Der Geflügelte Dolch

 

Father Brown fiel es zu einer gewissen Zeit seines Lebens schwer, seinen Hut an einen Garderobehaken zu hängen, ohne ein leichtes Schaudern zu unterdrücken. Der Ursprung dieser Idiosynkrasie war freilich nur ein Detail sehr viel komplizierterer Ereignisse; aber es war vielleicht das einzige Detail, das ihm in seinem geschäftigen Leben verblieb, um ihn an die ganze Angelegenheit zu erinnern. Der ferne Ursprung ist in den Tatsachen zu finden, die Dr. Boyne, den Polizeiarzt, veranlaßten, an einem besonders frostkalten Dezembermorgen nach dem Priester zu schicken.

Dr. Boyne war ein großer dunkler Ire, einer jener ziemlich verblüffenden Iren, die man in der ganzen Welt finden kann und die des langen und breiten wissenschaftliche Skepsis, Materialismus und Zynismus vertreten, aber nicht einmal im Traume daran dächten, in Fragen, die religiöse Riten betreffen, etwas anderes als die traditionelle Religion ihres Vaterlandes heranzuziehen. Es wäre schwierig zu entscheiden, ob ihr Glaube ein sehr oberflächlicher Firnis ist oder ein sehr fundamentaler Untergrund; am wahrscheinlichsten ist er beides mit einer Menge Materialismus dazwischen. Wie dem auch sei: Als er zu der Ansicht kam, daß Fragen dieser Art auftauchen könnten, bat er Father Brown um seinen Besuch, obwohl er nicht den Anschein erweckte, als würde er in jenen Dingen diesem Aspekt den Vorzug geben.

»Wissen Sie, ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie dabeihaben will«, war seine Begrüßung. »Eigentlich bin ich mir noch über gar nichts sicher. Ich kann beim Henker nicht rausfinden, ob das ein Fall für den Arzt, den Polizisten oder den Priester ist.«

»Nun«, sagte Father Brown lächelnd, »da Sie sowohl Polizist wie Arzt sind, bin ich ja wohl eher in der Minderheit.«

»Ich will zugeben, daß Sie in der Sprache der Politiker eine unterrichtete Minderheit sind«, erwiderte der Doktor. »Ich meine, ich weiß, daß Sie auch schon ein bißchen auf unserem Gebiet gearbeitet haben, genau wie auf Ihrem eigenen. Aber es ist reichlich schwierig zu sagen, ob diese Angelegenheit in Ihr Gebiet fällt oder in unseres, oder ganz einfach in das der Irrenärzte. Wir haben da gerade eine Nachricht von einem Mann bekommen, der hier in der Nähe lebt, in dem weißen Haus da oben auf dem Hügel, und der um Schutz vor mörderischer Nachstellung bittet. Wir haben die Tatsachen, so weit wir konnten, überprüft, aber vielleicht erzähle ich Ihnen die Geschichte, wie sie sich angeblich ereignet haben soll, besser von Anfang an.

Anscheinend hat ein Mann namens Aylmer, ein reicher Grundbesitzer im Westen des Landes, erst ziemlich spät im Leben geheiratet und drei Söhne bekommen, Philip, Stephen und Arnold. Während seiner Junggesellentage aber, als er glaubte, er werde keinen Leibeserben haben, hatte er einen Knaben adoptiert, den er für brillant und vielversprechend hielt, mit Namen John Strake. Seine Herkunft scheint unklar; manche sagen, er sei ein Findelkind; andere, er sei ein Zigeuner. Ich glaube, daß diese zweite Behauptung mit dem Umstand zusammenhängt, daß Aylmer sich auf seine alten Tage mit allen möglichen zweifelhaften Okkultismen beschäftigt hat, einschließlich Handlesen und Astrologie, und die drei Söhne sagten, daß Strake ihn darin bestärkt habe. Aber sie haben noch eine ganze Menge Dinge außer dem behauptet. Sie behaupteten, daß Strake ein erstaunlicher Schuft und vor allem ein erstaunlicher Lügner sei; ein Genie im spontanen Erfinden von Lügen, die er so erzählen könne, daß er selbst Detektive täusche. Aber im Lichte der Ereignisse könnte das auch ganz gut ein natürliches Vorurteil sein. Vermutlich können Sie sich mehr oder weniger vorstellen, was sich ereignet hat. Der alte Mann hinterließ dem Adoptivsohn praktisch alles; und nachdem er gestorben war, fochten die leiblichen Söhne das Testament an. Sie behaupteten, ihr Vater sei so lange in Angst versetzt worden, bis er nachgegeben habe oder, um es rundheraus zu sagen, bis er zum lallenden Idioten wurde. Sie behaupteten, Strake habe über die sonderbarsten und ausgefuchstesten Wege verfügt, um trotz der Pflegerinnen und der Familie an ihn heranzukommen und ihn noch auf dem Sterbebett zu terrorisieren. Irgendwie scheinen sie aber irgend etwas im Zusammenhang mit dem Geisteszustand des toten Mannes nachgewiesen zu haben, denn die Gerichte verwarfen das Testament, und die Söhne erbten. Strake soll in der schrecklichsten Weise getobt haben und geschworen, er werde alle drei umbringen, einen nach dem anderen, und nichts könne sie vor seiner Rache verbergen. Jetzt hat sich der dritte oder letzte der Brüder, Arnold Aylmer, um Schutz an die Polizei gewandt.«

»Der dritte und letzte«, sagte der Priester und blickte ihn ernst an.

»Ja«, sagte Boyne. »Die beiden anderen sind tot.«

Schweigen herrschte, bevor er fortfuhr. »Hier treten nun Zweifel auf. Es gibt keine Beweise, daß sie ermordet wurden, aber es könnte sein. Der älteste, der seine Stellung als ländlicher Grundherr einnahm, soll in seinem Garten Selbstmord begangen haben. Den zweiten, der sich als Fabrikant etablierte, traf in seiner Fabrik eine Maschine am Kopf; er könnte sehr wohl einen falschen Tritt getan haben und gestürzt sein. Wenn aber Strake sie getötet hat, dann ist er wahrlich außerordentlich geschickt dabei, wie er es macht und wie er sich danach aus dem Staube macht. Andererseits ist es mehr als wahrscheinlich, daß die ganze Angelegenheit eine Frage des Verfolgungswahns ist, der sich auf Zufällen gründet. Ich möchte, daß ein vernünftiger Mensch, der nicht Beamter ist, hinaufgeht, mit Arnold Aylmer spricht und sich eine Meinung von ihm bildet. Sie wissen, wie ein Mensch mit einer fixen Idee ist, und Sie wissen, wie ein Mensch aussieht, der die Wahrheit sagt. Ich möchte Sie als Vorhut, bevor wir die Sache in die Hand nehmen.«

»Es erscheint mir ziemlich merkwürdig«, sagte Father Brown, »daß Sie die Sache nicht schon früher in die Hand nehmen mußten. Wenn irgendwas an dieser Geschichte dran ist, dann muß sie doch schon seit geraumer Zeit im Gange sein. Gibt es irgendeinen besonderen Grund, weshalb er gerade jetzt nach Ihnen geschickt hat und nicht zu einem anderen Zeitpunkt?«

»Daran habe ich auch schon gedacht, wie Sie sich denken können«, antwortete Dr. Boyne. »Er hat einen Grund angegeben, aber ich gestehe, daß gerade der einer der Gründe ist, weshalb ich mich frage, ob die ganze Sache nicht wirklich nur die Schrulle eines halbverrückten Sonderlings ist. Er erklärt, daß alle seine Bediensteten plötzlich streikten und ihn verlassen hätten, was ihn dazu zwinge, sich an die Polizei zu wenden, damit die sich um sein Haus kümmere. Und als ich nachfragte, stellte ich fest, daß es tatsächlich einen allgemeinen Auszug der Dienerschaft aus jenem Haus auf dem Hügel gegeben hat; und natürlich schwirrt die ganze Stadt von Gerüchten, sehr einseitigen, wie ich sagen muß. Danach sieht es so aus, als ob ihr Arbeitgeber in seiner Unruhe und Furcht und mit seinen Anforderungen reichlich unmöglich geworden ist; daß er von ihnen verlangte, das Haus wie Wachtposten zu bewachen oder nachts wie Nachtschwestern im Krankenhaus aufzubleiben; daß sie niemals allein sein konnten, weil er niemals allein sein wollte. Und da haben sie alle einstimmig erklärt, er sei verrückt, und sind abgezogen. Natürlich beweist das nicht, daß er wirklich verrückt ist; aber heutzutage erscheint es doch reichlich merkwürdig, wenn ein Mann von seinem Kammerdiener oder seinem Stubenmädchen verlangt, als bewaffnete Leibgarde zu agieren.«

»Und also«, sagte der Priester mit einem Lächeln, »möchte er, daß ein Polizist als sein Stubenmädchen agiert, weil sein Stubenmädchen nicht als Polizist agieren will.«

»Ich fand das auch ein starkes Stück«, stimmte der Doktor zu, »aber ich kann die Verantwortung für eine schlichte Ablehnung nicht auf mich nehmen, ehe ich es nicht mit einem Kompromiß versucht habe. Und Sie sind der Kompromiß.«

»In Ordnung«, sagte Father Brown einfach. »Ich werde hingehen und ihn jetzt besuchen, wenn Sie wollen.«

Die wellige Landschaft um die kleine Stadt war vom Frost versiegelt und in Fesseln geschlagen, und der Himmel war klar und kalt wie Stahl außer im Nordosten, wo Wolken mit düsteren Rädern am Himmel aufzuziehen begannen. Vor diesen dunkleren und drohenderen Farben erglänzte das Haus auf dem Hügel mit einer Reihe blasser Säulen, die eine kurze Kolonnade nach klassischem Muster bildeten. Eine Straße wand sich über die Rundung des Hügels dort hinauf und verschwand in einer Masse dunklen Buschwerks. Unmittelbar bevor sie das Buschwerk erreichte, schien die Luft kälter und kälter zu werden, als nahe er sich einem Eiskeller oder dem Nordpol. Aber er war ein höchst praktisch veranlagter Mensch, der solche Phantasien nur als Phantasien gelten ließ. Und der großen bleigrauen Wolke, die über dem Haus emporkroch, warf er lediglich einen Blick zu und bemerkte heiter: »Bald schneit es.«

Durch einen niedrigen eisernen Torweg mit Ornamenten im italienischen Stil betrat er einen Garten, dem einiges von jener Trostlosigkeit eignete, die nur zur Unordnung ordentlicher Dinge gehört. Dunkelgrüne Büsche waren grau vom leichten Puder des Frostes, große Gräser umfaßten die vergehenden Formen der Blumenbeete wie zerborstene Rahmen; und das Haus stand bis zu den Hüften in einem verkümmerten Wald aus Sträuchern und Büschen. Die Vegetation bestand vor allem aus Immergrün oder sehr widerstandsfähigen Pflanzen; und obwohl sie so dicht und füllig war, war sie doch zu nördlich, um üppig genannt zu werden. Man könnte sie als einen arktischen Dschungel beschreiben. So war es in gewisser Weise auch mit dem Haus selbst, dessen Säulenreihen und dessen klassische Fassade über das Mittelmeer hätten blicken können, die aber jetzt im Wind der Nordsee dahinzuwelken schienen. Hier und da betonten klassische Ornamente den Kontrast. Karyatiden und skulptierte Masken aus Komödie und Tragödie blickten von den Ecken des Gebäudes auf die graue Wirrnis der Gartenwege; aber die Gesichter erschienen wie vom Frost zerbissen. Und selbst die Voluten der Kapitelle wirkten wie vor Kälte eingerollt.

Father Brown schritt die grasigen Stufen zu einer viereckigen Vorhalle hinauf, die von großen Pfeilern flankiert war, und klopfte an die Tür. Ungefähr 4 Minuten später klopfte er erneut. Dann stand er still und wartete geduldig mit dem Rücken zur Tür und blickte hinaus auf die langsam dunkler werdende Landschaft. Sie wurde dunkler durch den Schatten jenes einen großen Wolkenkontinents, der aus dem Norden herangezogen kam; und während er noch zwischen den Pfeilern der Vorhalle hinaussah, die im Zwielicht hoch und schwarz über ihm erschien, erblickte er den schillernd einherschleichenden Rand der großen Wolke, wie sie über das Dach segelte und sich wie ein Baldachin über die Vorhalle wölbte. Der graue Baldachin schien mit seinen schwach gefärbten Fransen tiefer und tiefer auf den Garten hinabzusinken, bis von dem eben noch klaren und blaßfarbenen Winterhimmel nicht mehr als ein paar silberne Streifen und Fetzen wie bei einem kränklichen Sonnenuntergang übriggeblieben war. Father Brown wartete, doch von innen hörte man keinen Ton.

Dann begab er sich rasch die Stufen hinab und um das Haus herum, um nach einem anderen Eingang zu suchen. Schließlich fand er einen, eine Seitentür in der glatten Mauer, und auch an diese klopfte er, und auch vor dieser wartete er. Dann versuchte er den Türgriff und stellte fest, daß die Tür offenbar verriegelt oder sonstwie verschlossen war; und dann bewegte er sich an dieser Seite des Hauses entlang und grübelte über die Möglichkeiten der Situation nach und fragte sich, ob der exzentrische Mr. Aylmer sich vielleicht so tief im Hause verbarrikadiert habe, daß er kein Klopfen und Rufen hören könne; oder ob er sich in der Annahme, jedes Klopfen und Rufen müsse die Herausforderung des rachedurstigen Strake sein, nur um so mehr verbarrikadiere. Es mochte auch sein, daß die abziehenden Dienstboten am Morgen beim Weggehen lediglich eine Tür aufgeschlossen hatten, die ihr Herr dann wieder verschloß; was immer aber er getan haben mochte, so war es unwahrscheinlich, daß sie in der Stimmung jenes Augenblicks so sorgsam auf die Verteidigungssysteme geachtet haben sollten. Er setzte seine Erkundung um das Haus herum fort; es war gar keine so große Anlage, wenngleich vielleicht ein bißchen angeberisch; und nach wenigen Augenblicken stellte er fest, daß er sie vollständig umrundet hatte. Einen Augenblick später fand er, was er vermutet und gesucht hatte. Die Terrassentür eines Zimmers stand, von Vorhängen bedeckt und von Schlinggewächsen überschattet, einen Spaltbreit offen, sicherlich versehentlich offengelassen, und so fand er sich in einem zentralen Raum, bequem eingerichtet auf eine ziemlich altmodische Weise, aus dem auf der einen Seite eine Treppe nach oben und auf der anderen Seite eine Tür hinausführte. Unmittelbar ihm gegenüber befand sich eine weitere Tür, in die rotes Glas eingelassen war, ein bißchen zu bunt für den neueren Geschmack; etwas, das wie eine rotgekleidete Figur in billigem Buntglas aussah. Auf einem runden Tisch zur Rechten stand eine Art Aquarium – ein großer Behälter, gefüllt mit grünlichem Wasser, in dem sich Fische und ähnliche Geschöpfe wie in einem Weiher bewegten, und ihm genau gegenüber eine Pflanze der Gattung Palme mit sehr großen grünen Blättern. Alles das sah so sehr verstaubt und frühviktorianisch aus, daß das Telephon, sichtbar hinter den Vorhängen des Alkovens, fast überraschend wirkte.

»Wer ist da?« rief eine Stimme scharf und ziemlich mißtrauisch hinter der Buntglastür hervor.

»Könnte ich Mr. Aylmer sprechen?« fragte der Priester entschuldigend.

Die Tür öffnete sich, und ein Gentleman in pfauengrünem Morgenrock trat mit fragendem Gesichtsausdruck ein. Sein Haar war ziemlich struppig und unordentlich, als ob er im Bett gewesen wäre oder gerade dabei, langsam aufzustehen, aber seine Augen waren nicht nur wach, sondern geradezu wachsam, ja, mancher würde gesagt haben alarmiert. Father Brown wußte, daß ein solcher Widerspruch bei einem Manne, der im Schatten einer Wahnvorstellung oder einer Gefahr dahinvegetiert, ganz natürlich war. Von der Seite hatte er ein schönes Adlerprofil, aber von vorne gesehen herrschte als erster Eindruck der seines ungepflegten, ja wilden unordentlichen braunen Bartes vor.

»Ich bin Mr. Aylmer«, sagte er, »aber ich habe mir abgewöhnt, Besucher zu erwarten.«

Etwas in Mr. Aylmers unruhigem Blick brachte den Priester dazu, sofort zum Kern zu kommen. Wenn der Verfolgungswahn des Mannes bloß eine fixe Idee war, würde er das um so weniger übelnehmen.

»Ich frage mich«, sagte Father Brown sanft, »ob Sie wirklich niemals Besucher erwarten.«

»Sie haben recht«, erwiderte der Hausherr unverwandt. »Ich erwarte einen Besucher immer. Und vielleicht ist er der letzte.«

»Ich hoffe nicht«, sagte Father Brown, »jedenfalls aber erleichtert es mich, zu schließen, daß ich ihm nicht sehr ähnlich sehe.«

Mr. Aylmer schüttelte sich in einer Art grimmen Lachens. »Das tun Sie sicherlich nicht«, sagte er.

»Mr. Aylmer«, sagte Father Brown offen, »ich bitte um Entschuldigung, daß ich mir die Freiheit herausnehme, aber Freunde von mir haben mir von Ihren Schwierigkeiten erzählt und mich gebeten, nachzusehen, ob ich nicht irgend etwas für Sie tun kann. Denn ich habe einige Erfahrung in Angelegenheiten wie dieser.«

»Angelegenheiten wie diese gibt es nicht«, sagte Aylmer.

»Wollen Sie sagen«, bemerkte Father Brown, »daß die Tragödien in Ihrer unglücklichen Familie keine normalen Todesfälle waren?«

»Ich will sagen, daß sie nicht einmal normale Morde waren«, antwortete der andere. »Der Mann, der uns alle zu Tode hetzt, ist ein Hetzhund der Hölle, und seine Macht stammt aus der Hölle.«

»Alles Böse hat eine einzige Wurzel«, sagte der Priester ernst. »Aber woher wissen Sie, daß es sich nicht um normale Morde handelte?«

Aylmer antwortete mit einer Geste, die seinem Gast einen Stuhl anbot; dann setzte er sich selbst langsam in einen anderen und runzelte die Stirn, während seine Hände auf seinen Knien lagen; als er aber wieder aufblickte, war sein Ausdruck milder und nachdenklicher geworden, und seine Stimme war herzlich und gefaßt.

»Sir«, sagte er, »ich möchte nicht, daß Sie sich einbilden, ich sei unvernünftig. Ich bin zu meinen Schlüssen durch die Vernunft gekommen, denn unglücklicherweise führt die Vernunft eben zu ihnen. Ich habe über solche Dinge viel gelesen; denn ich war der einzige, der meines Vaters Gelehrsamkeit in okkulten Angelegenheiten geerbt hat, und seither habe ich auch seine Bibliothek geerbt. Was ich Ihnen aber erzähle, beruht nicht auf dem, was ich gelesen habe, sondern auf dem, was ich gesehen habe.«

Father Brown nickte, und der andere fuhr fort, als müsse er seine Worte einzeln aufpicken:

»Im Fall meines älteren Bruders war ich zunächst nicht sicher. Es gab dort, wo er erschossen aufgefunden wurde, keinerlei Anzeichen oder Fußspuren, und die Pistole lag neben ihm. Doch hatte er gerade zuvor einen Drohbrief erhalten, sicherlich von unserem Feind, denn er war mit einem Zeichen wie ein geflügelter Dolch gekennzeichnet, einem seiner teuflischen kabalistischen Tricks. Und ein Dienstmädchen sagte aus, sie habe gesehen, wie sich im Zwielicht etwas entlang der Gartenmauer bewegte, das viel zu groß für eine Katze war. Ich will es dabei belassen; alles, was ich sagen kann, ist, daß der Mörder, wenn er denn gekommen ist, es fertig brachte, keinerlei Spuren seines Kommens zu hinterlassen. Als aber mein Bruder Stephen starb, war es anders; und seither weiß ich. Eine Maschine arbeitete auf einem offenen Gerüst unter dem Fabrikschlot; ich bestieg die Plattform unmittelbar nachdem er unter den Eisenhammer gestürzt war, der ihn erschlug; ich sah nichts anderes ihn erschlagen, aber ich sah, was ich sah.

Eine große Wolke Fabrikrauch hing zwischen mir und dem Fabrikschlot; aber durch einen Riß in ihr sah ich oben auf dem Schlot eine dunkle menschliche Gestalt in etwas gehüllt, das wie ein schwarzer Umhang aussah. Dann trieb der schweflige Rauch wieder zwischen uns; und als er sich verzogen hatte und ich wieder zu dem fernen Schlot emporblickte – war da niemand. Ich bin ein vernünftiger Mensch, und ich möchte alle vernünftigen Menschen fragen, wie sie auf jenen schwindelerregenden, unzugänglichen Turm gekommen ist und wie sie ihn wieder verließ.«

Er starrte den Priester herausfordernd wie eine Sphinx an; dann sagte er nach einem Schweigen plötzlich:

»Meines Bruders Schädel war zerschlagen, aber sein Körper war nicht stark verletzt. Und in seiner Tasche fanden wir eine jener warnenden Botschaften, die am Vortag datiert und mit dem geflügelten Dolch gestempelt war.

Ich bin überzeugt«, fuhr er düster fort, »daß das Symbol des geflügelten Dolches weder willkürlich noch zufällig ist. Nichts an diesem abscheulichen Menschen ist zufällig. Er ist ganz Absicht; und alles ist finstere und höchst vertrackte Absicht. Sein Geist besteht nicht nur aus einem Gewebe der ausgeklügeltsten Pläne, sondern auch aus allen Arten geheimer Sprachen und Zeichen, stummer Signale und wortloser Bilder, die Namen für namenlose Dinge sind. Er ist die schlimmste Art Mensch, die die Welt kennt: er ist der böse Mystiker. Nun will ich nicht behaupten, daß ich alles durchschaute, was dieses Symbol ausdrückt; mir scheint es aber sicher zu sein, daß es eine Beziehung zu all dem hat, was an seinen Bewegungen, während er meine unglückliche Familie umlauerte, besonders bemerkenswert oder gar unglaublich ist. Oder gibt es vielleicht keine Beziehung zwischen einer geflügelten Waffe und dem Geheimnis, das Philip tot auf seinem eigenen Rasen niederstreckte, ohne daß die leichteste Berührung eines Fußabdrucks Staub oder Gras störte? Gibt es keine Beziehung zwischen dem geflügelten Dolch, der wie ein gefiederter Dolch dahinfliegt, und jener Gestalt, die am obersten Rand des hochragenden Schlotes hing, gehüllt in ein Schwingengewand?«

»Sie glauben also«, sagte Father Brown nachdenklich, »daß er sich ständig im Zustand der Levitation befindet.«

»Simon Magus tat es«, erwiderte Aylmer, »und es gehörte zu den verbreitetsten Weissagungen des Mittelalters, daß der Antichrist fliegen könne. Auf jeden Fall gab es den geflügelten Dolch auf dem Dokument; und ob er nun fliegen konnte oder nicht – mit Sicherheit konnte er zustoßen.«

»Haben Sie bemerkt, auf welcher Sorte Papier er sich fand?« fragte Father Brown. »Gewöhnliches Papier?«

Das sphinxähnliche Gesicht brach plötzlich in ein harsches Lachen aus.

»Sie können selbst sehen, wie sie aussehen«, sagte Aylmer grimmig, »denn heute morgen habe ich auch eines bekommen.«

Er saß nun in seinen Sitz zurückgelehnt, seine langen Beine ragten unter dem grünen Morgenmantel hervor, der etwas zu kurz für ihn war, und sein bärtiges Kinn ruhte auf seiner Brust. Ohne sich sonst zu bewegen, schob er die Hand tief in die Tasche des Morgenmantels und streckte dann mit steifem Arm einen zitternden Fetzen Papier hin. Seine ganze Haltung gemahnte an eine Art Lähmung, die gleichermaßen aus Starre und Zusammenbruch bestand. Doch die nächste Bemerkung des Priesters übte einen merkwürdig aufweckenden Einfluß auf ihn aus.

Father Brown blinzelte in seiner kurzsichtigen Weise auf das ihm hingehaltene Papier. Es war eine eigenartige Art Papier, rauh, aber nicht gewöhnlich, wie aus dem Skizzenblock eines Künstlers; darauf war mit kühnen Zügen in roter Tinte ein Dolch gezeichnet, den Flügel schmückten wie den Stab des Hermes, und geschrieben standen die Worte: »Der Tod kommt am folgenden Tag, wie er zu deinen Brüdern kam.«

Father Brown schleuderte das Papier auf den Boden und saß kerzengerade auf seinem Stuhl.

»Sie dürfen sich von diesem Zeugs nicht verblüffen lassen«, sagte er scharf. »Diese Teufel versuchen immer wieder, uns hilflos zu machen, indem sie uns hoffnungslos machen.«

Zu seinem eigenen Erstaunen überlief eine belebende Welle die hingestreckte Gestalt, die aus ihrem Stuhl emporsprang, wie aus einem Traum aufgescheucht.

»Sie haben recht, Sie haben recht!« schrie Aylmer in geradezu unheimlicher Lebhaftigkeit; »und diese Teufel werden herausfinden, daß ich trotz allem nicht so hoffnungslos bin und auch nicht so hilflos. Vielleicht habe ich mehr Hoffnung und bessere Hilfe, als Sie sich vorstellen können.«

Er stand da mit den Händen in den Taschen und starrte mit gerunzelten Brauen auf den Priester hinab, der während dieses angespannten Schweigens für einen Augenblick befürchtete, daß des Mannes lange Gefährdung sein Gehirn angegriffen habe. Doch als er sprach, geschah das ganz nüchtern.

»Ich glaube, daß meine unglücklichen Brüder scheiterten, weil sie sich der falschen Waffen bedienten. Philip trug einen Revolver bei sich, und daher nannte man seinen Tod Selbstmord. Stephen hatte zwar Polizeischutz, aber auch ein starkes Gefühl dafür, was ihn lächerlich erscheinen ließ; und deshalb konnte er nicht zulassen, daß ihm ein Polizist die Leiter hinauf zu einem Gerüst nachkletterte, auf dem er sich nur einen Augenblick aufhalten wollte. Sie waren beide Spötter, die sich vor dem sonderbaren Mystizismus der letzten Tage meines Vaters in Skepsis zurückzogen. Ich aber wußte immer, daß mehr in meinem Vater war, als sie verstehen konnten. Es ist wahr, daß er durch das Studium der Magie zuletzt dem Pesthauch der Schwarzen Magie erlag; der Schwarzen Magie jenes Schurken Strake. Meine Brüder aber irrten sich im Gegenmittel. Das Gegenmittel zur Schwarzen Magie ist nicht harter Materialismus oder weltliche Klugheit. Das Gegenmittel zur Schwarzen Magie ist Weiße Magie.«

»Das hängt ganz davon ab«, sagte Father Brown, »was Sie unter Weißer Magie verstehen.«

»Ich meine silberne Magie«, sagte der andere mit leiser Stimme wie einer, der von einer geheimen Offenbarung spricht. Und nach einer Pause sagte er: »Wissen Sie, was ich mit silberner Magie meine? Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«

Er wandte sich um, öffnete die Mitteltür mit dem roten Glas und trat in einen Korridor hinter ihr. Das Haus hatte weniger Tiefe, als Brown angenommen hatte; statt daß die Tür sich auf Innenräume hin öffnete, führte der Korridor, den sie freigab, zu einer anderen Tür in den Garten. Auf der einen Seite des Korridors war die Tür eines Zimmers; zweifellos, wie der Priester sich sagte, die zum Schlafzimmer des Besitzers, von wo er in seinem Morgenmantel herausgeeilt war. An jener Wand befand sich weiter nichts als ein gewöhnlicher Kleiderständer mit dem gewöhnlichen staubigen Durcheinander alter Hüte und Mäntel; aber an der anderen Wand befand sich etwas Interessanteres: ein sehr dunkles altes Eichenbüffet, auf dem altes Silber ausgelegt war und über dem eine Trophäe oder ein Ornament aus alten Waffen hing. Hier war Arnold Aylmer stehengeblieben und blickte empor zu einer langläufigen altmodischen Pistole mit glockenförmiger Mündung.

Die Tür am anderen Ende des Korridors war nur angelehnt, und durch den Spalt floß ein Streifen weißen Tageslichts. Der Priester hatte für Naturereignisse einen schnellen Instinkt, und etwas an der ungewöhnlichen Helligkeit dieses weißen Striches verriet ihm, was sich draußen ereignet hatte. Eben das, was er vorausgesagt hatte, als er sich dem Hause näherte. Er rannte an seinem ziemlich erschreckten Gastgeber vorbei und öffnete die Tür und sah sich etwas gegenüber, das zugleich ein Nichts und ein Glanz war. Was er durch den Spalt hatte schimmern gesehen, war nicht nur die höchst negative Weiße des Tageslichts, sondern die positive Weiße des Schnees. Ringsum war die hinstreichende Senkung der Landschaft von jener schimmernden Blässe bedeckt, die zugleich altersgrau und unschuldig wirkt.

»Hier jedenfalls ist Weiße Magie«, sagte Father Brown mit seiner fröhlichen Stimme. Dann, als er sich zurück in die Halle wandte, murmelte er: »Und vermutlich auch silberne Magie«, denn der weiße Schein ließ das Silber erglänzen und den alten Stahl der dunkelnden Waffen hier und da aufleuchten. Das zottige Haupt des brütenden Aylmer schien umgeben von einem Strahlenkranz aus silbernem Feuer, als er sich umdrehte, das Gesicht im Schatten und die fremdartige Pistole in der Hand.

»Wissen Sie, warum ich mir gerade diese alte Art Donnerbüchse ausgesucht habe?« fragte er. »Weil ich sie mit dieser Art Kugeln laden kann.«

Er hatte einen kleinen Zierlöffel mit Apostelfigur am Griff vom Büffet aufgenommen und brach jetzt mit schierer Gewalt die kleine Gestalt ab. »Wir wollen in das andere Zimmer zurückgehen«, fügte er hinzu.

»Haben Sie je über Dundees Tod gelesen?« fragte er, als sie wieder Platz genommen hatten. Er hatte sich von seinem Ärger über die Rastlosigkeit des Priesters erholt. »Graham von Claverhouse, wissen Sie, der die Covenanters verfolgte und ein schwarzes Pferd besaß, das einen Abgrund geradewegs hinaufreiten konnte. Wissen Sie denn nicht, daß er nur mit einer Silberkugel erschossen werden konnte, weil er sich dem Teufel verkauft hatte? Das ist das Angenehme an Ihnen; Sie wissen wenigstens genug, um an den Teufel zu glauben.«

»O ja«, erwiderte Father Brown, »ich glaube an den Teufel. Woran ich nicht glaube, ist der Dundee. Ich meine den Dundee der Covenanter-Legenden, mit seinem Alptraum von Pferd. John Graham war nur ein Berufssoldat des 17. Jahrhunderts, eher besser als die meisten. Wenn er ihnen die Hölle heiß machte, so weil er ein Dragoner war, nicht aber ein Drache. Nun sind es nach meiner Erfahrung gerade nicht solche prahlerischen Haudegen, die sich dem Teufel verkaufen. Die Teufelsanbeter, die ich gekannt habe, waren ganz anders. Um keine Namen zu nennen, die gesellschaftlich Aufsehen erregen würden, will ich einen Mann aus Dundees Tagen nehmen. Haben Sie je von Dalrymple von Stair gehört?«

»Nein«, erwiderte der andere mürrisch.

»Sie haben von dem gehört, was er getan hat«, sagte Father Brown, »und das war schlimmer als alles, was Dundee jemals tat; doch entging er der Schande durch Vergessen. Er war es, der das Massaker von Glencoe verursachte. Er war ein sehr gelehrter Mann und ein glänzender Jurist, ein Staatsmann mit sehr ernsthaften und weitblickenden Vorstellungen von der Staatskunst, ein ruhiger Mann mit einem sehr feinen und intellektuellen Gesicht. Das ist die Art Mensch, die sich selbst dem Teufel verschachert.«

Aylmer sprang im Enthusiasmus jäher Zustimmung halb aus seinem Stuhl hoch.

»Bei Gott! Sie haben recht«, rief er. »Ein feines intellektuelles Gesicht! Das ist das Gesicht von John Strake.«

Dann erhob er sich und sah den Priester in sonderbarer Konzentration an. »Warten Sie bitte hier einen Augenblick«, sagte er, »ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Er ging durch die Mitteltür hinaus und schloß sie hinter sich; er ging, wie der Priester annahm, zum alten Büffet oder vielleicht auch in sein Schlafzimmer. Father Brown blieb sitzen und starrte geistesabwesend auf den Teppich, auf dem ein schwacher roter Schimmer von dem Glas in der Tür schien. Mal schien er wie ein Rubin aufzuleuchten, und dann wurde er wieder dunkler, als ob die Sonne an jenem stürmischen Tage von Wolke zu Wolke wanderte. Nichts rührte sich außer den Wasserwesen, die in dem mattgrünen Gefäß hin und her trieben. Father Brown dachte angestrengt nach.

Nach ein oder zwei Minuten stand er auf und schlüpfte leise zum Telephon im Alkoven, von wo aus er seinen Freund Dr. Boyne in der amtlichen Dienststelle anrief. »Ich möchte Ihnen über Aylmer und seine Angelegenheiten berichten«, sagte er ruhig. »Das ist eine merkwürdige Geschichte, aber ich glaube doch, daß etwas dahinter steckt. Wenn ich Sie wäre, würde ich sofort einige Männer herschicken, vier oder fünf vielleicht, und sie das Haus umstellen lassen. Wenn etwas geschehen sollte, dann wird sich wahrscheinlich eine spektakuläre Flucht ereignen.«

Dann ging er zurück und setzte sich wieder hin und starrte auf den dunklen Teppich, der wieder im Lichte der Glastür blutrot aufglühte. Etwas in dem gefilterten Licht ließ seinen Geist in bestimmte Grenzbereiche des Denkens wandern, in das erste weiße Tageslicht vor dem Aufdämmern von Farben und in all jene Geheimnisse, die das Symbol von Fenstern und Türen zugleich verhüllt und entschleiert.

Ein unmenschliches Geheul aus menschlicher Kehle erscholl von jenseits der verschlossenen Türen, fast zugleich mit dem Geräusch eines Schusses. Bevor das Echo des Schusses erstorben war, wurde die Tür gewaltsam aufgestoßen und sein Gastgeber stolperte in das Zimmer, den Morgenmantel halb von der Schulter gerissen, die lange Pistole rauchend in der Hand. Er schien am ganzen Körper zu zittern, aber teilweise ward er von einem unnatürlichen Gelächter geschüttelt.

»Gepriesen sei die Weiße Magie!« schrie er. »Gepriesen sei die silberne Kugel! Der Höllenhund hat einmal zu oft gejagt, und meine Brüder sind endlich gerächt.«

Er sank in einen Sessel, die Pistole glitt ihm aus der Hand und fiel zu Boden. Father Brown schoß an ihm vorüber, schlüpfte durch die Glastür und ging den Korridor hinab. Dabei legte er die Hand auf die Klinke der Schlafzimmertür, als habe er halb die Absicht, dort einzutreten; dann bückte er sich einen Augenblick, als untersuche er etwas – und dann rannte er zur Außentür und öffnete sie.

Auf dem Schneefeld, das vor kurzem noch so leer gewesen war, lag ein schwarzer Gegenstand. Auf den ersten Blick sah er fast so aus wie eine riesige Fledermaus. Ein zweiter Blick zeigte, daß es sich trotz allem um eine menschliche Gestalt handelte, aufs Gesicht gestürzt, den ganzen Kopf von einem breitkrämpigen schwarzen Hut bedeckt, der fast lateinamerikanisch aussah, während der Anschein schwarzer Schwingen von den beiden losen Ärmeln eines sehr weiten schwarzen Umhangs erweckt wurde, die, vielleicht aus Zufall, auf jeder Seite in voller Länge ausgespreitet waren. Beide Hände waren verborgen, obwohl Father Brown glaubte, er könne die Position der einen von ihnen ausmachen, und er sah nahebei, unter dem Saum des Umhangs, den Schimmer einer metallischen Waffe. Die Hauptwirkung jedoch war eigenartigerweise die der einfachen Übertriebenheit der Heraldik; wie ein schwarzer Adler, ausgebreitet auf weißem Grunde. Als er aber um die Gestalt herumging und unter den Hut sah, erhaschte der Priester einen Blick in das Gesicht, das in der Tat so war, wie der Gastgeber es genannt hatte, fein und intellektuell; auch skeptisch und streng: das Gesicht von John Strake.

»Da soll mich doch«, murmelte Father Brown. »Das sieht wirklich so aus, als ob ein großer Vampir herabgestoßen sei wie ein Vogel.«

»Wie sonst hätte er gekommen sein können?« klang eine Stimme von der Tür her, und als Father Brown aufblickte, sah er erneut Aylmer da stehen.

»Hätte er nicht zu Fuß gehen können?« erwiderte Father Brown ausweichend.

Aylmer streckte den Arm aus und überstrich die weiße Landschaft mit einer Geste.

»Betrachten Sie den Schnee«, sagte er mit einer tiefen Stimme, die auf eine Art rollend vibrierte. »Ist der Schnee nicht unberührt – rein wie die Weiße Magie, wie Sie selbst ihn genannt haben? Gibt es auf ihm meilenweit auch nur einen Flecken, abgesehen von jenem widerlichen schwarzen Klecks, der dorthin gefallen ist? Es gibt keine Fußspuren außer den wenigen von Ihnen und mir; und keine, die sich von irgendwo dem Haus näherten.«

Dann blickte er den kleinen Priester einen Augenblick lang mit einem konzentrierten und eigenartigen Ausdruck an und sagte:

»Ich will Ihnen noch etwas sagen. Jener Umhang, mit dem er fliegt, ist zu lang, um darin zu gehen. Er war kein sehr großer Mann, und er würde hinter ihm herschleifen wie die Schleppe eines Königs. Breiten Sie ihn über seinen Körper aus, wenn Sie wollen, und sehen Sie selbst.«

»Was hat sich zwischen Ihnen ereignet?« fragte Father Brown abrupt.

»Das ging zu schnell, um es zu beschreiben«, antwortete Aylmer. »Ich hatte einen Blick durch die Tür hinaus geworfen und wandte mich wieder um, als plötzlich eine Art Windrauschen mich umgab, als werde ich von einem frei in der Luft drehenden Rad herumgeschwungen. Irgendwie wirbelte ich herum und feuerte blindlings; und danach sah ich nur, was Sie jetzt auch sehen. Aber ich bin zutiefst überzeugt, daß Sie das nicht sehen würden, wenn ich nicht ein silbernes Geschoß in meiner Pistole gehabt hätte. Dann läge dort ein anderer Körper im Schnee.«

»Sollen wir übrigens«, bemerkte Father Brown, »das dort im Schnee liegen lassen? Oder würden Sie es lieber in Ihr Zimmer bringen – ich nehme an, das ist Ihr Schlafzimmer dort im Korridor?«

»Nein, nein«, erwiderte Aylmer hastig, »wir müssen es dort liegen lassen, bis die Polizei es gesehen hat. Außerdem habe ich von diesen Dingen jetzt mehr gehabt, als ich im Augenblick ertragen kann. Was auch geschehen mag, ich muß jetzt einen Schluck trinken. Danach mögen sie mich hängen, wenn sie wollen.«

Im mittleren Zimmer taumelte Aylmer zwischen der Palmenpflanze und dem Fischgefäß in einen Sessel. Zwar hätte er fast das Gefäß umgestoßen, als er ins Zimmer torkelte, aber es war ihm gelungen, die Brandy-Karaffe zu finden, nachdem er mit der Hand fast blindlings in verschiedene Fächer und Winkel gefahren war. Er wirkte zu keiner Zeit wie ein methodischer Mensch, aber in diesem Augenblick erreichte seine Zerstreutheit ihren Höhepunkt. Er trank einen tiefen Schluck und begann dann, fieberhaft zu reden, so als müsse er die Stille füllen.

»Sie haben immer noch Zweifel«, sagte er, »obwohl Sie das Ding mit Ihren eigenen Augen gesehen haben. Glauben Sie mir, da war mehr in dem Streit zwischen dem Geist von Strake und dem Geist des Hauses Aylmer. Außerdem ist es nicht Ihre Sache, ein Ungläubiger zu sein. Ihre Sache ist es, für all die Dinge einzutreten, die diese dummen Leute Aberglauben nennen. Oder glauben Sie etwa nicht, daß da eine ganze Menge in den Altweibergeschichten von Amuletten und Zaubermitteln und so weiter steckt, silberne Kugeln eingeschlossen? Was halten Sie als Katholik davon?«

»Ich halte mich für einen Agnostiker«, erwiderte Father Brown lächelnd.

»Unfug«, sagte Aylmer ungeduldig. »Es ist Ihre Aufgabe, an die Dinge zu glauben.«

»Nun ja, ich glaube natürlich an einige Dinge«, räumte Father Brown ein, »und deshalb glaube ich natürlich an andere Dinge nicht.«

Aylmer lehnte sich vornüber und blickte ihn mit einer sonderbaren Intensität an, die fast die eines Hypnotiseurs war.

»Sie glauben es«, sagte er. »Sie glauben alles. Wir alle glauben alles, selbst wenn wir alles ableugnen. Die Leugner glauben. Die Ungläubigen glauben. Spüren Sie nicht in tiefster Seele, daß diese Widersprüche keine wirklichen Widersprüche sind: daß es einen Kosmos gibt, der sie alle umfängt? Die Seele dreht sich auf einem Sternenrad, und alle Dinge kehren wieder; vielleicht haben Strake und ich uns in vielerlei Gestalt bekämpft, Tier wider Tier und Vogel wider Vogel, und vielleicht werden wir uns ewig bekämpfen. Aber da wir einander suchen und brauchen, ist selbst dieser ewige Haß ewige Liebe. Gut und Böse drehen sich in einem Rad, das ein Ding ist und nicht viele. Erkennen Sie denn nicht in Ihrem Herzen, glauben Sie denn nicht hinter all Ihren Gläubigkeiten, daß es nur eine Wirklichkeit gibt und wir deren Schatten sind; und daß alle Dinge nur die Aspekte des einen sind: eines Zentrums, in dem die Menschen zum Menschen verschmelzen, und der Mensch zu Gott?«

»Nein«, sagte Father Brown.

Draußen begann die Dämmerung zu sinken, in jenem Stadium eines so schneebeladenen Abends, in dem die Erde heller aussieht als der Himmel. In der Vorhalle des Haupteingangs, sichtbar durch ein halbverhängtes Fenster, konnte Father Brown schwach eine vierschrötige Gestalt stehen sehen. Er blickte flüchtig zur Terrassentür, durch die er ursprünglich eingetreten war, und sah sie von zwei ebenfalls bewegungslosen Gestalten verdunkelt. Die Innentür mit dem Buntglas stand leicht angelehnt; und in dem kurzen Korridor hinter ihr konnte er die Enden zweier langer Schatten sehen, vom flachen Abendlicht übertrieben und verzerrt, aber immer noch graue Karikaturen menschlicher Gestalten. Dr. Boyne hatte bereits auf die telephonische Botschaft gehört. Das Haus war umstellt.

»Welchen Sinn hat es, nein zu sagen?« beharrte sein Gastgeber, immer noch mit dem gleichen hypnotischen Blick. »Sie haben einen Teil jenes ewigen Dramas mit eigenen Augen gesehen. Sie haben die Drohung John Strakes gesehen, Arnold Aylmer mittels Schwarzer Magie zu erschlagen. Sie haben gesehen, wie Arnold Aylmer John Strake mittels Weißer Magie schlug. Sie sehen Arnold Aylmer lebendig und mit Ihnen redend vor sich. Und doch glauben Sie es nicht.«

»Nein, ich glaube es nicht«, sagte Father Brown und erhob sich aus seinem Stuhl wie einer, der einen Besuch beendet.

»Warum nicht?« fragte der andere.

Der Priester hob seine Stimme nur ein wenig an, aber in jede Ecke des Zimmers hallte sie wie eine Glocke.

»Weil Sie nicht Arnold Aylmer sind«, sagte er. »Ich weiß, wer Sie sind. Ihr Name ist John Strake; und Sie haben den letzten der Brüder ermordet, der jetzt draußen im Schnee liegt.«

Ein weißer Ring erschien um die Iris im Auge des anderen Mannes; er schien mit hervorquellenden Augäpfeln einen letzten Versuch zu machen, seinen Gefährten zu hypnotisieren und zu beherrschen. Dann machte er jäh eine Bewegung zur Seite; aber noch während er sie machte, öffnete sich die Tür hinter ihm, und ein großer Detektiv in Zivil legte ihm ruhig eine Hand auf die Schulter. Die andere Hand hing hinab, aber sie hielt einen Revolver. Der Mann blickte wild um sich und sah in allen Ecken des stillen Zimmers Männer in Zivil.

An jenem Abend hatte Father Brown ein anderes und längeres Gespräch mit Dr. Boyne über die Tragödie der Aylmer-Familie. Zu jenem Zeitpunkt gab es keinerlei Zweifel mehr an der zentralen Tatsache des Falles, denn John Strake hatte seine Identität bekannt, und sogar seine Verbrechen; das heißt, richtiger müßte man sagen, daß er sich seiner Siege rühmte. Gemessen an der Tatsache, daß er sein Lebenswerk abgeschlossen hatte, nachdem der letzte Aylmer tot war, schien ihm alles übrige einschließlich der Existenz selbst gleichgültig zu sein.

»Der Mann ist sozusagen monoman«, sagte Father Brown. »Er ist an nichts anderem interessiert; nicht einmal an einem anderen Mord. Dafür muß ich ihm dankbar sein; denn mit dieser Überlegung hatte ich mich während dieses Nachmittags häufig genug zu beruhigen. Wie auch Sie zweifellos erkannt haben, hätte er, statt diesen wilden, aber einfallsreichen Roman um beschwingte Vampire und silberne Kugeln zu spinnen, eine einfache Bleikugel in mich schießen und aus dem Hause gehen können. Ich versichere Ihnen, daß dieser Gedanke mir reichlich häufig kam.«

»Und ich frage mich, warum er das nicht getan hat«, bemerkte Boyne. »Ich verstehe das nicht; aber bisher verstehe ich überhaupt nichts. Wie in aller Welt sind Sie dahinter gekommen, und was in aller Welt haben Sie da entdeckt?«

»Oh, Sie haben mich mit sehr wertvollen Informationen versorgt«, erwiderte Father Brown bescheiden, »vor allem mit jenem Stück Information, das wirklich zählte. Ich meine die Feststellung, daß Strake ein sehr erfindungsreicher und einfallsreicher Lügner sei, und bei der Verfertigung seiner Lügen von großer Geistesgegenwart. Heute nachmittag brauchte er sie; aber er war der Gelegenheit gewachsen. Sein vielleicht einziger Fehler war, daß er eine übernatürliche Geschichte wählte; er war der Ansicht, daß ich als Kleriker alles zu glauben hätte. Viele Leute haben Vorstellungen dieser Art.«

»Mir aber ist das alles unverständlich«, sagte der Arzt. »Sie müssen wirklich mit dem Anfang anfangen.«

»Der Anfang war ein Morgenrock«, sagte Father Brown einfach. »Das war die einzige gute Verkleidung, die ich je gesehen habe. Wenn man in einem Haus einem Mann im Morgenrock begegnet, nimmt man ganz automatisch an, daß er sich in seinem eigenen Haus befindet. Ich selbst nahm das auch an; aber danach begannen sich sonderbare kleine Dinge zu ereignen. Als er die Pistole herabnahm, zog er den Hahn mit ausgestrecktem Arm durch, wie man das zu tun pflegt, um sicher zu gehen, daß eine fremde Waffe nicht geladen ist; aber natürlich hätte er wissen müssen, ob die Pistolen in seinem eigenen Flur geladen waren oder nicht. Dann gefiel mir die Art nicht, wie er nach Brandy suchte oder wie er fast das Fischgefäß über den Haufen rannte. Denn ein Mann, der ein so zerbrechliches Ding als Inventarstück in seinen Gemächern hat, entwickelt eine Art mechanischer Gewohnheit, es zu umgehen. Doch mochten diese Dinge Phantasieprodukte sein; der erste reale Hinweis aber war dieser. Er war aus dem kleinen Korridor zwischen den beiden Türen gekommen; und in jenem Korridor gibt es lediglich noch eine Tür, die in ein anderes Zimmer führt; also nahm ich an, es sei das Schlafzimmer, aus dem er gerade gekommen war. Ich versuchte die Klinke; aber die Tür war verschlossen. Das kam mir seltsam vor, und ich blickte durchs Schlüsselloch. Es war ein völlig leerer Raum, offenbar unbenutzt; kein Bett, kein Garnichts. Also war er nicht aus irgendeinem Zimmer gekommen, sondern von außerhalb des Hauses. Und als ich das erkannte, habe ich wohl das ganze Bild erkannt.

Der arme Arnold Aylmer schlief sicherlich und lebte vielleicht oben, und er kam im Morgenmantel herab und ging durch die Tür mit dem roten Glas. Am Ende des Korridors sah er, schwarz vor dem Licht des Wintertages, den Feind seines Hauses. Er sah einen großen bärtigen Mann in einem breitkrempigen schwarzen Hut und einem weiten flappenden schwarzen Umhang. Sehr viel mehr sah er nicht in dieser Welt. Strake sprang ihn an und erwürgte oder erstach ihn; das werden wir sicher erst nach der Leichenschau wissen. Dann hörte Strake, der in dem engen Durchgang zwischen Kleiderständer und altem Büffet stand und im Triumph auf den letzten seiner Feinde hinabschaute, etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte. Er hörte Schritte im Wohnzimmer. Das war ich selbst, der durch die Terrassentür eintrat.

Seine Verkleidung war ein Wunder an Schnelligkeit. Sie umfaßte nicht nur eine Maskierung, sondern auch einen Roman – einen Stegreifroman. Er nahm seinen großen schwarzen Hut und den Umhang ab und zog sich des toten Mannes Morgenrock an. Dann tat er etwas Grausiges; zumindest berührt es meine Einbildungskraft als grausiger denn alles andere. Er hängte die Leiche wie einen Mantel an den Kleiderständer. Er hüllte sie in seinen eigenen langen Umhang ein und sah, daß der ihr weit über die Füße hinabhing; und er verdeckte den Kopf vollständig mit seinem eigenen breiten Hut. Das war der einzige mögliche Weg, sie in jenem kleinen Korridor mit der geschlossenen Tür zu verbergen; aber ein wirklich kluger. Ich selbst bin einmal an diesem Kleiderständer vorbeigegangen, ohne zu merken, daß er etwas anderes als ein Kleiderständer war. Ich glaube, daß mich diese meine Ahnungslosigkeit immer schaudern machen wird.

Er hätte es vielleicht dabei belassen können; aber ich hätte die Leiche jeden Augenblick entdecken können; und eine solchermaßen aufgehängte Leiche schreit sozusagen nach einer Erklärung. So entschloß er sich zu dem kühneren Streich, sie selbst zu entdecken und sie selbst zu erklären.

Und da dämmerte diesem sonderbaren und furchtbar fruchtbaren Geist der Gedanke einer Verwechslungsgeschichte; die Vertauschung der Rollen. Er hatte bereits die Rolle von Arnold Aylmer übernommen. Warum sollte da nicht sein toter Feind die Rolle von John Strake übernehmen? Irgend etwas in diesem Verwirrspiel muß die Phantasie dieses düster-phantasievollen Mannes angesprochen haben. Das war wie ein schrecklicher Maskenball, auf den die beiden Todfeinde gehen, der eine als der andere verkleidet. Nur sollte der Maskenball ein Todestanz sein: und einer der Tänzer tot. So kann ich mir vorstellen, wie sich das in seinem Kopf entwickelt hat, und ich kann mir vorstellen, wie er dabei schmunzelte.«

Father Brown starrte ins Leere mit seinen großen grauen Augen, die das einzig Bemerkenswerte in seinem Gesicht waren, wenn er sie nicht mit seinem Zwinkertick verschleierte. Er redete einfach und ernst weiter:

»Alle Dinge sind von Gott; und vor allen anderen Vernunft und Einbildungskraft und die großen Gaben des Geistes. Sie sind gut in sich selbst; und niemals dürfen wir ihren Ursprung vergessen, selbst nicht in ihrer Verdrehung. Nun hatte dieser Mann in sich eine sehr noble Kraft, die sich verdrehen ließ; die Kraft, Geschichten zu erzählen. Er war ein großer Erzähler; nur hatte er seine Vorstellungskraft auf praktische und böse Zwecke gerichtet; Menschen mit falschen Tatsachen zu betrügen, statt mit wahren Erfindungen. Es begann damit, daß er den alten Aylmer mit ausgeklügelten Ausreden und geistreich ausgedachten Lügen betrog; doch selbst das mag zu Anfang wenig mehr gewesen sein als jene tollen Geschichten und Flunkereien von Kindern, die gleichermaßen erzählen können, sie hätten den König von England und den König des Feenreiches gesehen. Das wurde in ihm immer stärker durch das Laster aller Laster, den Stolz; er wurde immer eitler auf seine rasche Fähigkeit, originelle Geschichten zu erfinden und sie aufs feinste weiterzuspinnen. Das meinten die jungen Aylmers, als sie sagten, John habe ihren Vater immer in seinen Bann ziehen können; und das war wahr. Es war jener Bann, den die Erzählerin in Tausendundeiner Nacht über den Tyrannen wirft. Und bis zuletzt wandelte er in der Welt mit dem Stolz des Dichters und dem falschen aber unauslotbaren Mut des großen Lügners. Immer wieder konnte er neue Märchen aus Tausendundeiner Nacht erfinden, wenn sein Kopf in Gefahr war. Und heute war sein Kopf in Gefahr.

Aber ich bin ganz sicher, daß er das ebensosehr als Phantasmagorie wie als Irreführung genoß. Er machte sich an die Aufgabe, die wahre Geschichte falsch herum zu erzählen: den toten Mann für den Lebenden und den lebenden Mann für den Toten auszugeben. Er hatte sich bereits in Aylmers Morgenrock begeben; nun machte er sich daran, sich in Aylmers Körper und Seele zu begeben. Er blickte auf die Leiche, als sei es seine Leiche, die da kalt im Schnee lag. Dann spreitete er sie in jener seltsamen Weise adlergleich aus, um den sausenden Niedersturz eines Greifvogels anzudeuten, und bedeckte sie nicht allein mit seinen eigenen dunklen und fliegenden Gewändern, sondern auch mit einem ganzen düsteren Märchen vom Schwarzen Vogel, den lediglich die Silberkugel fällen kann. Ich weiß nicht, ob es das Silber war, das auf dem Büffet glitzerte, oder der Schnee, der hinter der Tür schimmerte, was sein so intensives künstlerisches Temperament auf das Thema der Weißen Magie und des weißen Metalls brachte, das man gegen Zauberer verwendet. Was immer aber auch der Ursprung, er machte es sich wie ein Dichter zu eigen; und tat es rasch wie ein praktischer Mann. Er vollendete den Austausch und die Verkehrung der Teile, indem er die Leiche als Strakes Leiche hinaus auf den Schnee schleuderte. Er tat sein Bestes, um ein gruseliges Gedankenbild von Strake als einem Wesen heraufzubeschwören, das überall in der Luft lauere, eine Harpyie mit den Schwingen der Schnelligkeit und den Klauen des Todes, und um die Abwesenheit von Fußspuren und andere Dinge zu erklären. Wegen eines Stückchens künstlerischer Unverfrorenheit bewundere ich ihn zutiefst. Er wendete tatsächlich einen der Widersprüche in seinem Argument in einen Beweis zu seinen Gunsten um und sagte, daß der Umhang des Mannes für ihn zu lang sei beweise, daß er niemals wie ein normaler Sterblicher über die Erde ging. Während er das sagte, starrte er mich aber durchdringend an; und irgend etwas sagte mir, daß er in diesem Augenblick einen besonders großen Bluff versuchte.«

Dr. Boyne sah nachdenklich drein. »Hatten Sie da schon die Wahrheit entdeckt?« fragte er. »Es gibt in Fragen, die die Identität berühren, etwas Eigenartiges und die Nerven Aufregendes. Ich weiß nicht, ob es unheimlicher ist, ein solches Rätsel schnell oder langsam zu lösen. Ich frage mich, wann Sie Verdacht schöpften und wann Sie sicher waren.«

»Ich glaube, daß ich wirklich Verdacht schöpfte, als ich Sie anrief«, erwiderte sein Freund. »Und das kam von nicht mehr als dem roten Licht von der geschlossenen Tür, das auf dem Teppich aufleuchtete und wieder dunkel wurde. Es sah aus wie eine Blutlache, die lebendig wurde, während sie nach Rache schrie. Warum sollte es sich so verändern? Ich wußte, daß die Sonne nicht herausgekommen war; also konnte es nur dadurch kommen, daß die zweite Tür hinter ihm sich auf den Garten hin geöffnet und geschlossen hatte. Wenn er jedoch hinausgegangen war und dabei seinen Feind gesehen hatte, dann hätte er in diesem Augenblick Alarm geschlagen; aber der Krach begann erst einige Zeit danach. Ich begann zu spüren, daß er hinausgegangen war, um etwas zu tun… um etwas vorzubereiten… aber was den Zeitpunkt angeht, zu dem ich mir sicher war, das ist eine andere Sache. Ich wußte, daß er ganz zum Schluß versuchte, mich zu hypnotisieren, mich mit der schwarzen Kunst von Augen wie Talismane und einer Stimme voller Beschwörung zu beherrschen. Das pflegte er zweifellos beim alten Aylmer zu machen. Aber es war nicht nur die Art, wie er es sagte, es war, was er sagte. Es war die Religion und die Philosophie darin.«

»Ich fürchte, ich bin ein Praktikus«, sagte der Doktor mit rauhem Humor, »und ich kümmere mich nicht viel um Religion und Philosophie.«

»Sie werden niemals ein Praktikus werden, wenn Sie das nicht tun«, sagte Father Brown. »Hören Sie, Doktor; Sie kennen mich ziemlich gut; und ich glaube, Sie wissen, daß ich nicht bigott bin. Sie wissen, wie ich weiß, daß es in allen Religionen alle Arten gibt; gute Menschen in schlechten und schlechte Menschen in guten. Aber eine kleine Tatsache habe ich einfach als Praktikus gelernt, eine ganz praktische Sache, die ich durch Erfahrung aufgeschnappt habe wie die Verhaltensweisen eines Tieres oder die Marken guter Weine. Ich habe kaum je einen Verbrecher getroffen, der, wenn er denn überhaupt philosophierte, nicht nach diesen Grundsätzen von Orientalismus und Wiederkehr und Reinkarnation und Schicksalsrad und Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, philosophiert hätte. Ich habe ausschließlich durch die Praxis herausgefunden, daß ein Fluch auf den Dienern jener Schlange liegt; auf ihrem Bauch sollen sie kriechen und Staub sollen sie fressen; und nie noch ward ein Schuft oder ein Lump geboren, der nicht in dieser Art Geistigkeit hätte schwatzen können. Vielleicht ist das in ihren wirklichen religiösen Ursprüngen anders; aber hier in unserer Welt der arbeitenden Menschen ist das die Religion von Schurken; und da wußte ich, daß ein Schurke sprach.«

»Wie«, sagte Boyne, »ich hätte gedacht, daß ein Schurke sich zu jeder beliebigen Religion bekennen kann.«

»Ja«, stimmte der andere bei, »er könnte sich zu jeder Religion bekennen; das heißt, er könnte jede vortäuschen, wenn es denn alles Vortäuschung ist. Wenn es lediglich eine mechanische Heuchelei und nichts sonst ist, könnte es zweifellos von jedem mechanischen Heuchler getan werden. Jede Sorte Maske kann auf jede Sorte Gesicht gesetzt werden. Jeder kann bestimmte Phrasen lernen oder in Worten behaupten, daß er bestimmte Meinungen habe. Ich kann auf die Straße gehen und behaupten, daß ich ein Wesleyscher Methodist sei oder ein Sandemanit, obwohl ich fürchte, daß ich nicht sehr überzeugend wäre. Wir sprechen aber über einen Künstler; und damit der Künstler Gefallen findet, muß ihm die Maske in einem gewissen Ausmaß aufs Gesicht geformt sein. Was er nach außen vorstellt, muß etwas in ihm entsprechen; er kann seine Wirkungen nur aus den Materialien seiner Seele erzielen. Ich nehme an, er hätte behaupten können, Wesleyaner zu sein; aber er hätte niemals ein so überzeugender Methodist sein können, wie er als Mystiker und Fatalist überzeugen konnte. Ich spreche von der Art Ideale, an die ein solcher Mann denkt, wenn er wirklich idealistisch zu sein versucht. Sein ganzes Spiel mir gegenüber war es, so idealistisch wie nur möglich zu sein; und wann immer das von dieser Art Mann versucht wird, werden Sie im allgemeinen genau diese Art Ideal finden. Diese Art Mensch mag von Blut triefen; aber dennoch wird er immer imstande sein, einem ernsthaft zu erzählen, daß der Buddhismus besser als das Christentum sei. Nein, er wird sogar ganz ernsthaft erzählen, daß der Buddhismus christlicher als das Christentum sei. Das allein genügt, um ein häßliches und gespenstisches Licht auf seine Vorstellungen von Christentum zu werfen.«

»Bei meiner Seele«, sagte der Doktor lachend, »ich komme nicht dahinter, ob Sie ihn nun anklagen oder verteidigen.«

»Es heißt nicht einen Mann verteidigen, wenn man sagt, daß er ein Genie ist«, sagte Father Brown. »Bei weitem nicht. Und es ist eine einfache psychologische Tatsache, daß ein Künstler sich immer durch eine gewisse Wahrhaftigkeit verraten wird. Leonardo da Vinci kann nicht zeichnen, als ob er nicht zeichnen könnte. Selbst wenn er das versuchte, würde doch immer die starke Parodie einer schwachen Sache dabei herauskommen. Dieser Mann hätte aus einem Wesleyaner etwas viel zu Schreckliches und Wunderbares gemacht.«

Als der Priester sich wieder aufmachte und sein Gesicht nach Hause richtete, war die Kälte noch intensiver geworden und war doch irgendwie berauschend. Die Bäume standen da wie silberne Kerzenhalter bei einem unglaublich kalten Kerzenfest der Läuterung. Es war stechend kalt, so wie das silberne Schwert des reinen Schmerzes, das einst die Reinheit selbst durchstach. Aber das war keine tödliche Kälte, abgesehen davon, daß sie jeden sterblichen Widerstand gegen unsere unsterbliche und unmeßbare Lebendigkeit tötete. Der blaßgrüne Himmel der Dämmerung erschien mit seinem einen Stern wie dem Stern von Bethlehem seltsam widersprüchlich als eine Höhle der Klarheit. Es war, als könne es eine grüne Esse der Kälte geben, die alle Dinge wie die Wärme zum Leben erweckte, und daß, je tiefer sie in diese kalten kristallinen Farben eindrängen, sie um so leichter würden wie geflügelte Wesen und klar wie farbiges Glas. Es prickelte von Wahrheit und trennte Wahrheit von Irrtum mit einer Klinge wie Eis; was aber übrigblieb, hatte sich nie zuvor so lebendig gefühlt. Es war, als ob alle Freude ein Juwel im Herzen eines Eisbergs wäre. Der Priester verstand seine Stimmung selber kaum, als er tiefer und tiefer in das grüne Glühen hineinschritt und tiefer und tiefer die jungfräuliche Lebenskraft der Luft einsog. Vergessene Krummheiten und Krankheiten schienen zurückzubleiben oder ausgelöscht zu sein, wie der Schnee die Fußspuren des Blutmannes ausgestrichen hatte.

Als er heimwärts durch den Schnee schlurfte, murmelte er zu sich selbst: »Und doch hat er ganz recht mit seiner Weißen Magie, wenn er nur wüßte, wo er nach ihr suchen muß.«