Die Abwesenheit von Mr. Glass

 

Die Konsultationsräume von Dr. Orion Hood, dem hervorragenden Kriminologen und Spezialisten für gewisse moralische Gebresten, zogen sich an der Seeseite von Scarborough hin, hinter einer Reihe sehr großer und heller Terrassentüren, durch die man die Nordsee wie eine endlose Außenmauer aus blaugrünem Marmor sah. An solchen Orten hat die See etwas von der Monotonie eines blaugrünen Tapetensockelstreifens: denn in den Räumen herrschte eine schreckliche Ordentlichkeit, nicht unähnlich der schrecklichen Ordentlichkeit der See. Man darf nun nicht annehmen, daß Dr. Hoods Räume des Luxus oder gar der Poesie entbehrten. Auch diese Dinge waren da, an ihrem Platze; aber man spürte, daß er es niemals gestattete, sie von ihrem Platz zu entfernen. Luxus gab es: Da standen auf einem besonderen Tisch acht oder zehn Kistchen der besten Zigarren; aber sie waren einem Plan gemäß aufgestellt, so, daß sich die stärksten immer der Wand und die leichtesten dem Fenster am nächsten befanden. Jener rechtens Tantalus genannte Ständer mit drei Karaffen Spirituosen in Verriegelung, natürlich die feinsten Marken, stand immer auf dem Tisch des Luxus; doch Phantasiebegabte behaupten, daß der Pegelstand von Whisky, Brandy und Rum sich niemals verändere. Poesie gab es: Die linke Ecke des Raumes war mit einer ebenso vollständigen Sammlung der englischen Klassiker ausgestattet, wie sie die rechte an englischen und ausländischen Physiologen aufweisen konnte. Aber wenn man einen Band Chaucer oder Shelley aus ihrer Reihe nahm, irritierte deren Abwesenheit den Geist ebenso wie eine Lücke in eines Mannes vorderen Zahnreihe. Man konnte nicht behaupten, daß die Bücher niemals gelesen würden; vermutlich wurden sie es, aber da waltete so ein Eindruck, als seien sie an ihre Plätze gekettet wie die Bibeln in alten Kirchen. Dr. Hood behandelte seine privaten Bücherregale, als seien sie eine öffentliche Bibliothek. Und wenn diese strenge wissenschaftliche Unantastbarkeit sich sogar auf die mit Lyrik und Balladen beladenen Borde und die mit Getränken und Tabak beladenen Tische erstreckte, dann braucht nicht ausdrücklich betont zu werden, daß eine noch größere heidnische Heiligkeit jene anderen Regale schützte, die des Spezialisten Fachbibliothek enthielten, und jene anderen Tische, die die zerbrechlichen und sogar zauberhaften Gerätschaften der Chemie und der mechanischen Verfahren trugen.

Dr. Hood durchschritt die Flucht seiner Räume, die – wie die geographischen Schulbücher es ausdrücken – im Osten von der Nordsee und im Westen von den gedrängten Reihen seiner soziologischen und kriminologischen Fachbibliotheken begrenzt wurden. Er war in Künstlersamt gekleidet, aber mit keiner der Nachlässigkeiten eines Künstlers; sein Haar war bereits stark angegraut, wuchs aber dicht und gesund; sein Gesicht war mager, aber gut durchblutet und erwartungsvoll. Alles an ihm und in seinen Räumen wies etwas zugleich Steifes und Ruheloses auf wie jene große nördliche See, an der er (aus rein hygienischen Grundsätzen) sein Heim erbaut hatte.

Das Schicksal, gerade spaßhaft gelaunt, stieß die Tür auf und geleitete jemanden in jene langgestreckten, gestrengen, seebegrenzten Räume, der vielleicht ihr und ihres Herrn verblüffendstes Gegenteil war. In Beantwortung eines kurzen, aber höflichen Klopfens öffnete sich die Tür nach innen, und in den Raum watschelte eine formlose kleine Gestalt, die ihren eigenen Hut und Schirm ebenso unhandlich zu finden schien wie einen großen Berg Gepäck. Der Regenschirm war ein schwarzes und prosaisches Bündel, längst jenseits jeder Reparatur; der Hut war ein schwarzer Hut mit breiten hochgerollten Krempen, klerikal, aber für England ungewöhnlich; der Mann selbst war die reine Verkörperung all dessen, was schlicht und hilflos ist.

Der Doktor betrachtete den Neuankömmling mit zurückhaltendem Erstaunen, nicht unähnlich jenem, das er gezeigt haben würde, wenn irgend ein riesiges, aber offenkundig harmloses Seewesen in sein Zimmer gekrochen wäre. Der Neuankömmling betrachtete den Doktor mit jener strahlenden, aber atemlosen Freundlichkeit, die eine umfangreiche Putzfrau kennzeichnet, der es gerade noch gelungen ist, sich in einen Bus zu stopfen. Eine reiche Mischung aus gesellschaftlicher Selbstbeglückwünschung und körperlicher Durcheinanderkeit. Sein Hut war auf den Teppich gefallen, sein schwerer Schirm glitt ihm polternd zwischen die Beine; er griff nach dem einen und bückte sich nach dem anderen, sprach aber mit einem unbeschädigten Lächeln auf seinem runden Gesicht gleichzeitig wie folgt:

»Mein Name ist Brown. Bitte um Vergebung. Ich komme wegen dieser Sache mit den MacNabs. Ich habe gehört, daß Sie oft Menschen aus solchen Schwierigkeiten helfen. Um Vergebung, wenn ich mich irre.«

Inzwischen hatte er unter Verrenkungen seinen Hut zurückgewonnen und machte nun eine sonderbare kleine ruckende Verbeugung über ihn hin, als sei damit alles in zufriedenstellender Ordnung.

»Ich gestehe, Sie nicht zu verstehen«, erwiderte der Wissenschaftler mit kalter intensiver Höflichkeit. »Ich fürchte, Sie haben sich in der Tür geirrt. Ich bin Dr. Hood, und meine Arbeit ist fast ausschließlich literarisch und erzieherisch. Es trifft zu, daß ich manchmal von der Polizei in Fällen besonderer Schwierigkeit und Wichtigkeit konsultiert worden bin, aber – «

»Oh, dieser ist von der größten Wichtigkeit«, fiel ihm der kleine Mann namens Brown ins Wort. »Wissen Sie, ihre Mutter läßt nicht zu, daß sie sich verloben.« Und er lehnte sich in fröhlicher Vernünftigkeit in seinen Stuhl zurück.

Die Brauen von Dr. Hood zogen sich düster zusammen, aber die Augen unter ihnen leuchteten hell, aus Ärger oder aus Erheiterung. »Aber dennoch«, sagte er, »verstehe ich immer noch nicht.«

»Passen Sie auf, sie wollen heiraten«, sagte der Mann mit dem klerikalen Hut. »Maggie MacNab und der junge Todhunter wollen heiraten. Nun also, und was könnte noch wichtiger sein?«

Die wissenschaftlichen Triumphe des großen Orion Hood hatten ihn mancher Dinge beraubt – die einen behaupten seiner Gesundheit, die anderen seines Gottes; aber sie hatten ihm nicht völlig den Sinn fürs Absurde genommen. Bei dieser letzten Vorbringung des einfältigen Priesters brach ein Kichern aus seinem Inneren hervor, und er warf sich in der ironischen Haltung eines konsultierten Arztes in seinen Lehnstuhl.

»Mr. Brown«, sagte er feierlich, »es ist mindestens 14 und 1/2 Jahr her, seit ich persönlich ersucht wurde, ein persönliches Problem zu untersuchen: Damals ging es um einen versuchten Giftanschlag auf den französischen Präsidenten bei einem Bankett des Londoner Oberbürgermeisters. Jetzt also handelt es sich, soweit ich verstehe, um die Frage, ob eine Ihrer Bekannten namens Maggie die geeignete Verlobte für einen ihrer Bekannten namens Todhunter ist. Alsdann, Mr. Brown, ich bin Sportsmann. Ich übernehme den Fall. Ich werde der Familie MacNab meinen besten Rat zuteil werden lassen, so gut, wie ich ihn dem französischen Präsidenten und dem König von England zuteil werden ließ – nein, besseren; 14 Jahre besseren. Heute nachmittag habe ich nichts anderes zu tun. Also erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«

Der kleine Kirchenmann namens Brown dankte ihm mit unbestreitbarer Wärme, aber immer noch in einer sonderbaren Art von Schlichtheit. Es war eher, als danke er einem Fremden in einem Raucherzimmer für die Mühen, ihm die Streichhölzer zu reichen, als daß er sozusagen (was er ja auch tat) dem Direktor von Kew Gardens dafür dankte, ihn aufs Feld zu begleiten, um ein vierblättriges Kleeblatt zu suchen. Und so begann er praktisch ohne einen Strichpunkt nach seinem herzlichen Dank mit seinem Bericht:

»Wie ich Ihnen sagte, heiße ich Brown; so ist es in der Tat, und ich bin der Priester jener kleinen katholischen Kirche, die Sie sicherlich jenseits jener langgezogenen Straßen bereits gesehen haben, in denen die Stadt nach Norden zu endet. In der letzten und langgezogensten jener Straßen, die wie ein Seedamm an der See entlang läuft, lebt ein Mitglied meiner Herde, sehr ehrbar, aber mit eher heftigem Temperament, eine Witwe namens MacNab. Sie hat eine Tochter, und sie hat Einmieter, und zwischen ihr und ihrer Tochter, und zwischen ihr und den Einmietern – nun ja, ich zweifle nicht, daß man für beide Seiten manches sagen könnte. Gegenwärtig hat sie nur einen Einmieter, den jungen Mann namens Todhunter, aber er hat mehr Schwierigkeiten als alle anderen zusammen verursacht, denn er will die Tochter des Hauses heiraten.«

»Und was«, fragte Dr. Hood mit großem und stillem Vergnügen, »will die Tochter des Hauses?«

»Nun ja, sie will ihn auch heiraten«, rief Father Brown und setzte sich eifrig auf. »Das ist ja gerade die gräßliche Schwierigkeit.«

»Das ist wahrhaft ein fürchterliches Rätsel«, sagte Dr. Hood.

»Dieser junge James Todhunter«, fuhr der Kleriker fort, »ist meines Wissens ein sehr anständiger Mensch; aber schließlich weiß niemand sehr viel. Er ist ein aufgeweckter bräunlicher kleiner Kerl, beweglich wie ein Affe, glattrasiert wie ein Schauspieler und entgegenkommend wie ein geborener Höfling. Er scheint eine ganze Menge Geld zu haben, aber niemand weiß, was er für einen Beruf hat. Mrs. MacNab ist deshalb (da sie einen Hang zum Pessimismus hat) der Überzeugung, daß es sich um etwas Furchtbares handeln muß und möglicherweise mit Dynamit zu tun hat. Das Dynamit muß von scheuer und geräuschloser Art sein, denn der arme Kerl schließt sich nur jeden Tag ein paar Stunden ein und studiert hinter geschlossener Tür irgendwas. Er erklärt, daß diese Zurückgezogenheit zeitlich begrenzt und gerechtfertigt sei, und verspricht, alles vor der Hochzeit zu erklären. Das ist alles, was man genau weiß, aber Mrs. MacNab wird Ihnen eine ganze Menge mehr erzählen, als selbst sie genau weiß. Sie wissen ja, daß Geschichten auf so einem Feld der Unwissenheit wie Gras wachsen. Es gibt Geschichten von zwei Stimmen, die man im Zimmer habe sprechen hören, obwohl bei geöffneter Tür Todhunter immer allein angetroffen wird. Es gibt Geschichten von einem rätselhaften großen Mann mit seidenem Zylinderhut, der einmal aus den Seenebeln, scheinbar direkt aus der See, auftauchte und im Zwielicht sanft über die sandigen Streifen schritt und durch den schmalen Garten, bis man ihn mit dem Einmieter an dessen offenem Fenster sprechen hörte. Das Zwiegespräch scheint in Streit geendet zu haben. Todhunter jedenfalls schlug das Fenster gewaltsam zu, und der Mann mit hohem Hut verschmolz wieder mit dem Seenebel. Diese Geschichte wird von der Familie mit den wildesten Ausschmückungen erzählt; aber ich glaube, daß Mrs. MacNab tatsächlich ihre eigene ursprüngliche Fassung allen anderen vorzieht: daß nämlich der Andermann (oder was immer es sein mag) jede Nacht aus der großen Kiste in der Ecke hervorkriecht, die den ganzen Tag über verschlossen ist. Sie ersehen daraus, wie Todhunters verschlossene Tür als die Eingangspforte zu allen Phantasien und Ungeheuerlichkeiten aus Tausendundeiner Nacht behandelt wird. Und dann ist da dieser kleine Kerl in seiner anständigen schwarzen Jacke, so pünktlich und unschuldig wie eine Standuhr. Er zahlt pünktlich seine Miete; er ist praktisch Abstinenzler; er ist unermüdlich freundlich zu den kleineren Kindern und kann sie den ganzen Tag lang in guter Laune halten; und schließlich und am wichtigsten von allem, er hat sich bei der ältesten Tochter genauso beliebt gemacht, die deshalb bereit ist, morgen mit ihm zum Altar zu schreiten.«

Ein Mann, der sich einmal leidenschaftlich mit einer beliebigen weitgespannten Theorie eingelassen hat, findet immer Vergnügen daran, sie auf jede beliebige Belanglosigkeit anzuwenden. Nachdem der große Spezialist sich einmal zu des Priesters Schlichtheit herabgelassen hatte, ließ er sich ausführlich herab. Er setzte sich bequem in seinem Lehnstuhl zurecht und begann im Tonfall eines etwas geistesabwesenden Dozenten zu reden:

»Selbst bei winzigen Vorkommnissen ist es am besten, zuerst einen Blick auf die Hauptbestrebungen der Natur zu werfen. Eine spezielle Blume mag bei Winterseinbruch nicht sterben, aber die Blumen sterben; ein spezieller Kiesel mag niemals von der Flut benetzt werden, aber die Flut kommt immer. Für den wissenschaftlichen Blick ist die ganze Menschheitsgeschichte eine Reihung von kollektiven Bewegungen, Zerstörungen oder Wanderungen wie das Massensterben der Fliegen im Winter oder die Rückkehr der Vögel im Frühling. Nun heißt das aller Geschichte zugrunde liegende Faktum Rasse. Rasse bringt Religion hervor; Rasse bringt Rechts- wie Religionskriege hervor. Dafür gibt es keinen stärkeren Beweis als jene wilde, unweltliche und aussterbende Rasse, die wir gewöhnlich die Kelten nennen, davon Ihre Freunde, die MacNabs, Musterexemplare sind. Klein, dunkel und von träumerisch schweifendem Blut, nehmen sie leicht die abergläubischen Erklärungen jedes Vorkommnisses hin, wie sie immer noch (Sie werden mir verzeihen) jene abergläubische Erklärung aller Vorkommnisse hinnehmen, die Sie und Ihre Kirche darstellen. Es ist nicht verwunderlich, daß solche Leute mit der stöhnenden See hinter sich und der dröhnenden Kirche vor sich (Sie verzeihen erneut) vermutlich normalen Vorgängen phantastische Züge andichten. Sie mit Ihren beschränkten Gemeindeverantwortlichkeiten sehen nur diese spezielle Mrs. MacNab mit ihrer speziellen Geschichte von den zwei Stimmen und einem großen Mann aus der See. Aber der Mann mit wissenschaftlicher Vorstellungskraft sieht die ganzen Sippen der MacNabs gleichsam über die ganze Erde verstreut, in ihrer letztlichen Durchschnittlichkeit so einförmig wie eine Vogelart. Er sieht Tausende von Mrs. MacNabs in Tausenden von Häusern, wie sie ihre kleinen Tröpfchen Morbidität in die Teetassen ihrer Freunde träufeln; er sieht – «

Ehe der Wissenschaftler seinen Satz abschließen konnte, erscholl von draußen ein weiteres und ungeduldigeres Pochen; jemand in raschelnden Röcken wurde eilends durch die Gänge geleitet, und die Tür öffnete sich einem jungen Mädchen, anständig gekleidet, aber durcheinander und vor Eile feuerrot. Sie hatte vom Seewind verwehtes blondes Haar und wäre von vollendeter Schönheit gewesen, wenn es nicht ihre Wangenknochen gegeben hätte, die in der schottischen Art nach Form und Farbe zu stark betont waren. Ihre Entschuldigung war fast ebenso schroff wie ein Befehl.

»Tut mir leid, Sie zu unterbrechen, Sir«, sagte sie, »aber ich mußte Father Brown gleich nachlaufen; es geht schließlich um Leben oder Tod.«

Father Brown kam in einiger Verwirrung auf die Füße. »Was ist denn los, Maggie?« fragte er.

»Soweit ich das feststellen kann, ist James ermordet worden«, antwortete das Mädchen und atmete immer noch schwer vom rennen. »Der Mann Glass war wieder bei ihm; ich habe sie ganz deutlich durch die Tür reden gehört. Zwei verschiedene Stimmen: denn James spricht leise und kehlig, aber die andere Stimme war hoch und zittrig.«

»Der Mann Glass?« wiederholte der Priester in einiger Verblüffung.

»Ich weiß, daß sein Name Glass ist«, antwortete das Mädchen in großer Ungeduld. »Ich hab ihn durch die Tür gehört. Sie haben sich gestritten, wohl um Geld – denn ich habe James immer wieder sagen hören ›Das ist richtig, Mr. Glass‹ oder ›Nein, Mr. Glass‹, und dann ›Zwei oder drei, Mr. Glass‹. Aber wir reden viel zu viel; Sie müssen sofort mitkommen, vielleicht ist noch Zeit.«

»Zeit wofür?« fragte Dr. Hood, der die junge Dame mit offenkundigem Interesse studiert hatte. »Was gibt es da mit Mr. Glass und seinen Geldsorgen, was solche Dringlichkeit nahelegt?«

»Ich hab versucht, die Tür einzubrechen, und hab es nicht gekonnt«, antwortete das Mädchen kurz. »Dann bin ich in den Hinterhof gerannt und bin aufs Fensterbrett geklettert, von wo man ins Zimmer kucken kann. Alles war dunkel und schien leer zu sein, aber ich schwöre, daß ich James wie ein Häufchen in einer Ecke liegen sah, als ob er betäubt oder erwürgt wäre.«

»Das ist sehr ernst«, sagte Father Brown, schnappte sich seinen wanderlustigen Hut und seinen Schirm und stand auf; »übrigens habe ich gerade diesem Herrn hier Ihren Fall vorgetragen, und seine Meinung – «

»Hat sich entschieden verändert«, sagte der Wissenschaftler ernst. »Ich glaube nicht, daß diese junge Dame so keltisch ist, wie ich angenommen habe. Und da ich nichts anderes zu tun habe, werde ich mir meinen Hut aufsetzen und mit Ihnen in die Stadt hinabgehen.«

Einige Minuten danach näherten sie sich alle drei dem trübseligen Ende der Straße der MacNabs: das Mädchen mit dem festen und atemlosen Schritt des Bergbewohners, der Kriminologe in lässiger Anmut (die nicht ohne eine gewisse leopardenähnliche Schnelligkeit war), und der Priester in einem energischen Trab ohne jede erkennbare Eigenschaft. Der Anblick dieser Ecke der Stadt war nicht gänzlich ohne erkennbare Rechtfertigung für die Hinweise des Doktors auf trostlose Stimmungen und Umgebungen. Die verstreuten Häuser standen weiter und weiter voneinander entfernt, in einer gebrochenen Reihe entlang der Seeküste; der Nachmittag verging in einer verfrühten und halb gespenstischen Dämmerung; die See war von tintigem Purpur und düsterem Raunen. In dem winzigen Garten der MacNabs, der zum Sandstrand hinunterlag, standen zwei schwarze kahle Bäume aufrecht wie vor Erstaunen erhobene Dämonenhände, und als Mrs. MacNab die Straße herabgelaufen kam, um sie mit mageren, ähnlich ausgestreckten Händen zu empfangen, schien sie fast selbst ein Dämon. Der Doktor und der Priester antworteten kaum auf ihre schrillen Wiederholungen der Geschichte ihrer Tochter, die sie von sich aus mit noch mehr beunruhigenden Einzelheiten anreicherte, auf ihre geteilten Racheschwüre gegen Mr. Glass wegen Mordes, und gegen Mr. Todhunter wegen Sichermordenlassens, oder gegen die Kühnheit des letzteren, ihre Tochter heiraten zu wollen, und seine Unfähigkeit, dafür lange genug zu leben. Sie gingen durch den engen Durchgang an der Vorderseite des Hauses, bis sie zur Tür des Einmieters an der Hinterseite kamen, und da warf Dr. Hood mit der Praxis des alten Detektivs seine Schulter scharf gegen das Türpaneel und brach die Tür auf.

Sie öffnete sich auf eine Szene der schweigenden Katastrophe. Keiner, der sie auch nur für einen Augenblick sah, konnte daran zweifeln, daß das Zimmer die Bühne eines schauerlichen Zusammenstoßes zwischen zwei oder vielleicht noch mehr Personen gewesen war. Spielkarten lagen über Tisch und Boden verstreut, als ob ein Spiel unterbrochen worden wäre. Zwei Weingläser standen in Erwartung des Weines auf einem Beisetztisch bereit, doch ein drittes lag, zu einem Stern von Kristallsplittern zerschmettert, auf dem Teppich. Einige Schritte weiter lag etwas wie ein langes Messer oder ein kurzes Schwert, gerade, aber mit reich verziertem und bemaltem Griff; die matte Klinge fing einen grauen Schimmer vom trüben Fenster dahinter ein, durch das man die schwarzen Bäume gegen die bleierne Fläche der See sah. In die gegenüberliegende Zimmerecke war der Seidenzylinder eines Gentlemans gerollt, als habe man ihn soeben erst von seinem Kopf herabgeschlagen; geradezu so deutlich, daß man fast vermeinte, ihn immer noch rollen zu sehen. Und in der Ecke dahinter lag, hingeworfen wie ein Sack Kartoffeln, aber verschnürt wie ein Eisenbahnkoffer, Mr. James Todhunter, mit einem Schal über dem Mund und sechs oder sieben Schlingen um Ellenbogen und Knöchel. Seine braunen Augen waren lebendig und bewegten sich wachsam.

Dr. Orion Hood hielt für einen Augenblick auf der Türmatte inne und nahm die ganze Szene stimmloser Gewalt in sich auf. Dann schritt er schnell über den Teppich, hob den hohen Seidenhut auf und stülpte ihn feierlich auf den Kopf des immer noch gefesselten Todhunter. Er war für ihn so sehr zu groß, daß er ihm fast bis auf die Schultern rutschte.

»Der Hut von Mr. Glass«, sagte der Doktor, der mit ihm zurückkam und sein Inneres mit einer Taschenlampe untersuchte. »Wie soll man die Abwesenheit von Mr. Glass und die Anwesenheit des Huts von Mr. Glass erklären? Denn Mr. Glass geht mit seiner Kleidung nicht unachtsam um. Dieser Hut ist von modischer Form und systematisch gebürstet und gepflegt, wenngleich nicht gerade neu. Ein alter Lebemann, sollte ich meinen.«

»Aber um Himmels willen!« rief Miss MacNab, »wollen Sie denn den Mann nicht zuerst losbinden?«

»Ich sagte ›alter‹ mit Absicht, obwohl nicht mit Sicherheit«, fuhr der Erläuterer fort; »mein Grund dafür mag etwas weit hergeholt erscheinen. Das Haar des Menschen fällt in sehr unterschiedlichem Maße aus, aber es fällt immer aus, und durch die Lupe sollte ich die feinen Haare in einem kürzlich getragenen Hut sehen können. Da sind aber keine, was mich zu der Vermutung bringt, daß Mr. Glass kahl ist. Wenn man dies nun mit der hohen und streitsüchtigen Stimme zusammenbringt, die Miss MacNab so lebhaft beschrieben hat (Geduld, meine liebe Dame, Geduld), wenn wir den kahlen Kopf mit dem Tonfall greisenhaften Zorns zusammenbringen, dann können wir daraus, meine ich, auf einen gewissen Vorschritt in den Jahren schließen. Dennoch war er vermutlich kraftvoll und fast mit Sicherheit hochgewachsen. Ich könnte mich dabei in gewissem Maße auf den Bericht über sein früheres Auftauchen am Fenster stützen, als großgewachsener Mann mit Zylinder, aber ich glaube, daß ich einen genaueren Hinweis habe. Dieses Weinglas ist über das ganze Zimmer zersplittert, aber einer der Splitter liegt oben auf der hohen Konsole neben dem Kaminsims. Kein solches Bruchstück könnte dorthin gefallen sein, wenn das Gefäß in der Hand eines verhältnismäßig kurzen Mannes wie Mr. Todhunter zerbrochen wäre.«

»Übrigens«, fragte Father Brown, »könnten wir Mr. Todhunter nicht ebensogut losbinden?«

»Unsere Lektion aus den Trinkgefäßen ist damit nicht beendet«, fuhr der Spezialist fort. »Ich will gleich sagen, daß der Mann Glass möglicherweise eher durch Ausschweifungen denn durch Alter kahl und nervös wurde. Es wurde gesagt, daß Mr. Todhunter ein ruhiger, sparsamer Mann ist, im wesentlichen ein Abstinenzler. Diese Spielkarten und Weinkelche gehören nicht zu seinen Gepflogenheiten ; sie wurden für einen speziellen Gefährten bereitgestellt. Wir können aber angesichts der Lage der Dinge noch weiter gehen. Mr. Todhunter mag Besitzer dieser Weingläser sein oder auch nicht, aber es gibt kein Anzeichen dafür, daß er Wein besitzt. Was also sollten diese Gefäße enthalten? Spontan möchte ich annehmen Brandy oder Whisky, vielleicht von einer besonderen Sorte, aus einer Flasche in der Tasche von Mr. Glass. Damit entsteht gewissermaßen das Bildnis dieses Mannes, oder wenigstens des Typs: groß, ältlich, elegant, aber bereits etwas verbraucht, Liebhaber sicherlich von Glücksspielen und starken Getränken, vielleicht zu sehr Liebhaber. Mr. Glass ist ein Gentleman, wie er in den Randgebieten der Gesellschaft nicht unbekannt ist.«

»Hören Sie«, rief die junge Frau, »wenn Sie mich nicht vorbeilassen, um ihn loszubinden, laufe ich raus und schreie nach der Polizei.«

»Ich würde Ihnen nicht raten, Miss MacNab«, sagte Dr. Hood gravitätisch, »sich mit der Herbeiholung der Polizei zu überstürzen. Father Brown, ich rate Ihnen ernstlich, Ihre Herde zu beruhigen, in ihrem Interesse, nicht in meinem. Nun denn, wir haben einiges von der Gestalt und dem Wesen des Mr. Glass erkannt; was sind nun die wichtigsten Tatsachen, die wir von Mr. Todhunter kennen? Es sind vor allem drei: daß er sparsam ist, daß er mehr oder minder wohlhabend ist und daß er ein Geheimnis hat. Nun ist es sicherlich offenkundig, daß dies die drei wichtigsten Merkmale der Art Mann sind, der erpreßt wird. Und sicherlich ist es ebenso offenkundig, daß die verblichene Eleganz, die lasterhaften Gepflogenheiten und der schrille Zorn von Mr. Glass die unverkennbaren Merkmale der Art Mann sind, der ihn erpreßt. Wir haben hier die beiden typischen Gestalten aus einer Schweigegeldtragödie: auf der einen Seite den ehrbaren Mann mit einem Geheimnis; auf der anderen den Geier aus dem Westend mit einem Gespür für Geheimnisse. Diese beiden Männer trafen heute hier zusammen und haben miteinander gestritten, wobei sie Hiebe und eine blanke Waffe verwendeten.«

»Werden Sie ihm jetzt diese Stricke abnehmen?« fragte das Mädchen hartnäckig.

Dr. Hood legte den Seidenhut sorgsam auf dem Beistelltisch ab und ging dann hinüber zu dem Gefangenen. Er studierte ihn sorgfältig, bewegte ihn sogar ein wenig und drehte ihn an den Schultern halb herum, antwortete aber nur:

»Nein; ich denke, diese Stricke werden durchaus reichen, bis Ihre Freunde von der Polizei die Handschellen bringen.«

Father Brown, der teilnahmslos auf den Teppich gestarrt hatte, hob sein rundes Gesicht und sagte: »Was meinen Sie damit?«

Der Mann der Wissenschaft hatte den eigenartigen Dolchdegen vom Teppich aufgehoben und untersuchte ihn aufmerksam, als er antwortete:

»Weil Sie Mr. Todhunter zusammengeschnürt vorfinden«, sagte er, »fliegen Sie alle auf die Schlußfolgerung, daß Mr. Glass ihn zusammengeschnürt hat; und dann, vermutlich, entflohen ist. Dagegen sprechen vier Gründe: Erstens, warum sollte ein so eitler Mann wie unser Freund Glass seinen Hut zurücklassen, wenn er das Zimmer aus freien Stücken verließ? Zweitens«, fuhr er fort und ging zum Fenster, »ist dies der einzige Ausgang, und der ist von innen verschlossen. Drittens hat diese Klinge hier einen kleinen Blutfleck an der Spitze, aber an Mr. Todhunter ist keine Wunde. Mr. Glass nahm diese Wunde mit sich fort, tot oder lebendig. Rechnen Sie die einfache Wahrscheinlichkeit hinzu. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, daß die erpreßte Person versucht, ihren Peiniger zu töten, als daß der Erpresser die Gans töten sollte, die ihm die goldenen Eier legt. Mir scheint, da haben wir eine ziemlich vollständige Geschichte.«

»Und die Stricke?« fragte der Priester, dessen Augen in einer Art leerer Bewunderung geöffnet blieben.

»Ja, die Stricke«, sagte der Experte mit eigenartiger Betonung. »Miss MacNab wollte so gerne wissen, warum ich Mr. Todhunter nicht von seinen Stricken befreit habe. Ich will es ihr sagen. Ich habe es nicht getan, weil Mr. Todhunter sich selbst von ihnen in dem Augenblick befreien kann, in dem er das will.«

»Was?« schrie die Zuhörerschaft in den unterschiedlichsten Tönen des Erstaunens.

»Ich habe mir alle Knoten an Mr. Todhunter angesehen«, fuhr Hood ruhig fort. »Ich weiß einiges über Knoten; sie stellen einen eigenen Zweig der Kriminologie dar. Jeden einzelnen dieser Knoten hat er selbst geschlungen und kann ihn auch jederzeit selbst wieder lösen; und nicht einen davon hätte ein Gegner geschlungen, der ihn wirklich hätte fesseln wollen. Diese ganze Angelegenheit mit den Stricken ist ein schlauer Trick, um uns denken zu lassen, er sei das Opfer des Streites statt des unseligen Glass’, dessen Leiche im Garten versteckt sein mag oder in den Kamin geschoben wurde.«

Daraufhin herrschte ein ziemlich bedrücktes Schweigen; das Zimmer wurde dunkel, die von der See verbrandeten Äste der Gartenbäume sahen noch dürrer und schwärzer aus als sonst, ja sie schienen sich dem Fenster genähert zu haben. Fast konnte man sich einbilden, sie seien Seeungeheuer wie Kraken oder Tintenfische, sich windende Polypen, die aus der See heraufgekrochen seien, um das Ende dieser Tragödie zu sehen, so wie einst er, ihr Bösewicht und ihr Opfer, der schreckliche Mann im Zylinder, aus der See herangekrochen war. Denn die ganze Atmosphäre war voll vom Pesthauch der Erpressung, die das pesthafteste aller menschlichen Gebresten ist, denn sie ist ein Verbrechen, das ein Verbrechen verhüllt; ein schwarzes Pflaster auf einer schwärzeren Wunde.

Das Gesicht des kleinen katholischen Priesters, das gewöhnlich zufrieden und sogar etwas komisch aussah, hatte sich plötzlich durch ein sonderbares Runzeln verknotet. Es war das nicht die blanke Neugier seiner ersten Unschuld. Es war vielmehr jene schöpferische Neugier, die auftaucht, wenn einem Mann die Anfänge eines Gedankens kommen. »Sagen Sie das bitte nochmal«, bat er schlicht und zugleich beunruhigt; »meinen Sie wirklich, daß Todhunter sich ganz allein zusammenschnüren und sich ganz allein wieder aufschnüren kann?«

»Genau das meine ich«, sagte der Doktor.

»Jerusalem!« rief Brown plötzlich. »Ich möchte wissen, ob es nicht das sein kann!«

Er hoppelte wie ein Kaninchen durchs Zimmer und blickte mit ganz neuer Lebhaftigkeit in das halbbedeckte Gesicht des Gefangenen. Dann kehrte er der Gesellschaft sein eigenes ziemlich albernes Antlitz zu. »Ja, das ist es!« rief er in einer gewissen Erregung. »Können Sie es dem Mann nicht am Gesicht ablesen? Sehen Sie doch nur in seine Augen!«

Sowohl der Professor wie das Mädchen folgten der Richtung seines Blickes. Und obwohl der breite schwarze Schal die untere Hälfte von Todhunters Gesicht vollständig verbarg, wurde ihnen etwas Angespanntes und Intensives in der oberen Hälfte bewußt.

»Seine Augen sehen sonderbar aus«, rief die junge Frau heftig bewegt. »Ihr seid gemein; ich glaube, es tut ihm weh!«

»Das glaube ich nicht«, sagte Dr. Hood; »die Augen haben sicherlich einen eigenartigen Ausdruck. Aber ich würde diese querlaufenden Faltungen eher interpretieren als Ausdruck einer gewissen psychischen Abnormität – «

»Ach Quatsch!« rief Father Brown: »könnt Ihr denn nicht sehen, daß er lacht?«

»Lacht!« wiederholte der Doktor aufgeschreckt. »Aber worüber in aller Welt kann er denn lachen?«

»Naja«, erwiderte Hochwürden Brown entschuldigend, »ich will da ja nicht drauf herumreiten, aber ich glaube, er lacht über Sie. Und in Wahrheit bin ich durchaus geneigt, auch über mich zu lachen, jetzt da ich es weiß.«

»Jetzt da Sie was wissen?« fragte Hood in leichter Verzweiflung.

»Jetzt da ich weiß«, erwiderte der Priester, »welchen Beruf Mr. Todhunter hat.«

Er hoppelte wieder durch das Zimmer, sah sich einen Gegenstand nach dem anderen mit einer Art leeren Starrens an und brach dann jedesmal in eine ebenso leere Art Lachens aus, ein äußerst verwirrender Vorgang für jene, die ihm zuzuschauen hatten. Er lachte sehr über den Hut, noch brüllender über das zerbrochene Glas, aber das Blut auf der Degenspitze stürzte ihn geradezu in lebensgefährliche Lachkrämpfe. Dann wandte er sich zu dem kochenden Spezialisten um.

»Dr. Hood«, rief er begeistert, »Sie sind ein wahrhaft großer Poet! Sie haben ein ungeschaffenes Wesen aus dem Nichts heraufbeschworen. Wieviel gottähnlicher ist das doch, als wenn Sie nur die einfachen Tatsachen herumgeschnüffelt hätten! Wirklich, die einfachen Tatsachen sind im Vergleich dazu reichlich gewöhnlich und komisch.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte Dr. Hood reichlich hochmütig; »meine Tatsachen sind alle unausweichlich, wenngleich naturgemäß unvollständig. Ein gewisser Platz mag vielleicht der Intuition eingeräumt werden (oder der Poesie, wenn Sie das Wort bevorzugen), aber nur, weil die entsprechenden Einzelheiten gegenwärtig noch nicht gesichert werden können. In der Abwesenheit von Mr. Glass – «

»Das ist es, das ist es«, sagte der kleine Priester und nickte eifrig; »das ist die erste Idee, die man festhalten muß; die Abwesenheit von Mr. Glass. Er ist so überaus abwesend. Ich nehme an«, fügte er nachdenklich hinzu, »daß noch nie jemand so abwesend war wie Mr. Glass.«

»Meinen Sie, daß er aus der Stadt abwesend ist?« fragte der Doktor.

»Ich meine, daß er überall abwesend ist«, antwortete Father Brown; »er ist sozusagen aus der Natur der Dinge abwesend.«

»Wollen Sie damit ernsthaft behaupten«, sagte der Spezialist mit einem Lächeln, »daß es eine solche Person gar nicht gibt?«

Der Priester stimmte durch ein Zeichen zu. »Es ist schon ein Jammer«, sagte er.

Orion Hood brach in ein verächtliches Lachen aus. »Alsdann«, sagte er, »bevor wir uns über die hundertundeins anderen Beweisstücke hermachen, wollen wir den ersten Beweis betrachten, den wir gefunden haben; die erste Tatsache, über die wir fielen, als wir in dieses Zimmer einfielen. Wenn das nicht der Zylinder von Mr. Glass ist, wessen Zylinder ist es dann?«

»Der von Mr. Todhunter«, sagte Father Brown.

»Aber er paßt ihm doch nicht«, rief Hood ungeduldig. »Er kann ihn doch überhaupt nicht tragen!«

Father Brown schüttelte den Kopf mit unaussprechlicher Nachsicht. »Ich habe nie gesagt, daß er ihn tragen könne«, antwortete er. »Ich habe gesagt, daß es sein Hut sei. Oder, wenn Sie auf dem Schatten eines Unterschiedes bestehen, daß dieser Hut ihm gehöre.«

»Und was ist der Schatten eines Unterschiedes?« fragte der große Kriminologe mit leichtem Hohn.

»Lieber Herr«, rief der milde kleine Mann mit einer ersten, der Ungeduld ähnlichen Regung, »wenn Sie die Straße bis zum nächsten Hutgeschäft hinablaufen, werden Sie schon sehen, daß es in der normalen Sprache einen Unterschied gibt zwischen dem Hut eines Mannes und den Hüten, die er besitzt.«

»Aber ein Hutmacher«, protestierte Hood, »kann Geld aus seinem Lager an neuen Hüten ziehen. Was könnte Todhunter denn aus diesem alten Hut ziehen?«

»Kaninchen«, erwiderte Father Brown prompt.

»Was?« schrie Dr. Hood.

»Kaninchen, Bänder, Süßigkeiten, Goldfische, bunte Papierschlangen«, ratterte der hochwürdigste Gentleman rasend schnell herunter. »Haben Sie denn das nicht durchschaut, als Sie die falschen Schlingen fanden? Mit dem Degen ist es das gleiche. Mr. Todhunter hat keinen Kratzer an sich, wie Sie sagten; aber er hat einen Kratzer in sich, wenn Sie mir folgen können.«

»Meinen Sie auf der Innenseite von Mr. Todhunters Kleidern?« fragte Mrs. MacNab streng.

»Ich meine nicht die Innenseite von Mr. Todhunters Kleidern«, sagte Father Brown. »Ich meine die Innenseite von Mr. Todhunter.«

»Und was im Namen aller Irrenhäuser meinen Sie denn damit

»Mr. Todhunter«, erklärte Father Brown gelassen, »lernt die Kunst des berufsmäßigen Zauberkünstlers, Jongleurs, Bauchredners und Entfesselungskünstlers. Die Zaubertricks erklären den Hut. In ihm findet sich keine Spur von Haaren, nicht weil ihn der vorzeitig erkahlte Mr. Glass getragen hätte, sondern weil ihn nie jemand getragen hat. Das Jonglieren erklärt die drei Gläser, die hochzuwerfen und in Bewegung zu halten Mr. Todhunter sich selbst beibrachte. Aber da er auf diesem Gebiet erst Lehrling ist, warf er eines gegen die Decke, wo es zerbrach. Und das Jonglieren erklärt auch den Degen, den zu verschlucken Mr. Todhunters beruflicher Stolz und seine Pflicht ist. Wiederum aber: Da er auch hierin noch ein Lehrling ist, hat er die Innenseite seiner Kehle ganz leicht mit der Waffe angekratzt. Und daher hat er eine Wunde in sich, die (nach dem Ausdruck seines Gesichtes zu urteilen) nicht ernsthaft ist. Und außerdem übt er mit den Schlingen den Entfesselungstrick der Davenport Brothers, und er war gerade dabei, sich selbst zu befreien, als wir alle in das Zimmer platzten. Die Spielkarten sind selbstverständlich für Kartentricks, und sie liegen verstreut auf dem Boden, weil er gerade einen jener Kniffe übte, bei denen man sie durch die Luft fliegen läßt. Und er hat seinen Beruf bloß geheimgehalten, weil er seine Tricks geheimhalten mußte wie jeder andere Zauberer auch. Aber die Tatsache, daß irgendein Müßiggänger mit Zylinder irgendwann einmal in sein Hinterfenster geblickt hat und von ihm in großer Empörung vertrieben wurde, genügte, um uns alle auf die falsche Fährte des Fabulierens zu locken und uns sein ganzes Leben überschattet vom zylinderhütigen Geist des Mr. Glass vorzustellen.«

»Und was ist mit den beiden Stimmen?« fragte Maggie starren Blickes.

»Haben Sie denn nie einen Bauchredner gehört?« fragte Father Brown. »Wissen Sie nicht, wie sie zunächst mit ihrer natürlichen Stimme sprechen und sich dann mit eben jener schrillen, zittrigen, unnatürlichen Stimme antworten, die Sie gehört haben?«

Danach herrschte ein langes Schweigen, und Dr. Hood betrachtete den kleinen Mann, der gesprochen hatte, mit einem düsteren und aufmerksamen Lächeln. »Sie sind wahrhaftig eine sehr einfallsreiche Person«, sagte er; »in einem Buch hätte man es nicht besser machen können. Aber es gibt noch einen einzigen Teil an Mister Glass, den wegzuerklären Ihnen nicht gelungen ist, und das ist sein Name. Miss MacNab hörte genau, wie Mr. Todhunter ihn so anredete.«

Hochwürden Brown brach in ein ziemlich kindliches Kichern aus. »Naja«, sagte er, »das ist der albernste Teil dieser ganzen albernen Geschichte. Während unser jonglierender Freund hier die drei Gläser nacheinander hochwarf, zählte er laut mit, als er sie wieder auffing, und kommentierte es ebensolaut, wenn ihm das mißlang. Was er wirklich sagte, war: ›Eins und zwei und drei – Miste-Glas; eins und zwei und – Miste-Glas.‹ Und so weiter.«

Danach herrschte ein zweites Schweigen in dem Zimmer, und dann brach männiglich wie auf Absprache in Gelächter aus. Gleichzeitig löste die Gestalt in der Ecke behaglich die Schlingen und ließ sie schwungvoll niederfallen. Dann trat sie mit einer Verbeugung in die Mitte des Zimmers und zog aus ihrer Tasche einen großen blau und rot gedruckten Anschlagzettel, der bekannt machte, daß SALADIN, der Welt größter Zauberer, Schlangenmensch, Bauchredner und Menschliches Känguruh, am nächsten Montagabend um genau 8 Uhr im Empire Pavilion zu Scarborough mit einem vollständig neuen Trickprogramm auftreten werde.