Das Verhängnis der Darnaways

 

Zwei Landschaftsmaler standen da und betrachteten eine Landschaft, die zugleich ein Seestück war, und beide waren von ihr eigenartig beeindruckt, wenngleich ihre Eindrücke nicht unbedingt die gleichen waren. Für den einen, der ein aufsteigender Künstler aus London war, war sie zugleich neu und fremdartig. Für den anderen, der ein Künstler aus dem Ort, aber über den Ort hinaus berühmt war, war sie zwar besser bekannt; aber vielleicht gerade wegen allem, was er über sie wußte, um so fremder.

Nach Farbe und Form, wie diese Männer sahen, war sie ein Strich Sand gegen einen Strich Sonnenuntergang, und die ganze Szenerie lag da in Strichen düsterer Farben, ein stumpfes Grün und Bronze und Braun und ein Graubraun, das nicht nur matt war, sondern in jenem Dämmerlicht noch geheimnisvoller als Gold. Unterbrochen wurden diese gleichmäßigen Linien nur durch ein langes Gebäude, das sich aus den Feldern in die Sande der See erstreckte, so daß sich seine Umfransung aus traurigem Unkraut und Binsen fast mit dem Seetang zu treffen schien. Doch seine eigentümlichste Eigenart war, daß sein oberer Teil die zersplitterten Umrisse einer Ruine aufwies, von so vielen weiten Fensteröffnungen und breiten Rissen durchlöchert, daß er vor dem ersterbenden Licht nur mehr ein dunkles Skelett war, während die untere Masse des Bauwerks praktisch überhaupt keine Fenster hatte, denn die meisten von ihnen waren blind und zugemauert, und ihre Umrisse im Dämmerlicht nur schwach erkennbar. Ein Fenster zumindest war aber immer noch ein Fenster; und das Sonderbarste daran schien, daß es erleuchtet war.

»Wer in aller Welt kann denn in dem alten Gehäuse leben?« rief der Londoner aus, ein großer Mann mit dem Aussehen eines Bohemiens, jung, doch mit einem struppigen roten Bart, der ihn älter aussehen ließ; Chelsea kannte ihn als Harry Payne.

»Gespenster, möchte man annehmen«, erwiderte sein Freund Martin Wood. »Und die Leute, die da leben, sind tatsächlich eher Gespenster.«

Es mag wie ein Paradox erscheinen, daß der Londoner Künstler mit seiner lärmigen Frische und Neugier fast ländlich wirkte, während der örtliche Künstler sehr viel gewiegter und erfahrener schien und ihn mit reifer und gutmütiger Belustigung betrachtete; und tatsächlich war er insgesamt eine ruhigere und konventionellere Erscheinung mit seiner dunkleren Kleidung und dem glattrasierten, eckigen, unerschütterlichen Gesicht.

»Das ist natürlich nur ein Zeichen der Zeit«, fuhr er fort, »oder vielmehr des Vergehens der alten Zeiten, und der alten Familien mit ihnen. In dem Haus leben die letzten der großen Darnaways, und nicht viele der neuen Armen sind so arm wie sie. Sie können es sich nicht einmal leisten, ihr eigenes Obergeschoß bewohnbar zu machen; statt dessen müssen sie in den unteren Räumen einer Ruine leben wie Fledermäuse und Eulen. Und doch besitzen sie Familienporträts, die bis in die Zeit der Rosenkriege und der frühesten Porträtmalerei in England zurückreichen, und manche davon sind sehr schön; ich weiß das, weil sie für deren Auffrischung meinen professionellen Rat erbeten haben. Da ist vor allem eines, und eines der frühesten, das ist so gut, daß man eine Gänsehaut bekommt.«

»Nach dem Aussehen zu schließen macht einem das ganze Haus Gänsehaut«, erwiderte Payne.

»Nun ja«, sagte sein Freund, »um die Wahrheit zu sagen, das stimmt.«

Das folgende Schweigen wurde durch ein schwaches Rascheln in den Binsen am Wassergraben gestört; und verständlicherweise fahren sie leicht zusammen, als eine dunkle Gestalt schnell und fast wie ein aufgeschreckter Vogel am Ufer dahinstrich. Aber es war nur ein Mann, der mit einer schwarzen Tasche in der Hand schnell ausschritt: ein Mann mit einem langen blassen Gesicht und scharfen Augen, die den Fremden aus London auf leicht düstere und mißtrauische Weise betrachteten.

»Das ist nur Dr. Barnet«, sagte Wood einigermaßen erleichtert. »Guten Abend, Doktor. Gehen Sie ins Haus? Ich hoffe, daß niemand krank ist.«

»In einem solchen Haus ist jeder immer krank«, grummelte der Arzt, »nur sind sie manchmal zu krank, um es selbst zu merken. Schon die Luft da drin ist Gifthauch und Pestilenz. Ich beneide den jungen Mann aus Australien nicht.«

»Und wer«, fragte Payne plötzlich und ziemlich geistesabwesend, »könnte der junge Mann aus Australien sein?«

»Ah!« schnob der Arzt. »Hat Ihnen Ihr Freund nichts über ihn erzählt? Soviel ich weiß, kommt er heute an. Roman ganz im alten Stil des Melodrams: Der Erbe kehrt aus den Kolonien in sein zerfallenes Schloß zurück, und alles komplett einschließlich eines alten Familienvertrags, wonach er die Dame zu heiraten hat, die aus dem alten efeubewachsenen Turm Ausschau hält. Komischer alter Unfug, nicht wahr? Aber es geschieht tatsächlich von Zeit zu Zeit. Er hat sogar ein bißchen Geld, der einzige Lichtblick, den es in dieser Angelegenheit je gegeben hat.«

»Was hält denn Miss Darnaway in ihrem efeuumsponnenen Turm selbst von der ganzen Angelegenheit?« fragte Martin Wood trocken.

»Was sie inzwischen auch von allem übrigen hält«, erwiderte der Doktor. »In dieser alten verwucherten Höhle des Aberglaubens denkt man nicht, man träumt nur und läßt sich treiben. Ich glaube, daß sie den Familienvertrag und den Eheherrn aus den Kolonien als Teil des Verhängnisses der Darnaways hinnimmt, wissen Sie. Ich glaube wirklich, wenn er sich als buckliger Neger mit einem Auge und mörderischen Neigungen herausstellt, wird sie lediglich finden, daß das das Tüpfelchen auf dem i ist und ausgezeichnet in diese düstere Szenerie paßt.«

»Sie geben meinem Freund aus London da kein sehr heiteres Bild von meinen Freunden auf dem Lande«, sagte Wood lachend. »Ich hatte eigentlich die Absicht, ihn mit auf Besuch zu nehmen; denn kein Künstler sollte sich die Darnaway-Porträts entgehen lassen, wenn er die Gelegenheit hat. Aber vielleicht sollte ich das besser verschieben, wenn sie sich gerade inmitten der australischen Invasion befinden.«

»Aber um Himmels willen, gehen Sie und besuchen Sie sie«, sagte Dr. Barnet mit Wärme. »Alles, was ihr vergiftetes Leben aufhellt, macht mir meine Aufgabe leichter. Ich fürchte, daß es einer ganzen Menge Vettern aus den Kolonien bedarf, um die Dinge aufzuheitern; je mehr desto heiterer. Kommen Sie, ich werde Sie selbst mit hineinnehmen.«

Als sie sich dem Hause näherten, sahen sie es isoliert wie eine Insel durch einen Graben faulichten Wassers, den sie auf einer Brücke überquerten. Auf der anderen Seite erstreckte sich ein ziemlich weiter Steinboden oder Damm mit großen Rissen, aus denen hier und da Büschel Unkraut und Dornen emporsprossen. Diese Felsenplattform sah im grauen Zwielicht groß und kahl aus, und Payne hätte niemals geglaubt, daß eine solche Ecke der Welt so viel von der Seele einer Wildnis enthalten könnte. Diese Plattform ragte nur nach einer Seite vor wie eine riesige Türschwelle, und dahinter war die Tür; ein sehr niedriger Torbogen aus der Tudor-Zeit stand offen, war aber dunkel wie eine Höhle.

Als der lebhafte Doktor sie ohne Förmlichkeiten hineinführte, erhielt Payne einen weiteren niederschmetternden Eindruck. Er hätte erwarten können, daß er sich beim Aufstieg in einen sehr zerfallenen Turm auf einer sehr engen Wendeltreppe wiederfinde; doch waren in diesem Fall die ersten Schritte ins Haus tatsächlich Stufen abwärts. Sie stiegen mehrere kurze, zerbrochene Treppen hinab in große dämmrige Räume, die, abgesehen von den Reihen dunkler Bilder und staubiger Bücherregale, die traditionellen Kerker entlang dem Burggraben hätten sein können. Hier und da erhellte eine Kerze in einem alten Kerzenhalter einige staubige, zufällige Einzelheiten erstorbener Pracht; aber den Besucher beeindruckte oder bedrückte dieses künstliche Licht weniger als der einzige fahle Schimmer natürlichen Lichtes. Als er den langen Raum hinabschritt, erblickte er das einzige Fenster in jener Mauer – ein sonderbar niedriges ovales Fenster im Stil des späten 17. Jahrhunderts. Das Fremdartige daran aber war, daß es sich nicht unmittelbar zum Himmel hin öffnete, sondern nur zu einer Widerspiegelung des Himmels, einem fahlen Streifen Tageslicht, zurückgeworfen vom Spiegel des Wassergrabens im überhängenden Schatten des Ufers. Payne kam eine Erinnerung an die Dame von Shallot, die die Außenwelt nie anders als in einem Spiegel sah. Die Dame dieses Shallot aber sah die Welt gewissermaßen nicht nur in einem Spiegel, sondern auch noch auf dem Kopfe stehend.

»Das ist, als ob das Haus der Darnaways nicht nur buchstäblich, sondern auch bildlich falle«, sagte Wood mit leiser Stimme, »als ob es langsam in Sumpf oder Treibsand versinke, bis die See es wie ein grünes Dach bedeckt.«

Selbst der derbe Dr. Barnet zuckte ein wenig zusammen beim schweigenden Näherkommen einer Gestalt, die sie empfangen wollte. Tatsächlich war der Raum so still, daß die Erkenntnis, er sei nicht leer, sie alle erschreckte. Drei Menschen befanden sich in ihm, als sie ihn betraten: drei undeutliche Gestalten bewegungslos im undeutlichen Raum; alle drei in Schwarz gekleidet und dunklen Schatten ähnlich. Als die vorderste der Gestalten in das graue Licht des Fensters kam, zeigte sie ein Gesicht fast so grau wie ihr Haarkranz. Das war der alte Vine, der Verwalter, seit langem in loco parentis, seit dem Tode jenes exzentrischen Vaters, des letzten Lord Darnaway. Er wäre ein schöner alter Mann gewesen, hätte er nur keine Zähne gehabt. Aber er hatte einen, der ab und zu sichtbar wurde und ihm ein reichlich finsteres Aussehen gab. Er empfing den Doktor und dessen Freunde mit ausgesuchter Höflichkeit und geleitete sie dorthin, wo die beiden anderen Gestalten in Schwarz saßen. Die eine davon, schien Payne, gab dem Schloß einen weiteren passenden Hauch düsteren Alters durch die einfache Tatsache, daß es sich um einen katholischen Priester handelte, der aus einem der Priesterlöcher der finsteren alten Tage hervorgekrochen sein mochte. Payne konnte sich vorstellen, wie er Gebete murmelte oder den Rosenkranz betete oder Glocken läutete oder andere undeutliche und melancholische Dinge an jenem melancholischen Ort trieb. Im Augenblick hätte man annehmen können, daß er der Dame religiöse Tröstungen zuteil werden ließ; doch konnte man kaum annehmen, daß die Tröstungen sehr tröstlich, oder auch nur besonders aufheiternd waren. Im übrigen erschien der Priester als Person reichlich unbedeutend mit seinem derben und eher ausdruckslosen Gesicht; mit der Dame aber war es eine ganz andere Sache. Ihr Gesicht war weit davon entfernt, derb oder unbedeutend zu sein; es hob sich aus der Dunkelheit von Kleidung und Haar und Hintergrund mit einer Blässe hervor, die fast furchterregend war, und mit einer Schönheit, die fast furchterregend lebendig war. Payne sah es so lange an, wie er nur wagte; und bevor er starb, sollte er es noch viel länger ansehen.

Wood tauschte mit seinen Bekannten nur jene freundlichen und höflichen Sätze, die für sein Ziel nötig waren, die Porträts erneut zu besuchen. Er bat um Entschuldigung dafür, daß er an einem Tag zu Besuch kam, der, wie er gehört habe, der Tag eines Familienempfangs sei; aber er war bald überzeugt, daß die Familie doch eher erleichtert war, Besucher zu haben, die sie ablenken oder den Schock mildern konnten. Deshalb zögerte er nicht, Payne durch den zentralen Empfangsraum in die dahinter liegende Bibliothek zu führen, wo das Porträt hing, denn eines gab es da, das zu zeigen er besonders erpicht war, nicht als Bild allein, sondern fast als Rätsel. Der kleine Priester schlurfte mit ihnen; er schien sowohl von alten Bildern etwas zu verstehen als auch von alten Gebeten.

»Ich bin eigentlich stolz darauf, es entdeckt zu haben«, sagte Wood. »Ich glaube, es ist ein Holbein. Und wenn nicht, so doch von jemandem, der in Holbeins Zeit lebte und ebenso groß war wie Holbein.«

Es war ein Porträt im harten, aber ehrlichen und lebendigen Stil jener Zeit, das einen Mann in schwarzer, mit Gold und Pelzen verzierter Kleidung darstellte, mit einem schweren und vollen, ziemlich bleichen Gesicht, aber wachsamen Augen.

»Welch ein Jammer, daß die Kunst nicht für immer in jener Übergangszeit stehenbleiben konnte«, rief Wood, »und nie mehr zu anderem überging. Sehen Sie nicht, wie es gerade realistisch genug ist, um real zu sein? Wie das Gesicht um so deutlicher spricht, weil es aus einem steiferen Rahmen weniger wichtiger Dinge hervortritt? Und die Augen sind noch wirklicher als das Gesicht. Bei meiner Seele, ich glaube, die Augen sind zu wirklich für das Gesicht! Es ist fast so, als ob diese schlauen schnellen Augäpfel aus einer großen blassen Maske hervorträten.«

»Mir scheint, daß auch die Gestalt etwas Steifes hat«, sagte Payne. »Als das Mittelalter endete, war man zumindest im Norden noch nicht ganz Herr der Anatomie. Das linke Bein da scheint mir ziemlich verzeichnet.«

»Ich bin da nicht so sicher«, erwiderte Wood ruhig. »Diese Burschen, die gerade malten, als der Realismus Auftrieb bekam und ehe er übertrieben wurde, waren oft realistischer als wir glauben. Sie gaben Dingen, die wir für lediglich konventionell halten, porträthafte Ähnlichkeit. Du kannst sagen, daß dieses Mannes Augenbrauen oder Augenhöhlen ein bißchen schief liegen; aber ich wette, du würdest, falls du ihn kenntest, feststellen, daß die eine seiner Augenbrauen tatsächlich höher hinaufreicht als die andere. Und ich würde mich nicht wundern, wenn er tatsächlich lahm oder so etwas gewesen wäre und das schwarze Bein wirklich krumm sein sollte.«

»Wie ein alter Teufel sieht er aus!« brach Payne plötzlich heraus. »Ich hoffe, Hochwürden wird mir das vergeben.«

»Ich glaube an den Teufel, danke«, sagte der Priester mit undurchdringlichem Gesicht. »Seltsamerweise gibt es eine Legende, daß der Teufel lahm war.«

»Aber«, protestierte Payne, »Sie wollen doch nicht wirklich behaupten, daß er der Teufel ist; aber wer beim Teufel war er?«

»Er war der Lord Darnaway unter Heinrich VII. und Heinrich VIII.«, erwiderte sein Gefährte. »Aber auch ihn umgeben eigenartige Legenden; auf deren eine weist jene Inschrift im Rahmen hin, und sie ist weiter in einigen Notizen ausgeführt, die jemand in einem Buch hinterließ, das ich hier gefunden habe. Beides liest sich reichlich eigenartig.«

Payne beugte sich vor und verdrehte den Hals so, daß er der archaischen Inschrift folgen konnte, die rings um den Rahmen lief. Wenn man die altertümliche Schreibweise und Rechtschreibung beiseite ließ, handelte es sich um eine Art Reim, der etwa so lautete:

 

»Im siebenten Erben bin ich erneut:

In der siebenten Stunde mach’ ich mich fort:

Niemand halte dann meine Hand:

Und weh der, die dann mein Herz erfreut.«

 

»Klingt irgendwie gruselig«, sagte Payne, »aber das kommt vielleicht daher, daß ich kein Wort davon verstehe.«

»Es ist auch reichlich gruselig, wenn du es verstehst«, sagte Wood leise. »Der Eintrag, der zu einem späteren Zeitpunkt in das alte Buch gemacht wurde, das ich gefunden habe, berichtet, wie dieser reizende Knabe sich absichtlich selbst so getötet hat, daß seine Frau als Mörderin hingerichtet wurde. Eine andere Eintragung erinnert an eine spätere Tragödie, sieben Erbfolgen später – unter den Georges –, bei der sich ein anderer Darnaway umbringt, nachdem er zuvor vorsorglich Gift in den Wein seiner Frau gegeben hatte. Es wird behauptet, daß beide Selbstmorde um 7 Uhr abends stattfanden. Ich nehme an, die Schlußfolgerung daraus lautet, daß er wirklich in jedem 7. Erben wiederkehrt und, wie der Reim andeutet, dann die Dinge für jene Dame, die unklug genug war, ihn zu heiraten, höchst unerfreulich gestaltet.«

»Nach dieser Argumentation«, erwiderte Payne, »wird es für den nächsten 7. Gentleman ein bißchen unbequem werden.«

Woods Stimme wurde noch leiser, als er sagte:

»Der neue Erbe wird der 7. sein.«

Harry Payne wölbte plötzlich seine breite Brust und reckte seine Schultern wie ein Mann, der eine Last abwirft.

»Was schwatzen wir bloß für dämlichen Quatsch?« rief er. »Wir sind doch schließlich alle gebildete Männer in einem aufgeklärten Zeitalter. Bevor ich in diese verdammte dumpfige Atmosphäre gekommen bin, hätte ich niemals geglaubt, daß ich über so was redete, außer um darüber zu lachen.«

»Du hast recht«, sagte Wood. »Wenn du lange genug in diesem unterirdischen Schloß lebst, fängst du an, die Dinge anders zu empfinden. Ich selbst habe angefangen, sonderbar für dieses Bild zu empfinden, nachdem ich es so oft in der Hand gehalten und es aufgehängt habe. Manchmal erscheint es mir, als ob dieses gemalte Gesicht da lebendiger sei als die toten Gesichter der Menschen, die hier leben; daß es eine Art Talisman oder Magnet ist: daß es den Elementen befiehlt und das Schicksal von Menschen und Dingen vollstreckt. Ich nehme an, du würdest das reichlich phantasievoll nennen.«

»Was ist das für ein Geräusch?« rief Payne plötzlich.

Sie alle lauschten, aber da schien kein Geräusch zu sein außer dem dumpfen Dröhnen der fernen See; dann stieg in ihnen das Gefühl auf, als menge sich etwas anderes hinein; etwas wie eine Stimme, die durch das Brausen der Brandung rief, zunächst durch sie gedämpft, doch näher und näher kommend. Im darauffolgenden Augenblick waren sie sicher: Jemand rief draußen in der Dämmerung.

Payne wandte sich zu dem niedrigen Fenster hinter ihm und beugte sich, um hinauszublicken. Es war das Fenster, von dem aus nichts zu sehen war als der Wassergraben mit seinen Spiegelungen von Ufer und Himmel. Doch war dieses umgekehrte Spiegelbild nicht das gleiche, das er zuvor gesehen hatte. Aus dem überhängenden Schatten des Ufers im Wasser hingen zwei dunkle Schatten herab, die Füße und Beine einer Gestalt widerspiegelten, welche oben auf dem Ufer stand. Durch jene begrenzte Öffnung konnten sie nichts anderes sehen als die beiden Beine, schwarz vor der Spiegelung eines bleichen und fahlen Sonnenuntergangs. Aber irgendwie gab gerade die Tatsache, daß der Kopf unsichtbar war, als stecke er in den Wolken, dem nachfolgenden Ton etwas Schreckliches; der Stimme eines Mannes, welcher laut etwas rief, das sie nicht genau hören oder verstehen konnten. Payne besonders starrte mit verändertem Gesicht aus dem kleinen Fenster, und er sagte mit veränderter Stimme:

»Wie sonderbar er dasteht!«

»Nein, nein«, sagte Wood in einer Art beruhigenden Flüsterns. »Dinge sehen in der Widerspiegelung oft so aus. Es ist das Wabern des Wassers, was dich das denken läßt.«

»Was denken läßt?« fragte der Priester kurz.

»Daß sein linkes Bein krumm sei«, sagte Wood.

Payne hatte das ovale Fenster wie eine Art mystischen Spiegels gesehen; und ihm schien es, als wären darin noch andere unergründliche Bildnisse des Verhängnisses. Neben der Gestalt gab es noch etwas anderes, das er nicht verstand; drei dünnere Beine zeigten sich wie dunkle Linien gegen das Licht, als stünde dreibeinig eine ungeheure Spinne oder ein Vogel neben dem Fremden. Dann kam ihm der weniger verrückte Gedanke an ein Dreibein wie das der heidnischen Orakel; und im nächsten Augenblick war das Ding verschwunden, und die Beine der menschlichen Gestalt bewegten sich aus dem Bild.

Er wandte sich um und sah in das fahle Gesicht des alten Vine, des Hausverwalters, dem der Mund offen stand, bereit zu sprechen, der einzige Zahn sichtbar.

»Er ist gekommen«, sagte er. »Das Schiff aus Australien ist heute früh angekommen.«

Und noch während sie aus der Bibliothek in den zentralen Salon gingen, hörten sie die Schritte des Neuankömmlings, wie er die Eingangsstufen herabklapperte und eine Reihe leichter Gepäckstücke hinter sich herzog. Als Payne eines davon erblickte, lachte er erleichtert auf. Sein Dreibein war nichts anderes als das Stativ einer tragbaren Kamera, leicht ein- und auszupacken; und der Mann, der es trug, schien ebenso handfeste und normale Eigenschaften anzunehmen. Er trug dunkle Kleidung, aber von salopper und feriengemäßer Art; sein Hemd war aus grauem Flanell, und seine Stiefel hallten selbstbewußt genug in jenen stillen Räumen wider. Als er vortrat, um seine neue Umgebung zu begrüßen, hing seinem Schritt kaum mehr als der Hauch eines Hinkens an. Aber Payne und seine Gefährten sahen ihm ins Gesicht, und konnten den Blick kaum davon abwenden.

Er bemerkte offenbar etwas Sonderbares und Ungemütliches in seinem Empfang; aber sie hätten beschwören können, daß er selbst die Ursache davon nicht kannte. Die Dame, die in einem gewissen Sinne bereits als ihm anverlobt galt, war wahrlich schön genug, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln; aber zugleich erschreckte sie ihn offensichtlich auch. Der alte Hausverwalter brachte ihm eine Art feudaler Huldigung dar, behandelte ihn aber zugleich so, als sei er das Familiengespenst. Der Priester schließlich blickte ihn mit einem Gesicht an, das vollkommen undeutbar und daher vielleicht um so entnervender war. Eine neue Art Ironie, der griechischen Ironie ähnlicher, zog in Paynes Geist ein. Er hatte sich den Fremden als einen Teufel gedacht, und nun erschien es fast schlimmer, daß er ein unbewußtes Schicksal war. Er schien auf das Verbrechen zuzumarschieren mit der ungeheuerlichen Unschuld eine Ödipus. Er hatte sich dem Haus seiner Väter mit so blinder Heiterkeit genaht, daß er seine Kamera aufgebaut hatte, um den ersten Anblick zu photographieren; aber selbst die Kamera hatte das Aussehen des Dreifußes einer tragischen Pythia angenommen.

Payne war, als er wenig später Abschied nahm, überrascht über etwas, das zeigte, daß sich der Australier seiner Umwelt bereits nicht mehr so unbewußt war. Er sagte nämlich mit leiser Stimme:

»Gehen Sie nicht… oder kommen Sie bald zurück. Sie sehen wie ein menschliches Wesen aus. Dieses Haus macht mich verrückt.«

Als Payne aus diesen fast unterirdischen Hallen auftauchte in die Nachtluft und den Duft des Meeres, fühlte er sich, als komme er aus jener Unterwelt der Träume, in der Ereignisse sich gleichzeitig auf unruhige und unwirkliche Art überstürzen. Die Ankunft des fremden Verwandten war irgendwie unbefriedigend und sozusagen unüberzeugend erfolgt. Die Verdoppelung des Gesichtes aus dem alten Porträt in dem neu Angekommenen beunruhigte ihn wie ein zweiköpfiges Monstrum. Und doch war es nicht unbedingt ein Alptraum; und möglicherweise war es nicht das Gesicht, das er am deutlichsten vor sich sah.

»Sagten Sie«, fragte er den Arzt, als sie gemeinsam über die gestreiften dunklen Sande an der dunkelnden See dahinschritten, »sagten Sie, daß der junge Mann Miss Darnaway durch einen Familienvertrag oder so was verlobt sei? Klingt ja fast wie ein Roman.«

»Aber wie ein historischer«, antwortete Dr. Barnet. »Die Darnaways versanken alle vor einigen Jahrhunderten in Schlaf, als jene Dinge wirklich getan wurden, von denen wir nur noch in Romanen lesen. Ja, ich glaube, daß es da so eine Familientradition gibt, wonach Vettern und Cousinen zweiten oder dritten Grades immer dann heiraten, wenn sie in einem bestimmten Alter zueinander stehen, um das Vermögen zusammenzuhalten. Verdammt dumme Tradition, würde ich sagen; und wenn sie auf diese Weise oft untereinander geheiratet haben, dann könnte das auf Grund der Vererbungsgesetze Ursache dafür sein, daß sie so degeneriert sind.«

»Ich würde nicht behaupten«, antwortete Payne etwas steif, »daß sie alle degeneriert sind.«

»Nun ja«, erwiderte der Doktor, »der junge Mann sieht natürlich nicht degeneriert aus, auch wenn er mit Sicherheit hinkt.«

»Der junge Mann!« schrie Payne, der plötzlich und unvernünftig Ärger empfand. »Nun, wenn Sie glauben, daß die junge Dame degeneriert aussieht, dann, glaube ich, haben Sie einen degenerierten Geschmack.«

Das Gesicht des Arztes wurde dunkel und bitter. »Ich glaube, davon weiß ich mehr als Sie«, schnappte er.

Sie beendeten ihren Marsch schweigend, wobei jeder das Gefühl hatte, unvernünftig grob gewesen zu sein, und ebenso unter unvernünftiger Grobheit gelitten zu haben; und Payne mußte allein über der Angelegenheit brüten, denn sein Freund Wood war zurückgeblieben, um sich um seine Angelegenheiten im Zusammenhang mit den Bildern zu kümmern.

Payne nahm die Einladung des Vetters aus den Kolonien, der jemanden brauchte, um ihn aufzuheitern, höchst ausführlich wahr. Während der nächsten Wochen sah er ein Gutteil vom dunklen Inneren des Hauses der Darnaways; obwohl gesagt werden mag, daß er sich nicht ausschließlich darauf beschränkte, den kolonialen Vetter aufzuheitern. Die Melancholie der Dame war bereits älteren Ursprungs und bedurfte vielleicht größerer Aufhellung; wie auch immer, er zeigte eifrige Bereitschaft, sie aufzuhellen. Er war jedoch nicht ohne Gewissen, und die Situation machte ihn nachdenklich und war ihm unbehaglich. Die Wochen vergingen, und niemand konnte aus dem Verhalten des neuen Darnaway erkennen, ob er sich dem alten Familienvertrag entsprechend als verlobt betrachtete oder nicht. Er durchwandelte träumend die dunklen Galerien und starrte leeren Blickes auf die dunklen und düsteren Bildnisse. Die Schatten dieses Gefangenenhauses begannen offenkundig, sich um ihn zu schließen, und von seiner australischen Selbstsicherheit war wenig übriggeblieben. Payne aber konnte zu jener Frage, die ihn am meisten beschäftigte, nichts herausfinden. Einmal versuchte er, sich seinem Freund Martin Wood anzuvertrauen, als der in seiner Eigenschaft als Bilderaufhänger herumwirtschaftete; aber selbst der verschaffte ihm kaum Aufschluß.

»Mir scheint, du kannst dich da nicht einmischen«, sagte er kurz, »wegen der Verlobung.«

»Natürlich werde ich mich nicht einmischen, wenn es da eine Verlobung gibt«, gab sein Freund zurück; »aber gibt es eine? Ich habe zu ihr natürlich kein Wort gesagt; aber ich habe von ihr genug gesehen, um ziemlich sicher zu sein, daß sie nicht glaubt, es gäbe eine, selbst wenn sie glaubt, es könnte eine geben. Und er sagt nicht, daß es eine gibt, und deutet nicht einmal an, daß es eine geben sollte. Dieses Hin- und Hergeschwanke scheint mir allen gegenüber reichlich unfair.«

»Vor allem dir gegenüber, nehme ich an«, sagte Wood einigermaßen barsch. »Wenn du aber mich fragst, dann sage ich dir, was ich mir denke – ich glaube, er hat Angst.«

»Angst, einen Korb zu bekommen?« fragte Payne.

»Nein; Angst, angenommen zu werden«, antwortete der andere. »Beiß mir den Kopf nicht ab – ich meine nicht, Angst vor der Dame. Ich meine, Angst vor dem Bild.«

»Angst vor dem Bild!« wiederholte Payne.

»Ich meine, Angst vor dem Fluch«, sagte Wood. »Erinnerst du dich nicht an den Reim, wonach das Verhängnis der Darnaways über ihn und sie kommt?«

»Ja gut, aber hör mal«, rief Payne, »selbst das Verhängnis der Darnaways kann nicht beides zugleich haben. Erst sagst du mir, daß ich meinen Willen wegen des Vertrages nicht durchsetzen kann, und dann, daß der Vertrag sich wegen des Fluches nicht durchsetzen kann. Wenn aber der Fluch den Vertrag zerstört, warum sollte sie dann an den Vertrag gebunden sein? Wenn sie Angst davor haben, einander zu heiraten, sind sie frei, sonst jemanden zu heiraten, und Schluß damit. Warum sollte ich darunter leiden, etwas zu beachten, das sie zu beachten nicht die Absicht haben? Mir erscheint deine Haltung reichlich unvernünftig.«

»Natürlich ist das alles ein wüstes Durcheinander«, sagte Wood reichlich ärgerlich, und fuhr fort, den Rahmen eines Gemäldes abzuklopfen.

Plötzlich brach eines Morgens der neue Erbe sein langes und verwirrendes Schweigen. Er tat das auf eine eigentümliche Weise, ein bißchen ungehobelt, wie das seine Art war, offensichtlich besorgt, das Richtige zu tun. Er bat offen um Rat, nicht diese oder jene Person, wie Payne getan hatte, sondern alle zusammen als Gruppe. Als er zu sprechen begann, stellte er sich der ganzen Gesellschaft wie ein Politiker entgegen, der auf Wahlkampfreise ist. Er nannte das einen Showdown. Glücklicherweise war die Dame nicht in diese weiträumige Geste einbezogen; und Payne schüttelte es, wenn er an ihre Gefühle dachte. Aber der Australier war durch und durch redlich; da er es für natürlich hielt, um Hilfe und Information zu bitten, berief er eine Art Familienrat ein, vor dem er seine Karten auf den Tisch legte. Oder besser gesagt: Er schmiß seine Karten auf den Tisch, denn er tat es mit einem ziemlich verzweifelten Ausdruck wie einer, den durch Tage und Nächte der zunehmende Druck eines Problems gequält hat. In dieser kurzen Zeit hatten die Schatten jenes Hauses der niedrigen Fenster und der absackenden Fußböden ihn sonderbar verändert und eine bestimmte Ähnlichkeit gesteigert, die ihnen durch all die Erinnerungen kroch.

Die fünf Männer einschließlich des Doktors saßen um einen Tisch herum; und Payne überlegte sich müßig, daß sein heller Tweedanzug und seine roten Haare die einzigen Farben im Raum sein dürften, denn der Priester und der Hausverwalter trugen Schwarz, und Wood und Darnaway trugen gewöhnlich dunkelgraue Anzüge, die fast wie schwarz aussahen. Vielleicht hatte der junge Mann diesen Unterschied gemeint, als er ihn ein menschliches Wesen nannte. In diesem Augenblick wandte sich der junge Mann selbst in seinem Sessel um und begann zu sprechen. Einen Augenblick später wußte der verblüffte Künstler, daß er über die fürchterlichste Sache auf Erden sprach.

»Ist da irgendwas dran?« sagte er. »Das habe ich mich immer wieder fast bis zum Wahnsinn gefragt. Ich hätte niemals geglaubt, daß ich eines Tages über solche Dinge nachdenken würde; aber dann denke ich an das Porträt und an den Reim und an die Übereinstimmungen, oder wie immer Sie das nennen wollen, und dann wird mir eiskalt. Ist da irgendwas dran? Gibt es ein Verhängnis der Darnaways oder nur einen verdammt eigenartigen Unglücksfall? Habe ich ein Recht zu heiraten, oder bringe ich dadurch etwas Großes und Schwarzes, von dem ich nichts weiß, aus dem Himmel herab auf mich und noch jemanden?«

Sein rollendes Auge schweifte über den Tisch und blieb an dem derben Gesicht des Priesters hängen, zu dem er nun zu sprechen schien. Paynes versunkener praktischer Verstand tauchte wieder auf und protestierte dagegen, daß das Problem des Aberglaubens ausgerechnet vor dieses höchst abergläubische Tribunal gebracht werde. Er saß neben Darnaway und mischte sich ein, ehe der Priester antworten konnte.

»Nun ja, die Übereinstimmungen sind schon merkwürdig, will ich zugeben«, sagte er und bemühte sich um eine Note der Heiterkeit, »aber sicherlich werden wir – « und dann hielt er wie vom Blitz getroffen inne. Denn Darnaway hatte bei der Unterbrechung seinen Kopf scharf über die Schulter gedreht, und während dieser Bewegung schob sich die linke Augenbraue weit höher empor als die andere, und für einen Augenblick starrte ihn das Porträt mit einer gespenstischen Übertreibung der Genauigkeit an. Die anderen sahen es auch; und alle sahen aus, als habe sie ein grelles Licht geblendet. Der alte Verwalter stöhnte dumpf auf.

»Das hat keinen Zweck«, sagte er heiser, »wir haben es mit etwas zu Furchtbarem zu tun.«

»Ja«, stimmte der Priester mit leiser Stimme zu, »wir haben es mit etwas Furchtbarem zu tun; dem Furchtbarsten, das ich kenne, und sein Name ist Unsinn.«

»Was haben Sie gesagt?« sagte Darnaway und sah ihn immer noch an.

»Ich sagte Unsinn«, wiederholte der Priester. »Bisher habe ich nichts dazu gesagt, denn es war nicht meine Angelegenheit; ich hatte in der Nachbarschaft nur vorübergehende Pflichten und Miss Darnaway wollte mich sehen. Aber da Sie mich jetzt persönlich und unmittelbar fragen, ist es leicht zu antworten. Natürlich gibt es kein Verhängnis der Darnaways, das Sie hindern könnte, irgend jemanden zu heiraten, den zu heiraten Sie einen anständigen Grund haben. Kein Mensch ist dazu bestimmt, auch nur die kleinste läßliche Sünde zu begehen, geschweige denn Verbrechen wie Selbstmord und Mord. Sie können nicht dazu gezwungen werden, gegen Ihren Willen böse Dinge zu tun, nur weil Ihr Name Darnaway ist, ebensowenig wie ich, weil mein Name Brown ist. Das Verhängnis der Browns«, fügte er geschmäcklerisch hinzu, »der Fluch der Browns würde sogar noch besser klingen.«

»Und ausgerechnet Sie«, wiederholte der Australier starren Blicks, »raten mir, so darüber zu denken?«

»Ich rate Ihnen, an anderes zu denken«, erwiderte der Priester heiter. »Was ist denn aus der aufsteigenden Kunst des Photographierens geworden? Wie klappt es mit der Kamera? Ich weiß, daß es unten reichlich düster ist, aber die leeren Bögen oben im ersten Stock könnte man leicht in ein erstklassiges Photoatelier verwandeln. Ein paar Arbeiter könnten es im Handumdrehen mit einem Glasdach versehen.«

»Also wirklich«, protestierte Martin Wood, »ich glaube, Sie sollten der letzte Mann auf Erden sein, mit diesen wundervollen gotischen Bögen herumzumachen, die mit zum Besten gehören, was Ihre eigene Religion auf Erden je hervorgebracht hat. Ich hätte mir gedacht, daß Sie ein Gespür für diese Art Kunst haben; aber ich kann nicht verstehen, warum Sie so ungewöhnlich scharf aufs Photographieren sind.«

»Ich bin ungewöhnlich scharf aufs Tageslicht«, antwortete Father Brown, »besonders in dieser dumpfigen Angelegenheit; und die Photographie besitzt die Tugend, aufs Tageslicht angewiesen zu sein. Und wenn Sie nicht wissen, daß ich alle gotischen Spitzbögen auf Erden zu Staub zermahlen würde, um die Gesundheit einer einzigen menschlichen Seele zu retten, dann wissen Sie über meine Religion nicht so viel, wie Sie zu wissen glauben.«

Der junge Australier war wie ein verjüngter Mann auf die Füße gesprungen. »Beim Himmel! Das nenne ich reden«, rief er; »obwohl ich niemals gedacht hätte, das ausgerechnet von dieser Seite zu hören. Ich sage Ihnen, Hochwürden, ich werde etwas tun, um zu zeigen, daß ich meinen Mut noch nicht verloren habe.«

Der alte Hausverwalter sah ihn mit bebender Wachsamkeit an, als spüre er im Trotz des jungen Mannes den Todgeweihten. »Oh«, rief er, »und was wollen Sie jetzt tun?«

»Ich werde das Porträt photographieren«, erwiderte Darnaway.

Und doch schien kaum eine Woche später der Sturm der Katastrophe aus dem Himmel zu brausen und jene Sonne der Vernunft zu verdunkeln, die der Priester vergeblich beschworen hatte, und das Haus der Darnaways erneut in die Düsternis ihres Verhängnisses zu stürzen. Es war leicht genug gewesen, das neue Studio einzurichten; und von innen betrachtet, sah es aus wie jedes andere Studio dieser Art, leer bis auf die Fülle des weißen Lichtes. Wer aus den düsteren Räumen unten kam, hatte mehr als üblich das Gefühl, in eine mehr als moderne Helligkeit zu treten, so leer wie die Zukunft. Auf Anregung von Wood, der das Schloß gut kannte und seinen ersten ästhetischen Widerwillen überwunden hatte, war ein kleiner Raum, der in der oberen Ruine intakt geblieben war, leicht in eine Dunkelkammer umgewandelt worden, in die Darnaway aus dem weißen Tageslicht ging, um dort beim karmesinen Schein einer roten Lampe herumzuwirtschaften. Wood sagte lachend, daß ihn die rote Lampe mit dem Vandalismus versöhnt habe, denn die blutrote Dunkelheit sei so romantisch wie die Höhle eines Alchimisten.

Darnaway war an jenem Tag, da er das rätselhafte Porträt photographieren wollte, bei Tagesanbruch aufgestanden und hatte es aus der Bibliothek über die einzige Wendeltreppe hinauftragen lassen, welche die beiden Stockwerke miteinander verband. Dort hatte er es im vollen weißen Tageslicht auf eine Art Staffelei gestellt und seinen photographischen Dreifuß davor aufgebaut. Er sagte, er sei begierig, eine Reproduktion an einen berühmten Antiquar zu schicken, der bereits über die Antiquitäten des Hauses geschrieben hatte; aber die anderen wußten, daß diese Ausrede sehr viel Tieferes überdeckte. Es war, wenn schon nicht ein geistiger Zweikampf zwischen Darnaway und dem dämonischen Bild, so doch zumindest ein Zweikampf zwischen Darnaway und seinen eigenen Zweifeln. Er wollte das Tageslicht der Photographie von Angesicht zu Angesicht dem dunklen Meisterwerk der Malerei gegenüberstellen und sehen, ob nicht das Sonnenlicht der neuen Kunst die Schatten der alten vertreiben könne.

Vielleicht wollte er deshalb alles allein machen, auch wenn einige Einzelheiten länger zu dauern und mehr als die üblichen Verzögerungen mit sich zu bringen schienen. Auf jeden Fall entmutigte er die wenigen, die sein Studio am Tag dieses Experiments aufsuchten und ihn beim Fokussieren und Herumhantieren in einer sehr einsamen und unzugänglichen Stimmung vorfanden. Der Verwalter hatte ihm eine Mahlzeit hingestellt, da er sich weigerte, herunterzukommen; der alte Herr kam auch einige Stunden später zurück und stellte fest, daß über das Essen mehr oder minder normal verfügt worden war; aber als er es brachte, erfuhr er nicht mehr Dank als ein Grunzen. Payne stieg einmal hinauf, um zu sehen, wie er vorankomme, aber da er den Photographen jeder Unterhaltung abgeneigt vorfand, kam er wieder herunter. Father Brown war den gleichen Weg in unauffälliger Weise gewandert, um Darnaway einen Brief jenes Experten zu bringen, dem die Photographie geschickt werden sollte. Doch ließ er den Brief auf einem Tablett liegen, behielt all seine Gedanken über jenes große Glashaus voller Licht und Ergebenheit in ein Steckenpferd, eine Welt, die er gewissermaßen selber geschaffen hatte, für sich und kam wieder herab. Er sollte Grund haben, sich sehr bald daran zu erinnern, daß er der letzte war, der jene einsame Treppe zwischen den Stockwerken herabgekommen war und einen einsamen Mann und einen leeren Raum hinter sich gelassen hatte. Die anderen standen in dem Salon, der zur Bibliothek führte, genau unter der großen schwarzen Ebenholzuhr, die aussah wie ein riesiger Sarg.

»Wie kam Darnaway voran«, fragte Payne ein wenig später, »als Sie zuletzt oben waren?«

Der Priester fuhr mit der Hand über seine Stirn. »Sagen Sie mir bloß nicht, daß ich anfange zu spinnen«, sagte er mit einem traurigen Lächeln. »Ich glaube, daß mich das grelle Tageslicht da oben geblendet hat und daß ich die Dinge nicht genau erkennen konnte. Aber um ehrlich zu sein: Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, als sei an Darnaways Gestalt, wie er da vor dem Porträt stand, etwas nicht geheuer.«

»Oh, das ist nur das lahme Bein«, sagte Barnet prompt. »Darüber wissen wir doch alles.«

»Wissen Sie«, sagte Payne plötzlich und senkte seine Stimme, »ich glaube nicht, daß wir alles darüber wissen, oder überhaupt etwas. Was ist mit seinem Bein los? Was war mit dem Bein seines Ahnen los?«

»Darüber steht was in dem Buch, das ich dort drinnen gelesen habe, im Familienarchiv«, sagte Wood, »ich werde es Ihnen holen.« Und er ging in die gerade dahinter liegende Bibliothek.

»Ich glaube«, sagte Father Brown ruhig, »daß Mr. Payne einen besonderen Grund hat, gerade das zu fragen.«

»Ich kann es ja ein für alle Mal ausspucken«, sagte Payne, aber mit noch leiserer Stimme. »Schließlich gibt es ja eine vernünftige Erklärung. Jeder Hergelaufene könnte sich so hergerichtet haben, daß er aussieht wie das Porträt. Was wissen wir über Darnaway? Er benimmt sich ziemlich merkwürdig – «

Die anderen starrten ihn reichlich aufgeschreckt an; nur der Priester schien es ruhig aufzunehmen.

»Ich glaube nicht, daß das alte Porträt jemals photographiert worden ist«, sagte er. »Deshalb will er das machen. Darin ist, glaube ich, nichts Merkwürdiges.«

»Wirklich das Natürlichste von der Welt«, sagte Wood lächelnd; er war gerade mit dem Buch in der Hand zurückgekommen. Doch während er noch redete, rührte sich etwas im Uhrwerk der großen dunklen Uhr hinter ihm, und nacheinander hallten die Schläge durch den Raum, bis sie die Zahl 7 erreicht hatten. Mit dem letzten Schlag erscholl ein großes Krachen in der oberen Etage, das das Haus wie ein Donnerschlag erschütterte; und Father Brown hatte bereits die ersten beiden Stufen der Wendeltreppe hinter sich, ehe noch das Geräusch erstorben war.

»Mein Gott!« rief Payne unwillkürlich; »er ist allein da oben.«

»Ja«, sagte Father Brown ohne sich umzuwenden, als er im Treppenaufgang verschwand. »Wir werden ihn allein vorfinden.«

Als sich die übrigen von ihrer ersten Lähmung erholt hatten und in wildem Durcheinander die Steinstufen hinaufrannten und ihren Weg ins neue Studio fanden, da stimmte es in dem Sinne, daß sie ihn allein vorfanden. Sie fanden ihn in den Trümmern seiner großen Kamera, deren lange zersplitterte Beine grotesk in drei verschiedene Richtungen ragten; und Darnaway war auf sie gestürzt, und das eine schwarze krumme Bein lag im vierten Winkel auf dem Fußboden. Für einen Augenblick sah der dunkle Haufen aus, als sei er mit einer riesigen scheußlichen Spinne verschlungen. Doch brauchte es nur wenig mehr als einen Blick und eine Berührung, um zu erkennen, daß er tot war. Nur das Porträt stand unberührt auf der Staffel, und man konnte sich einbilden, daß die lächelnden Augen leuchteten.

Eine Stunde später traf Father Brown bei seinem Bemühen, die Verwirrung des geschlagenen Hauses zu lindern, den alten Hausverwalter, der so mechanisch murmelte, wie die Uhr die schreckliche Stunde gezählt und geschlagen hatte. Und fast ohne hinzuhören wußte er, wie die gemurmelten Worte lauten mußten:

 

»Im siebenten Erben bin ich erneut,

In der siebenten Stunde mach’ ich mich fort.«

 

Als er etwas Tröstliches sagen wollte, schien der alte Mann plötzlich aufzuwachen und vor Zorn zu erstarren; sein Murmeln wandelte sich in einen wilden Schrei.

»Sie!« schrie er, »Sie und Ihr Tageslicht! Selbst Sie werden jetzt nicht mehr sagen, es gebe kein Verhängnis der Darnaways.«

»Meine Ansicht darüber ist unverändert«, sagte Father Brown sanft.

Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich hoffe, Sie werden den letzten Wunsch des armen Darnaway erfüllen und dafür sorgen, daß die Photographie abgeschickt wird.«

»Die Photographie!« rief der Doktor scharf. »Zu was soll das gut sein? Und außerdem, es ist merkwürdig, aber es gibt keine Photographie. Es scheint, als habe er gar keine gemacht, trotz seines Herumwirtschaftens während des ganzen Tages.«

Father Brown drehte sich jäh um. »Dann machen Sie sie«, sagte er. »Der arme Darnaway hatte völlig recht. Es ist von größter Wichtigkeit, daß die Aufnahme gemacht wird.«

Als all die Besucher, der Arzt und der Priester und die beiden Künstler, in schwarzer und trübseliger Prozession über die braungelben Sande davonzogen, waren sie zunächst mehr oder minder schweigsam, so als ob sie betäubt wären. Und in der Tat hatte die Erfüllung jenes vergessenen Aberglaubens in eben dem Augenblick, als sie ihn am meisten vergessen hatten, etwas von einem Donnerschlag aus heiterem Himmel an sich, als Arzt und Priester ihre Köpfe ebenso mit Rationalismus angefüllt hatten wie der Photograph seine Räume mit Tageslicht. Sie mochten so rationalistisch sein, wie sie wollten; aber in hellem Tageslicht war der siebente Erbe wiedergekehrt, und im hellen Tageslicht war er in der siebenten Stunde zu Grunde gegangen.

»Ich fürchte, daß nun alle für ewige Zeiten an den Darnaway-Aberglauben glauben werden«, sagte Martin Wood.

»Ich kenne einen, der das nicht tut«, sagte der Doktor scharf. »Warum sollte ich dem Aberglauben frönen, bloß weil ein anderer dem Selbstmord frönt?«

»Sie glauben, daß der arme Mr. Darnaway Selbstmord begangen hat?« fragte der Priester.

»Ich bin sicher, daß er Selbstmord begangen hat«, erwiderte der Doktor.

»Möglich ist es«, stimmte der andere zu.

»Er war ganz allein da oben, und in seiner Dunkelkammer hatte er eine ganze Apotheke von Giften. Außerdem ist es genau das, was Darnaways zu tun pflegen.«

»Sie glauben also nicht, daß es irgendwas mit der Erfüllung des Familienfluchs zu tun hat?«

»Doch«, sagte der Arzt, »ich glaube an einen Familienfluch, und das ist die Familienkonstitution. Ich habe Ihnen gesagt, es sei erblich und daß sie alle halb verrückt sind. Wenn man dermaßen stagniert und Inzucht betreibt und im eigenen Sumpf brütet, muß man degenerieren, ob man will oder nicht. Die Vererbungsgesetze kann man nicht umgehen; die Wahrheit der Wissenschaft kann man nicht leugnen. Der Verstand der Darnaways zerfällt in Stücke, so wie ihr verrottetes Gebälk und Gemäuer in Stücke zerfällt, zerfressen von der See und der Salzluft. Selbstmord – natürlich hat er Selbstmord begangen; und ich wage zu behaupten, auch alle übrigen werden Selbstmord begehen. Vielleicht das Beste, was sie tun können.«

Während der Mann der Wissenschaft sprach, sprang Payne plötzlich und mit aufschreckender Deutlichkeit das Gesicht der Tochter des Hauses Darnaway in die Erinnerung, eine tragische Maske, blaß vor unergründbarer Schwärze, aber selbst von blendender und sterbliches Maß überstrahlender Schönheit. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, und fand sich sprachlos.

»Aha«, sagte Father Brown zum Doktor, »dann glauben Sie also doch an den Aberglauben?«

»Was meinen Sie – glauben an den Aberglauben? Ich glaube an den Selbstmord als Folge wissenschaftlicher Notwendigkeit.«

»Nun ja«, erwiderte der Priester, »ich kann aber nicht den Deut eines Unterschiedes zwischen Ihrem wissenschaftlichen Aberglauben und jenem anderen magischen Aberglauben erkennen. Beide verwandeln mir am Ende Menschen in Gelähmte, die ihre eigenen Beine und Arme nicht mehr bewegen und ihre eigenen Leben und Seelen nicht mehr retten können. Im Vers heißt es, es sei das Verhängnis der Darnaways, getötet zu werden, und im wissenschaftlichen Lehrbuch heißt es, es sei der Fluch der Darnaways, sich selbst zu töten. In beiden Fällen erscheinen sie mir als Sklaven.«

»Aber ich dachte, Sie hätten gesagt, daß Sie an eine vernünftige Sicht auf diese Dinge glaubten«, sagte Dr. Barnet. »Glauben Sie denn nicht an die Vererbung?«

»Ich sagte, ich glaubte ans Tageslicht«, erwiderte der Priester mit lauter und klarer Stimme, »und ich denke nicht daran, zwischen zwei Gängen untergründigen Aberglaubens zu wählen, die beide im Dunkel enden. Und der Beweis dafür ist: daß Sie sich alle vollständig im dunkeln darüber befinden, was sich wirklich in jenem Haus abgespielt hat.«

»Meinen Sie den Selbstmord?« fragte Payne.

»Ich meine den Mord«, sagte Father Brown, und seine Stimme, obwohl nur leicht angehoben, schien irgendwie über das ganze Uferland zu hallen. »Es war Mord; Mord aber kommt aus dem Willen, den Gott frei geschaffen hat.«

Was die anderen in diesem Augenblick darauf antworteten, sollte Payne nie erfahren. Denn das Wort hatte eine eigentümliche Wirkung auf ihn; es jagte ihn hoch wie ein Trompetenstoß und ließ ihn doch innehalten. Er blieb inmitten der sandigen Einöde stehen und ließ die anderen weitergehen; er spürte das Blut durch seine Adern kribbeln und jene Empfindung, die man Haare-zu-Berge-Stehen nennt; und doch verspürte er ein neues und unnatürliches Glücksgefühl. Ein psychologischer Vorgang, der zu schnell und zu kompliziert war, als daß er ihm hätte folgen können, war bereits zu einer Schlußfolgerung gelangt, die er nicht zu analysieren vermochte; doch war diese Schlußfolgerung erleichternd. Nachdem er für einen Augenblick stehengeblieben war, kehrte er um und ging langsam über die Sande zurück zum Haus der Darnaways.

Er überquerte den Wassergraben mit einem Tritt, der die Brücke erschütterte, und stieg die Treppen hinab und durchquerte die langen Räume mit hallenden Schritten, bis er die Stelle erreichte, wo Adelaide Darnaway saß, vom niedrigen Licht des ovalen Fensters mit einem Heiligenschein umgeben, fast wie eine vergessene Heilige, die man im Lande des Todes zurückgelassen hat. Sie blickte auf, und ein Ausdruck der Verwunderung machte ihr Antlitz nur noch wunderbarer.

»Was ist?« sagte sie. »Warum sind Sie zurückgekommen?«

»Ich bin wegen Dornröschen gekommen«, sagte er in einem Ton, der den Widerhall eines Lachens hatte. »Dieses alte Haus sank vor langer Zeit in Schlaf, wie der Doktor gesagt hat; aber es wäre töricht, wenn Sie vorgäben, alt zu sein. Kommen Sie hinauf ins Tageslicht, und vernehmen Sie die Wahrheit. Ich bringe Ihnen ein Wort; es ist ein schreckliches Wort, aber es sprengt den Bann Ihrer Gefangenschaft.«

Sie verstand kein Wort von dem, was er sagte, aber etwas machte sie aufstehen und sich von ihm die lange Halle hinabgeleiten lassen und die Treppen hinauf und hinaus unter den Abendhimmel. Die Ruinen eines toten Gartens erstreckten sich seewärts, ein alter Springbrunnen mit der Gestalt eines grünspanbedeckten Tritons stand da, der aus einem ausgetrockneten Horn nichts in ein leeres Becken goß. Er hatte diesen trostlosen Umriß oftmals vor dem Abendhimmel gesehen, wenn er vorüberkam, und er war ihm in mehr als einer Hinsicht wie das Sinnbild versunkenen Glücks erschienen. Nicht lange mehr, und zweifellos würden sich diese leeren Brunnen wieder füllen, aber mit den fahlen grünen bitteren Wässern der See, und die Blumen würden ertrinken und ersticken im Seetang. So, hatte er sich gesagt, würde auch die Tochter der Darnaways verheiratet werden; verheiratet werden aber dem Tod und einem Verhängnis, so gehörlos und gefühllos wie die See. Nun aber legte er seine Hand auf den bronzenen Triton wie die Hand eines Riesen und schüttelte ihn, als wolle er ihn wie ein Götzenbild oder einen bösen Gott des Gartens umstürzen.

»Was soll das heißen?« fragte sie gefaßt. »Was ist dieses Wort, das uns frei machen wird?«

»Es ist das Wort Mord«, sagte er, »und die Freiheit, die es bringt, ist so frisch wie Frühlingsblumen. Nein; ich will nicht sagen, daß ich jemanden ermordet habe. Aber die Tatsache, daß irgend jemand ermordet werden kann, ist schon in sich selbst eine gute Neuigkeit nach all den bösen Träumen, in denen Sie gelebt haben. Verstehen Sie denn nicht? In diesem Ihrem Traum geschah alles, was Ihnen geschah, aus Ihnen heraus: Das Verhängnis der Darnaways schlummerte in den Darnaways und entfaltete sich wie eine schreckliche Blume. Es gab selbst durch glücklichen Zufall keine Flucht; alles geschah unausweichlich; ob nun nach Vine und seinem Altweibermärchen, oder nach Barnet und seiner neumodischen Vererbungslehre. Aber dieser Mann, der starb, ist nicht das Opfer eines Zauberfluchs oder ererbten Wahnsinns. Er wurde ermordet; und für uns ist dieser Mord nichts als ein Zufall; ja, requiescat in pace: aber ein glücklicher Zufall. Ein Strahl Tageslicht, denn er ist von außen gekommen.«

Sie lächelte plötzlich. »Ja, ich glaube, ich verstehe. Sie scheinen wie ein Wahnsinniger zu sprechen, aber ich verstehe. Aber wer hat ihn ermordet?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er ruhig, »aber Father Brown weiß es. Und wie Father Brown sagt, geschieht Mord durch den Willen, frei wie der Wind vom Meer.«

»Father Brown ist ein wunderbarer Mensch«, sagte sie nach einer Pause, »er war der einzige Mensch, der je mein Dasein erhellt hat, bis – «

»Bis was?« fragte Payne und machte eine ungestüme Geste, in der er sich ihr zuneigte und das bronzene Monster so von sich stieß, daß es auf seinem Sockel zu wackeln schien.

»Nun, bis Sie es taten«, sagte sie und lächelte wieder.

So ward das Dornröschenschloß erweckt, und es ist nicht Aufgabe dieser Geschichte, die einzelnen Stadien seines Erwachens zu schildern, obwohl sich die meisten ereignet hatten, noch ehe die Dunkelheit dieses Abends auf das Ufer niedersank. Als Harry Payne ein weiteres Mal über jene dunklen Sande heimwärts schritt, die er schon in so vielen Stimmungen überquert hatte, befand er sich auf jenem höchsten Gipfel der Glückseligkeit, der diesem sterblichen Leben beschieden ist, und das ganze rote Meer in ihm wogte in seiner höchsten Flut. Er hätte keinerlei Schwierigkeiten gehabt, sich den ganzen Ort nochmals in Blütenpracht vorzustellen, und den bronzenen Triton strahlend als goldenen Gott, und den Springbrunnen strömend mit Wasser oder Wein. Doch all dieses Prangen und Blühen hatte sich ihm mit dem einen Wort »Mord« entfaltet, und immer noch war es ein Wort, das er nicht verstand. Er hatte es vertrauensvoll aufgenommen, aber das war nicht unweise; denn er gehörte zu jenen, die einen Sinn für den Klang der Wahrheit haben.

Über einen Monat später kehrte Payne in sein Londoner Haus zurück, um eine Verabredung mit Father Brown einzuhalten, und er brachte die gewünschte Photographie mit. Seine Liebesgeschichte war so wohl gediehen, wie das im Schatten einer solchen Tragödie ziemlich war, und um so leichter lag der Schatten selbst auf ihm; aber es war schwierig, ihn als etwas anderes denn den Schatten eines Familiengeschickes anzusehen. Er war auf manche Weise sehr beschäftigt gewesen, und erst nachdem der Haushalt der Darnaways seine strenge Gleichförmigkeit wieder gefunden und das Porträt schon lange wieder seinen Platz in der Bibliothek eingenommen hatte, hatte er es geschafft, es mit einem Magnesiumblitz aufzunehmen. Bevor er es aber wie ursprünglich verabredet dem Antiquar zuschickte, brachte er es dem Priester, der so dringend danach verlangt hatte.

»Ich kann Ihr Verhalten in all dem nicht verstehen, Father Brown«, sagte er. »Sie benehmen sich so, als hätten Sie das Problem schon auf Ihre Weise gelöst.«

Der Priester schüttelte kummervoll den Kopf. »Nicht im geringsten«, antwortete er. »Ich bin wohl sehr dumm, denn ich stecke fest – stecke bei der handfestesten Frage von allen fest. Es ist eine eigenartige Angelegenheit, so einfach bis zu einer gewissen Stelle, und dann – lassen Sie mich einen Blick auf die Photographie werfen, bitte.«

Er hielt sie einen Augenblick lang nahe vor seine zusammengekniffenen kurzsichtigen Augen und sagte dann: »Haben Sie ein Vergrößerungsglas?«

Payne brachte ihm eines, und der Priester schaute einige Zeit höchst aufmerksam hindurch und sagte dann: »Sehen Sie sich den Titel des Buches in der Ecke des Bücherregals neben dem Rahmen an: ›Die Geschichte der Päpstin Johanna‹. Nun frage ich mich… ja, beim Himmel; und das darüber ist irgendwas über Island. Gott! Was für ein eigenartiger Weg, es herauszufinden! Was war ich doch für ein dummer Dackel, daß ich es nicht bemerkt habe, als ich da war!«

»Aber was haben Sie denn herausgefunden?« fragte Payne ungeduldig.

»Das letzte Glied«, sagte Father Brown, »und jetzt stecke ich nicht mehr fest. Ja, ich glaube, ich weiß jetzt, wie sich die ganze unglückliche Geschichte von Anfang bis Ende abspielte.«

»Aber warum?« beharrte der andere.

»Nun, weil«, sagte der Priester mit einem Lächeln, »die Bibliothek der Darnaways Bücher über die Päpstin Johanna und über Island enthält, von einem anderen ganz zu schweigen, das ich da sehe und dessen Titel anfängt ›Die Religion Friedrichs‹, was nicht schwer zu ergänzen ist.« Dann aber, da er den Ärger des anderen sah, erlosch sein Lächeln, und er sagte ernsthafter:

»Tatsächlich ist dieser letzte Punkt, obwohl er das fehlende Glied darstellt, nicht die Hauptfrage. In dem Fall gibt es viel merkwürdigere Dinge. Eines davon ist ein eher merkwürdiges Beweisstück. Lassen Sie mich zuerst etwas sagen, das Sie erstaunen mag. Darnaway starb nicht an jenem Abend um 7 Uhr. Da war er bereits einen ganzen Tag lang tot.«

»Überraschung wäre ein zu mildes Wort«, sagte Payne grimmig, »angesichts der Tatsache, daß wir beide ihn später noch herumgehen sahen.«

»Nein, taten wir nicht«, erwiderte Father Brown gelassen. »Ich meine, wir sahen ihn, oder dachten ihn zu sehen, wie er mit dem Fokussieren seiner Kamera herumhantierte. War aber nicht sein Kopf unter jenem schwarzen Tuch, als Sie durchs Zimmer kamen? Als ich kam, war er. Und da hatte ich den Eindruck, daß etwas an dem Zimmer und der Gestalt sonderbar war. Nicht weil das Bein krumm war, sondern weil es gerade nicht krumm war. Sie war zwar mit der gleichen Art dunkler Kleidung angezogen, aber wenn Sie glauben, einen bestimmten Mann dastehen zu sehen, doch auf eine Weise, wie ein bestimmter anderer Mann zu stehen pflegt, dann werden Sie den Eindruck gewinnen, er stünde da in einer eigenartigen und angestrengten Haltung.«

»Wollen Sie wirklich sagen«, rief Payne mit einem leichten Schauer, »daß das irgendein Unbekannter war?«

»Es war der Mörder«, sagte Father Brown. »Er hatte Darnaway bereits bei Tagesanbruch getötet und die Leiche und sich in der Dunkelkammer versteckt – ein ausgezeichnetes Versteck, da gewöhnlich niemand da reingeht oder viel sehen kann, wenn er es tut. Aber um 7 Uhr ließ er sie natürlich heraus auf den Boden fallen, damit man sich die Sache durch den Fluch erkläre.«

»Aber ich verstehe das nicht«, bemerkte Payne. »Warum hat er ihn denn nicht um 7 Uhr getötet, statt sich für 14 Stunden mit einem Leichnam zu belasten?«

»Lassen Sie mich Ihnen eine andere Frage stellen«, sagte der Priester. »Warum ist die Aufnahme nicht gemacht worden? Weil der Mörder ihn sofort tötete, als er hinaufkam, und ehe er die Aufnahme machen konnte. Für den Mörder war es wesentlich zu verhindern, daß die Photographie den Fachmann für die Antiquitäten der Darnaways erreichte.«

Ein plötzliches Schweigen trat ein, und dann fuhr der Priester mit leiserer Stimme fort:

»Sehen Sie denn nicht, wie einfach das ist? Sie selbst haben doch die eine Möglichkeit erkannt; aber es ist noch einfacher, als selbst Sie gedacht haben. Sie haben gesagt, ein Mann könne hergerichtet werden, um einem alten Bild zu gleichen. Sicherlich aber ist es noch einfacher, ein Bild herzurichten, damit es einem Mann gleicht. In einfachen Worten: Es stimmt auf eine ganz besondere Weise, daß es kein Verhängnis der Darnaways gibt. Es gibt kein altes Bild; es gibt keinen alten Reim; es gibt keine Geschichte von einem Mann, der den Tod seiner Frau verursachte. Aber es gab einen sehr bösen und sehr klugen Mann, der bereit war, den Tod eines anderen Mannes zu verursachen, um ihm die versprochene Frau zu nehmen.«

Der Priester lächelte Payne plötzlich traurig an, als ob er ihm Mut machen wolle. »Für einen Augenblick haben Sie, glaube ich, gedacht, ich meinte Sie«, sagte er, »aber Sie waren nicht der einzige, der das Haus aus Gefühlsgründen immer wieder heimsuchte. Sie kennen den Mann oder denken vielmehr, daß Sie ihn kennten. Doch gibt es Abgründe in dem Mann namens Martin Wood, Künstler und Antiquar, die keine seiner künstlerischen Bekanntschaften zu erraten vermochten. Erinnern Sie sich, daß er gerufen wurde, um die Bilder zu beurteilen und zu katalogisieren; in einer aristokratischen Rumpelkammer dieser Art bedeutet das soviel wie den Darnaways einfach zu sagen, welche Kunstschätze sie überhaupt besaßen. Sie würden keineswegs überrascht sein, wenn Dinge auftauchten, die sie vorher nie gesehen hatten. Es mußte nur gut gemacht werden, und das wurde es; vielleicht hatte er recht, als er sagte, wenn es nicht von Holbein sei, dann von einem ähnlichen Genie.«

»Ich bin wie betäubt«, sagte Payne, »und dabei gibt es zwanzig Dinge, die ich immer noch nicht begreife. Woher wußte er, wie Darnaway aussah? Wie hat er ihn wirklich getötet? Die Ärzte scheinen daran immer noch herumzurätseln.«

»Ich habe bei der Dame eine Photographie gesehen, die der Australier voraufgeschickt hatte«, sagte der Priester, »und es gibt mancherlei Wege, auf denen er Dinge erfahren konnte, sobald der neue Erbe anerkannt war. Wir kennen diese Einzelheiten nicht, aber sie bieten keine Schwierigkeiten. Erinnern Sie sich, daß er in der Dunkelkammer zu helfen pflegte; das scheint mir ein idealer Platz zu sein, um inmitten all der herumstehenden Gifte einen Mann, sagen wir mal, mit einer vergifteten Nadel zu stechen. Nein, das alles sind keine Schwierigkeiten. Die Schwierigkeit, die mich in Verlegenheit brachte, war, wie Wood gleichzeitig an zwei Stellen sein konnte. Wie konnte er den Leichnam aus der Dunkelkammer nehmen und so gegen die Kamera lehnen, daß der in Sekundenschnelle zusammenstürzte, und das, ohne die Treppe herabzukommen, während er doch in der Bibliothek war und ein Buch suchte? Und ich war ein solcher Trottel, daß ich nicht einmal die Bücher in der Bibliothek angesehen habe; und erst auf dieser Photographie habe ich durch unverdientes Glück die einfache Tatsache eines Buches über die Päpstin Johanna gesehen.«

»Sie heben sich Ihr bestes Rätsel für den Schluß auf«, sagte Payne grimmig. »Was in aller Welt hat denn die Päpstin Johanna damit zu tun?«

»Vergessen Sie nicht das Buch über irgend etwas Isländisches«, mahnte der Priester, »oder das über die Religion irgendeines Friedrich. Es bleibt nur noch die Frage, was für eine Art Mensch der letzte Lord Darnaway war.«

»So, bleibt sie das?« bemerkte Payne nachdrücklich.

»Er war ein kultivierter, humorvoller Exzentriker, nehme ich an«, fuhr Father Brown fort. »Als kultivierter Mann wußte er, daß es niemals eine Päpstin Johanna gegeben hat. Als humorvoller Mensch kann er sich durchaus einen Titel wie ›Die Schlangen von Island‹ ausgedacht haben oder etwas Ähnliches, das es auch nicht gibt. Und ich wage, den dritten Titel als ›Die Religion von Friedrich dem Großen‹ zu rekonstruieren, den es ebenfalls nicht gibt. Nun, fällt Ihnen nicht auf, daß genau das die Titel sind, die man auf den Rücken von Büchern kleben könnte, die es auch nicht gibt; oder mit anderen Worten in ein Buchregal, das kein Buchregal ist?«

»Oha!« rief Payne. »Jetzt begreife ich, was Sie meinen. Es gab da eine Geheimtreppe – «

»Hinauf in jenen Raum, den Wood selbst als Dunkelkammer ausgewählt hatte«, sagte der Priester und nickte. »Tut mir leid. Es konnte nicht verhindert werden. Furchtbar banal und dumm, so dumm, wie ich es in diesem ganzen reichlich banalen Fall war. Aber wir waren da in einen wirklich muffigen alten Roman von verfallendem Adel und einem verrottenden Familiensitz verwickelt; und es wäre zuviel gewesen, zu hoffen, daß wir der Geheimtreppe hätten entkommen können. Das war das Priesterloch; und ich verdiente, da reingesperrt zu werden.«