Sie, ein Haus zu suchen mit grüner Tür und blauer Blende, mit Vorgarten, aber keinem Hintergarten, mit einem Hund aber keiner Katze, und wo man Kaffee trinkt, aber keinen Tee. Nun würden Sie sagen, wenn Sie ein solches Haus nicht fänden, wäre alles erfunden. Aber da sage ich nein. Ich sage, wenn Sie ein Haus fänden mit blauer Tür und grüner Blende, mit einem Hintergarten und keinem Vorgarten, wo Katzen üblich sind und Hunde sofort erschossen werden, wo man Tee literweise trinkt und Kaffee verboten ist – dann hätten Sie das Haus gefunden. Der Mann muß dieses bestimmte Haus genau gekannt haben, um so genau ungenau zu sein.«

»Aber was soll das denn bedeuten?« fragte sein Tischgefährte.

»Ich kann es mir nicht vorstellen«, sagte Brown; »ich verstehe diese ganze Hirsch-Angelegenheit überhaupt nicht. Solange es sich nur um die linke Schublade statt um die rechte handelte, und um rote Tinte statt um schwarze, so lange dachte ich, es könne sich um einen Zufallsirrtum eines Fälschers handeln, wie Sie sagten. Aber drei ist eine mystische Zahl; sie setzt Dingen ein Ende. Sie setzt diesem ein Ende. Daß die Angaben zur Schublade, zur Farbe der Tinte, zur Farbe des Umschlags alle durch Zufall falsch sein sollten, kann kein Zufall sein. Ist keiner.«

»Was ist es denn dann? Verrat?« fragte Flambeau und wandte sich wieder seiner Mahlzeit zu.

»Das weiß ich auch nicht«, antwortete Brown mit einem Ausdruck der völligen Verwirrung. »Das einzige, woran ich denken kann… Naja, ich habe die Dreyfus-Angelegenheit nie verstanden. Ich kann moralische Beweise immer leichter begreifen als andere. Ich richte mich nach den Augen eines Mannes und nach seiner Stimme, wissen Sie, und danach, ob seine Familie glücklich erscheint, und welche Themen er wählt – und welche er meidet. Na gut, in der Dreyfus-Sache war ich verwirrt. Nicht wegen der schrecklichen Dinge, die man sich gegenseitig anlastete; ich weiß (obwohl es nicht mehr zeitgemäß ist, das zu sagen), daß die menschliche Natur auch an höchster Stelle fähig bleibt, Cenci oder Borgia zu sein. Nein; was mich verwirrte, war die Ehrlichkeit beider Seiten. Damit meine ich nicht die politischen Parteien; die große Masse ist immer einigermaßen ehrlich und oft hintergangen. Ich meine die Personen im Spiel. Ich meine die Verschwörer, wenn es Verschwörer waren. Ich meine den Verräter, wenn er Verräter war. Ich meine die Männer, die die Wahrheit gewußt haben müssen. Aber Dreyfus verhielt sich wie ein Mann, der wußte, daß ihm Unrecht geschah. Und dennoch verhielten sich die französischen Staatsmänner und Offiziere, als ob sie wüßten, daß ihm kein Unrecht geschah, sondern daß er Unrecht getan hatte. Ich meine nicht, daß sie sich richtig verhalten haben; ich meine, sie verhielten sich, als seien sie sicher. Ich kann diese Dinge nicht beschreiben; ich weiß, was ich meine.«

»Ich wollte, ich auch«, sagte sein Freund. »Und was hat das mit dem alten Hirsch zu tun?«

»Stellen Sie sich vor, ein Mann in einer Vertrauensstellung«, fuhr der Priester fort, »begann dem Feind Informationen zuzuspielen, weil es falsche Informationen waren. Stellen Sie sich vor, er selbst glaubte, daß er sein Land rette, indem er den Feind in die Irre führte. Stellen Sie sich vor, das brachte ihn mit Spionagekreisen in Berührung, und ihm wurden kleine Geldgeschenke gemacht, und nach und nach wurde er mit kleinen Banden gebunden. Stellen Sie sich vor, er hielt diese zwiespältige Haltung in einer wirren Weise bei, indem er den ausländischen Spionen niemals die Wahrheit sagte, sie die aber mehr und mehr erraten ließ. Sein besseres Ich (was davon noch übrig war) sagte sich immer noch: ›Ich habe dem Feind nicht geholfen; ich habe gesagt, es war die linke Schublade.‹ Aber sein schlechteres Ich würde bereits feststellen: ›Aber vielleicht ist er klug genug zu begreifen, daß ich die rechte gemeint habe.‹ Das halte ich jedenfalls psychologisch für möglich – in einer aufgeklärten Zeit, wissen Sie.«

»Es mag psychologisch möglich sein«, antwortete Flambeau, »und es würde sicherlich erklären, warum Dreyfus sicher war, daß ihm Unrecht geschah, und warum seine Richter sicher waren, daß er schuldig war. Aber historisch gesehen geht das nicht, denn Dreyfus’ Dokument (wenn es sein Dokument war) war buchstäblich korrekt.«

»Ich dachte nicht an Dreyfus«, sagte Father Brown.

Stille war um sie herum mit dem Leerwerden der Tische herabgesunken; es war schon spät, obwohl das Sonnenlicht sich noch überall hielt, als ob es sich zufällig in den Bäumen verhakt hätte. In diese Stille hinein verschob Flambeau scharf seinen Stuhl – wodurch ein einsames und widerhallendes Geräusch entstand – und warf den Arm über die Lehne. »Nun«, sagte er ziemlich harsch, »wenn Hirsch nicht besser ist als ein feiger Verratskrämer mit Nachrichten…«

»Sie dürfen nicht zu hart über sie urteilen«, sagte Father Brown sanft. »Es ist nicht nur ihre Schuld; aber sie haben keinen Instinkt. Damit meine ich die Dinge, die eine Frau dazu veranlassen, mit einem Mann nicht zu tanzen, oder einen Mann, irgendwo nicht zu investieren. Man hat sie gelehrt, daß es immer auf das Maß ankomme.«

»Jedenfalls«, rief Flambeau ungeduldig, »ist er gar nicht zu vergleichen mit meinem Duellanten; und deshalb werde ich das zu Ende bringen. Der alte Dubosc mag ein bißchen verrückt sein, aber schließlich ist er doch immerhin ein Patriot.«

Father Brown fuhr fort, Brätlinge zu verspeisen.

Irgend etwas in der gleichmütigen Art, in der er das tat, veranlaßte Flambeaus wilde schwarze Augen, seinen Gefährten erneut zu betrachten. »Was ist mit Ihnen los?« fragte Flambeau. »In der Beziehung ist Dubosc schon in Ordnung. Oder zweifeln Sie an ihm?«

»Mein Freund«, sagte der kleine Priester und legte Messer und Gabel in einer Art kalter Verzweiflung nieder, »ich zweifle an allem. An allem, meine ich, das sich heute ereignet hat. Ich zweifle an der ganzen Geschichte, obwohl sie sich vor meinen Augen abgespielt hat. Ich zweifle an jedem Anblick, den meine Augen seit heute morgen gehabt haben. Irgendwas an dieser Sache ist völlig anders als das übliche Polizeirätsel, in dem der eine Mann mehr mehr oder weniger lügt und der andere Mann mehr oder weniger die Wahrheit sagt. Hier sind es beide Männer, die… Na schön! Ich habe Ihnen die einzige Theorie erzählt, die ich mir ausdenken kann und die jedermann befriedigen könnte. Mich befriedigt sie nicht.«

»Mich auch nicht«, erwiderte Flambeau stirnrunzelnd, während der andere weiter Fisch aß mit dem Ausdruck der vollkommenen Resignation. »Wenn Ihre ganzen Überlegungen auf die Vorstellung einer Botschaft hinauslaufen, die durch Widersprüche übermittelt wird, dann nenne ich das ungewöhnlich schlau, aber… na ja, wie würden Sie das nennen?«

»Ich würde es fadenscheinig nennen«, sagte der Priester prompt. »Ich würde es ungewöhnlich fadenscheinig nennen. Aber das ist ja das Sonderbare an der ganzen Geschichte. Das ist wie die Lüge eines Schuljungen. Wir haben lediglich drei Versionen, die von Dubosc und die von Hirsch und meine Hirngespinste. Entweder wurde diese Notiz von einem französischen Offizier geschrieben, um einen französischen Beamten zu vernichten; oder sie wurde von dem französischen Beamten geschrieben, um den deutschen Offizieren zu helfen; oder sie wurde von dem französischen Beamten geschrieben, um die deutschen Offiziere in die Irre zu führen. Na schön. Nun würde man aber erwarten, daß ein Geheimpapier zwischen solchen Leuten, Beamten oder Offizieren, ganz anders aussieht. Man würde vielleicht einen Geheimcode erwarten, sicherlich Abkürzungen; ganz sicherlich wissenschaftliche und höchst professionelle Bezeichnungen. Aber dieses Ding ist ausgeklügelt simpel, wie ein Groschenroman: ›In der purpurnen Grotte findest du das goldene Kästchen.‹ Sieht so aus, als ob… als ob es auf den ersten Blick durchschaut werden sollte.«

Fast noch ehe sie sie wahrnehmen konnten, war eine kleine Gestalt in französischer Uniform wie der Wind zu ihrem Tisch herangelaufen und ließ sich mit einer Art Plumps nieder.

»Ich habe außerordentliche Neuigkeiten«, sagte der Herzog de Valognes. »Ich komme gerade von diesem unserem Oberst. Er packt, um das Land zu verlassen, und er bittet uns, ihn sur le terrain zu entschuldigen.«

»Was?« schrie Flambeau in schrecklicher Ungläubigkeit – »entschuldigen?«

»Ja«, sagte der Herzog rauh; »dann und da – vor allen – sobald die Degen gezogen werden. Und Sie und ich haben das zu tun, während er das Land verläßt.«

»Aber was kann das bedeuten?« schrie Flambeau. »Er kann doch keine Angst vor diesem kleinen Hirsch haben! Verflucht!« schrie er in einer Art vernünftiger Wut. »Niemand kann vor Hirsch Angst haben!«

»Ich glaube, das ist irgendeine Verschwörung!« knurrte Valognes, »eine Verschwörung der Juden und der Freimaurer. Und das soll Hirsch Ruhm verschaffen…«

Father Browns Gesicht sah gewöhnlich aus, aber sonderbar zufrieden; es konnte vor Unverständnis strahlen wie vor Wissen. Aber es gab da immer ein Aufleuchten, wenn die Maske der Dummheit sank und die Maske der Weisheit an ihre Stelle kam; und Flambeau, der seinen Freund kannte, wußte, daß sein Freund plötzlich verstanden hatte. Brown sagte nichts, sondern beendete seine Fischplatte.

»Wo haben Sie unseren wertvollen Oberst zuletzt gesehen?« fragte Flambeau irritiert.

»Drüben im Hotel St. Louis beim Elysée, wohin wir mit ihm gefahren sind. Ich sagte Ihnen doch, er packt.«

»Glauben Sie, daß er immer noch da ist?« fragte Flambeau und blickte stirnrunzelnd den Tisch an.

»Ich glaube nicht, daß er schon weg ist«, erwiderte der Herzog; »er packt für eine lange Reise…«

»Nein«, sagte Father Brown einfach, stand aber plötzlich auf, »für eine sehr kurze Reise. Tatsächlich für eine der kürzesten überhaupt. Aber wenn wir uns ein Taxi nehmen, können wir noch rechtzeitig hinkommen.«

Darüber hinaus war nichts aus ihm herauszubringen, bis das Taxi um die Ecke vors Hotel St. Louis fegte, wo sie ausstiegen, und dann führte er die Gruppe in eine Seitengasse, die bereits im tiefen Schatten der sinkenden Dunkelheit lag. Einmal, als der Herzog ungeduldig fragte, ob Hirsch denn nun des Verrates schuldig sei oder nicht, antwortete er ziemlich geistesabwesend: »Nein; nur des Ehrgeizes – wie Caesar.« Dann fügte er etwas zusammenhanglos hinzu: »Er lebt ein sehr einsames Leben; er hat immer alles selbst tun müssen.«

»Na schön, wenn er ehrgeizig ist, dann sollte er jetzt zufrieden sein«, sagte Flambeau ziemlich bitter. »Ganz Paris wird ihm jetzt zujubeln, nachdem unser verfluchter Oberst den Schwanz eingekniffen hat.«

»Sprechen Sie nicht so laut«, sagte Father Brown und senkte die Stimme; »Ihr verfluchter Oberst ist direkt vor uns.«

Die beiden anderen fuhren zusammen und zogen sich tiefer in den Schatten der Mauer zurück, denn man konnte tatsächlich die stämmige Gestalt ihres entwichenen Duellanten erkennen, wie sie mit einer Reisetasche in jeder Hand im Zwielicht vor ihnen dahinschlurfte. Er sah fast genau so aus wie zu der Zeit, da sie ihn zum ersten Mal sahen, nur hatte er seine malerische Bergsteigerhose gegen normale Hosen getauscht. Es war ganz klar, daß er bereits aus dem Hotel geflohen war.

Die Gasse, durch die sie ihm folgten, war eine von jenen, die hinter dem Rücken der Dinge vorüberzulaufen scheinen und aussehen wie die falsche Seite einer Bühnendekoration. Eine farblose ununterbrochene Mauer erstreckte sich an der einen Seite, ab und zu von stumpffarbenen und schmutzfleckigen Türen unterbrochen, alle fest geschlossen und gesichtslos, abgesehen von einigen Kreidekritzeleien herumstreunender »gamins«. Wipfel von Bäumen, meist reichlich traurigen immergrünen, blickten in Abständen über die Mauer, und hinter ihnen konnte man vor der grauen und purpurnen Dämmerung die Rückseiten langer Terrassen hoher Pariser Häuser sehen, in Wirklichkeit ziemlich nahe, aber irgendwie sahen sie ebenso unzugänglich aus wie eine Kette marmorner Berge. Auf der anderen Seite der Gasse verliefen die hohen vergoldeten Gitter eines düsteren Parks.

Flambeau sah sich etwas beklommen um. »Wissen Sie«, sagte er, »irgendwas ist mit diesem Ort, das – «

»Hallo!« rief der Herzog scharf. »Der Kerl ist verschwunden. Verschwunden wie so ‘n verdammtes Gespenst!«

»Er hat einen Schlüssel«, erklärte ihr kirchlicher Freund. »Er ist nur durch eines dieser Gartentörchen eingetreten«, und noch während er sprach, hörten sie vor sich, wie sich eine der hölzernen Gartentüren mit einem Klicken schloß.

Flambeau trat auf die Tür zu, die sich ihm fast ins Gesicht hinein geschlossen hatte, und stand für einen Augenblick vor ihr, während er seinen Schnurrbart in wütender Neugier zerkaute. Dann warf er seine langen Arme empor, schwang sich daran wie ein Affe hoch und stand auf der Mauerkrone, seine riesige Gestalt dunkel vor dem purpurnen Himmel, wie eine der dunklen Baumkronen.

Der Herzog sah den Priester an. »Die Flucht von Dubosc ist ausgeklügelter, als wir gedacht haben«, sagte er; »aber ich vermute, daß er aus Frankreich fliehen will.«

»Er will aus allem fliehen«, antwortete Father Brown.

Valognes Augen leuchteten auf, aber seine Stimme wurde leise. »Sie meinen Selbstmord?« fragte er.

»Sie werden seinen Körper nicht finden«, erwiderte der andere.

Flambeau auf der Mauer oben stieß eine Art Schrei aus. »Mein Gott«, rief er auf französisch, »jetzt weiß ich, wo wir sind! Das ist die Straße hinter dem Haus, in dem der alte Hirsch wohnt. Ich habe immer geglaubt, ich könnte die Rückseite eines Hauses ebensogut erkennen wie die Rückseite eines Mannes.«

»Und Dubosc ist da reingegangen!« schrie der Herzog und klatschte sich auf die Schenkel. »Dann begegnen sie sich schließlich also doch!« Und mit plötzlicher gallischer Lebhaftigkeit sprang er auf die Mauer neben Flambeau und hockte da und strampelte tatsächlich vor Aufregung mit den Beinen. Der Priester allein blieb unten, und er lehnte an der Mauer mit dem Rücken zur Bühne all der Ereignisse, und blickte nachdenklich auf die Gatter des Parks und die im Zwielicht zwinkernden Bäume.

Der Herzog, wie aufgeregt auch immer, besaß die Instinkte des Aristokraten und wollte das Haus beobachten, aber es nicht ausspionieren ; Flambeau jedoch besaß die Instinkte eines Einbrechers (und Detektivs) und hatte sich bereits von der Mauer in die Gabelung eines üppigen Baumes geschwungen, von wo aus er ganz nahe an das einzige erleuchtete Fenster auf der Rückseite des hohen dunklen Hauses herankriechen konnte. Eine rote Jalousie war vor dem Licht herabgezogen worden, aber unordentlich, so daß sie an einer Seite aufklaffte, und indem er seinen Hals auf einem Ast riskierte, der so zuverlässig wie ein Zweig wirkte, konnte er gerade noch sehen, wie Oberst Dubosc in einem hell erleuchteten luxuriösen Schlafzimmer umherging. Wie nahe Flambeau aber auch dem Hause war, er konnte doch die Worte seiner Freunde an der Mauer hören, und er wiederholte sie leise.

»Ja, sie begegnen sich jetzt doch noch!«

»Sie werden sich niemals begegnen«, sagte Father Brown. »Hirsch hatte recht, als er sagte, in einer solchen Angelegenheit dürften sich die Kontrahenten nicht begegnen. Haben Sie nie die eigenartige psychologische Geschichte von Henry James gelesen, in der sich zwei Personen ständig durch Zufall verpassen, so daß sie schließlich beginnen, voreinander Angst zu empfinden und es für Schicksal halten? Hier ist das ähnlich, nur noch eigenartiger.«

»In Paris gibt es genug Leute, die sie von so morbiden Phantasien heilen werden«, sagte Valognes rachsüchtig. »Sie werden sich schon begegnen müssen, wenn wir sie fassen und zu fechten zwingen.«

»Sie werden sich selbst am Tag des Jüngsten Gerichts nicht begegnen«, sagte der Priester. »Und selbst wenn Gott der Allmächtige den Heroldsstab schwänge und Sankt Michael die Trompete zum Kreuzen der Schwerter bliese – selbst dann würde, wenn der eine bereitsteht, der andere nicht erscheinen.«

»Was sollen denn all diese mystischen Bemerkungen bedeuten?« rief der Herzog de Valognes ungeduldig. »Warum in aller Welt sollten sie sich nicht wie andere Leute begegnen?«

»Sie sind jeder das Gegenteil des anderen«, sagte Father Brown mit sonderbarem Lächeln. »Sie widersprechen einander. Sie schließen einander sozusagen aus.«

Er fuhr fort auf die dunkelnden Bäume gegenüber zu starren, aber Valognes fuhr auf einen unterdrückten Ausruf Flambeaus hin jäh mit dem Kopf herum. Dieser Detektiv hatte, während er in den erleuchteten Raum hineinspähte, eben noch gesehen, wie sich der Oberst nach ein oder zwei Schritten daran machte, den Rock abzulegen. Flambeaus erster Gedanke war, daß das jetzt wirklich nach einem Duell aussah; aber er ließ diesen Gedanken bald wieder zugunsten eines anderen fallen. Die mächtige Brust von Dubosc und seine breiten Schultern waren nichts anderes als eine kräftige Schicht Wattierung und wurden mit der Jacke abgelegt. In Hemd und Hose war er ein verhältnismäßig schlanker Gentleman, der durch das Schlafzimmer dem Badezimmer mit keinen grimmigeren Absichten zustrebte, als sich zu waschen. Er beugte sich über ein Becken, trocknete seine tropfenden Hände und sein Gesicht an einem Handtuch ab und wandte sich wieder um, so daß der helle Lampenschein auf sein Gesicht fiel. Die braune Haut war verschwunden, sein großer schwarzer Schnurrbart war verschwunden; er war glatt rasiert und sehr blaß. Nichts blieb von dem Oberst als seine hellen, falkengleichen braunen Augen. Unter der Mauer fuhr Father Brown in tiefem Nachdenken wie zu sich selbst fort:

»Es ist genau so, wie ich zu Flambeau gesagt habe. Diese Gegensätze tun es nicht. Sie funktionieren nicht. Sie kämpfen nicht. Wenn es weiß statt schwarz ist, und fest statt flüssig, und so immer wieder und in allem – dann ist da was falsch, Monsieur, dann ist da was falsch. Einer dieser Männer ist blond und der andere dunkel, einer stämmig und der andere schlank, einer stark und der andere schwach. Der eine hat einen Schnurrbart und keinen Bart, so daß man seinen Mund nicht sehen kann; der andere hat einen Bart und keinen Schnurrbart, so daß man sein Kinn nicht sehen kann. Der eine hat sein Haar bis auf den Schädel kurz geschoren, aber einen Schal, um seinen Hals zu verbergen; der andere hat weiche Hemdenkragen, aber langes Haar, um seinen Schädel zu verbergen. Das alles ist zu sauber und zu korrekt, Monsieur, und da ist irgendwas falsch. Dinge, die so entgegengesetzt gemacht sind, sind Dinge, die nicht miteinander streiten können. Wo immer der eine herauskommt, verschwindet der andere. Wie Gesicht und Maske, wie Schloß und Schlüssel…«

Flambeau starrte in das Haus mit einem Gesicht so weiß wie ein Blatt Papier. Der Bewohner des Raumes stand mit dem Rücken zu ihm, aber mit dem Gesicht zu einem Spiegel, und er hatte sich inzwischen einen Kranz von üppigem rotem Haar ums Gesicht gelegt, das unordentlich vom Kopf herabhing und um Kiefer und Kinn ging, aber den spöttischen Mund unbedeckt ließ. So im Spiegel gesehen, sah das weiße Gesicht wie das Gesicht Judas’ aus, das schrecklich lachte und von den wabernden Flammen der Hölle umgeben war. Für einen Augenblick sah Flambeau die wilden rotbraunen Augen tanzen, dann wurden sie mit einem Paar blauer Brillengläser bedeckt. Und während sie sich eine lose schwarze Jacke überzog, verschwand die Gestalt zur Vorderseite des Hauses hin. Wenige Augenblicke später kündete donnernder Applaus von der jenseitigen Straße davon, daß Dr. Hirsch erneut auf dem Balkon erschienen war.