Der unsichtbare Mann

 

Im kalten blauen Zwielicht zweier steiler Straßen in Camden Town glühte das Geschäft an der Ecke, eine Konditorei, wie das Ende einer Zigarre. Oder vielleicht sollte man eher sagen wie das Ende eines Feuerwerks, denn das Licht war vielfarben und von einiger Komplexität, da es von vielen Spiegeln gebrochen wurde und auf vielen vergoldeten und fröhlich-bunten Kuchen und Süßigkeiten tanzte. Gegen dieses eine feurige Glas drückten sich die Nasen vieler Gassenjungen, denn all die Schokolade war in jenes metallische Rot und Gold und Grün eingewickelt, das fast noch besser als die Schokolade selbst ist; und der ungeheure weiße Hochzeitskuchen in der Mitte des Schaufensters war irgendwie zugleich unerreichbar und zufriedenstellend, so als wäre der ganze Nordpol leckeres Geschleck. Solch herausfordernder Regenbogenglanz war natürlich geeignet, die Jugend der Nachbarschaft bis zum Alter von 10 oder 12 Jahren zu versammeln. Aber diese Ecke war auch für die reifere Jugend anziehend; und ein junger Mann von nicht weniger als 24 Jahren starrte in das nämliche Schaufenster. Auch für ihn war der Laden von feurigem Zauber, aber diese Anziehungskraft kann nicht allein mit der Schokolade erklärt werden, die er jedoch keineswegs verachtete.

Er war ein großer, kräftiger, rothaariger junger Mann, mit einem entschlossenen Gesicht, aber einem gleichgültigen Auftreten. Er trug unter dem Arm eine flache graue Mappe mit Schwarzweißskizzen, die er mit mehr oder weniger Erfolg Verlegern verkaufte, seit sein Onkel (ein Admiral) ihn als Sozialisten enterbt hatte, wegen eines Vortrags, den er gegen jene Wirtschaftstheorie gehalten hatte. Sein Name war John Turnbull Angus.

Nachdem er schließlich doch eingetreten war, durchschritt er den Laden bis in das Hinterzimmer, eine Art Café, wobei er im Vorbeigehen lässig seinen Hut vor der jungen Dame lüftete, die dort bediente. Sie war ein dunkles, elegantes, waches Mädchen in Schwarz, mit gesunder Gesichtsfarbe und sehr lebhaften dunklen Augen; und nach der gebräuchlichen Pause folgte sie ihm in das Hinterzimmer, um seine Bestellung entgegenzunehmen.

Seine Bestellung war offensichtlich eine übliche. »Ich möchte bitte«, sagte er sehr deutlich, »ein süßes Brötchen und eine kleine Tasse schwarzen Kaffees.« Und einen Augenblick bevor das Mädchen sich abwenden konnte, fügte er hinzu: »Und außerdem möchte ich, daß Sie mich heiraten.«

Die junge Dame aus dem Laden stand plötzlich steif und sagte: »Solche Scherze verbitte ich mir.«

Der rothaarige junge Mann sah sie aus grauen Augen mit unerwarteter Feierlichkeit an.

»Wirklich und wahrhaftig«, sagte er, »mir ist das so ernst – so ernst wie mit dem Brötchen. Es ist kostspielig wie das Brötchen; man muß dafür bezahlen. Es ist unverdaulich wie das Brötchen. Es schmerzt.«

Die dunkle junge Dame hatte währenddessen ihre dunklen Augen nicht von ihm genommen und schien ihn mit fast tragischer Genauigkeit zu studieren. Am Ende ihrer Untersuchung war da so etwas wie der Schatten eines Lächelns, und sie setzte sich auf einen Stuhl.

»Finden Sie nicht auch«, sagte Angus abwesend, »daß es ziemlich grausam ist, diese süßen Brötchen zu verspeisen? Sie könnten sich doch zu süßen Stuten auswachsen. Ich werde diesen brutalen Zeitvertreib aufgeben, sobald wir verheiratet sind.«

Die dunkle junge Dame stand auf und ging zum Fenster, offenbar in einem Zustand heftigen wenn auch nicht mißbilligenden Nachdenkens. Als sie sich endlich mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck wieder umwandte, sah sie verblüfft, daß der junge Mann sorgfältig verschiedene Dinge aus dem Schaufenster auf dem Tisch aufbaute. Darunter eine Pyramide aus schreiendbunten Süßigkeiten, mehrere Platten mit belegten Broten und die beiden Karaffen mit jenen rätselhaften Sorten Portwein und Sherry, die für solche Cafés charakteristisch sind. In die Mitte dieses sorgfältigen Arrangements hatte er vorsichtig die gewaltige Ladung des weißbezuckerten Kuchens niedergelassen, die das riesige Prunkstück im Schaufenster gewesen war.

»Was in aller Welt tun Sie denn da?« fragte sie.

»Meine Pflicht, meine liebe Laura«, begann er.

»Um Himmels willen, hören Sie auf«, rief sie, »und sprechen Sie nicht so mit mir. Ich meine, was soll das alles sein?«

»Ein festliches Essen, Fräulein Hope.«

»Und was ist das?« fragte sie ungeduldig und wies auf den Zuckerberg.

»Der Hochzeitskuchen, Frau Angus«, sagte er.

Das Mädchen marschierte auf jenen Gegenstand los, entfernte ihn mit einigem Geklirr und stellte ihn zurück ins Schaufenster; dann kam sie zurück, stützte die eleganten Ellenbogen auf den Tisch und betrachtete den jungen Mann nicht ungnädig, aber doch in erheblicher Verärgerung.

»Sie lassen mir überhaupt keine Zeit zum Nachdenken«, sagte sie.

»So verrückt bin ich nicht«, antwortete er; »das ist meine Art christlicher Demut.«

Sie sah ihn immer noch an; aber hinter ihrem Lächeln war sie erheblich ernster geworden.

»Mr. Angus«, sagte sie fest, »bevor dieser Unfug auch nur noch eine Minute weitergeht, muß ich Ihnen so kurz wie möglich etwas über mich erzählen.«

»Sehr angenehm«, erwiderte Angus feierlich. »Und wenn Sie schon einmal dabei sind, könnten Sie mir auch etwas über mich erzählen.«

»Ach halten Sie doch den Mund und hören Sie zu«, sagte sie. »Es ist nichts, weswegen ich mich schämen müßte, und es ist nicht einmal etwas, das mir besonders leid tut. Aber was würden Sie sagen, wenn da etwas wäre, das mich eigentlich nichts angeht und doch mein Alptraum ist?«

»In diesem Fall«, sagte der Mann ernsthaft, »schlüge ich vor, daß Sie den Kuchen wieder zurückholen.«

»Na schön, dann müssen Sie sich die Geschichte eben anhören«, sagte Laura beharrlich. »Zunächst müssen Sie wissen, daß meinem Vater das Restaurant ›Zum Roten Fisch‹ in Ludbury gehörte und daß ich dort die Gäste in der Bar bediente.«

»Ich habe mich oft gewundert«, sagte er, »warum diese Konditorei hier so eine Atmosphäre von Christlichkeit umgibt.«

»Ludbury ist ein verschlafenes grünes Nest in Ostengland, und die einzige Art von Leuten, die überhaupt in den ›Roten Fisch‹ kamen, waren gelegentliche Handlungsreisende und im übrigen die schrecklichste Gesellschaft, die Sie je gesehen haben, nur haben Sie sie nie gesehen. Kleine schäbige Taugenichtse, die gerade genügend zum Leben hatten und nichts zu tun, als sich in Bars herumzudrücken und auf Pferde zu wetten, in schäbigen Anzügen, die aber für sie immer noch zu gut waren. Aber nicht einmal diese verkommenen jungen Kerle waren gewöhnlich bei uns zu sehen; bis auf zwei von ihnen, die zu gewöhnlich waren – gewöhnlich in jeder Beziehung. Beide hatten Geld und waren ekelhaft faul und überelegant. Und doch taten sie mir ein bißchen leid, denn ich glaube fast, daß sie sich nur deshalb in unsere kleine leere Bar schlichen, weil jeder von ihnen eine kleine Mißbildung aufwies; von der Art, über die Esel lachen. Nicht eigentliche Mißbildungen; eher Eigentümlichkeiten. Einer von ihnen war ein überraschend kleiner Mann, sowas wie ein Zwerg oder wenigstens ein Jockey. Aber er sah überhaupt nicht wie ein Jockey aus mit seinem runden schwarzen Kopf und seinem sauber geschnittenen schwarzen Bart und seinen hellen Vogelaugen; er klimperte mit dem Geld in seiner Tasche; er klickerte mit seiner dicken goldenen Uhrkette; und nie kam er, ohne zu sehr wie ein Gentleman gekleidet zu sein, um einer zu sein. Er war zwar kein Narr, aber ein nutzloser Faulenzer; er war sonderbar bewandert in allen möglichen brotlosen Künsten; eine Art Gelegenheitszauberer; er machte aus 15 Streichhölzern, die sich aneinander entzündeten, ein regelrechtes Feuerwerk; oder schnitzte aus einer Banane oder was Ähnlichem eine tanzende Puppe. Sein Name war Isidore Smythe; und ich sehe ihn noch vor mir mit seinem kleinen dunklen Gesicht, wie er zum Bartresen kommt und aus 5 Zigarren ein hüpfendes Känguruh macht.

Der andere Bursche war schweigsamer und gewöhnlicher; aber irgendwie beunruhigte er mich sehr viel mehr als der arme kleine Smythe. Er war sehr groß und dünn und hellhaarig; seine Nase war scharf gebogen, und er hätte auf eine gespenstische Weise fast schön sein können; aber er schielte so entsetzlich, wie ich das niemals sonst gesehen oder davon gehört habe. Wenn er einen ansah, wußte man nicht mehr, wo man selbst war, geschweige denn, was er ankuckte. Ich glaube, daß diese Art von Mißbildung den armen Kerl etwas verbitterte; denn während Smythe immer bereit war, seine Taschenspielereien überall vorzuführen, tat James Welkin (so hieß der Schieler) nie etwas anderes, als sich in unserer Bar vollaufen zu lassen und alleine in der flachen grauen Umgebung große Spaziergänge zu machen. Aber ich glaube, daß auch Smythe wegen seiner Kleinheit etwas empfindlich war, obwohl er das besser zu verbergen wußte. Und so war ich denn wirklich verwirrt und zugleich entsetzt, und es tat mir auch sehr leid, als mir beide in der gleichen Woche Heiratsanträge machten.

Und dann tat ich etwas, von dem ich seither manchmal gemeint habe, es sei töricht gewesen. Aber schließlich waren diese schrulligen Kerle auf eine gewisse Art meine Freunde; und die Vorstellung war mir ein Graus, daß sie sich den wahren Grund denken könnten, weshalb ich ihnen einen Korb gab, nämlich ihre unmögliche Häßlichkeit. Also habe ich mir was anderes ausgedacht, daß ich nämlich niemals jemanden heiraten würde, der nicht aus eigener Kraft seinen Weg im Leben gemacht hätte. Ich sagte, ich wolle grundsätzlich nicht von Geld leben, das wie das ihre ererbt sei. Zwei Tage nach dieser gutgemeinten Erklärung begann das ganze Übel. Das erste, was ich hörte, war, daß beide sich aufgemacht hätten, ihr Glück zu suchen, als ob sie in irgendeinem dummen Märchen lebten.

Na ja, und seitdem habe ich bis heute keinen von ihnen wiedergesehen. Aber der kleine Mann namens Smythe hat mir zwei Briefe geschrieben, und die waren ziemlich aufregend.«

»Nie was von dem anderen gehört?« fragte Angus.

»Nein, der hat nie geschrieben«, sagte das Mädchen nach kurzem Zögern. »Der erste Brief von Smythe sagte nur, daß er mit Welkin zusammen losgezogen sei nach London; aber weil Welkin so ein guter Wanderer war, sei der kleine Mann zurückgeblieben und habe am Straßenrand eine Pause eingelegt. Dabei habe ihn irgendeine Wanderschau aufgelesen, und teils weil er fast ein Zwerg war, und teils weil er wirklich ein schlauer kleiner Bursche war, sei er im Schaugeschäft gut vorangekommen und bald vom ›Aquarium‹ engagiert worden wegen irgendwelcher Tricks, derer ich mich nicht entsinne. Das war sein erster Brief. Sein zweiter war sehr viel erschreckender, und den habe ich erst letzte Woche bekommen.«

Der Mann namens Angus leerte seine Kaffeetasse und betrachtete sie mit sanften und geduldigen Augen. Ihr Mund verzog sich zu einem leichten Lachen, als sie fortfuhr: »Sie werden sicher an den Anschlagsäulen all diese Anzeigen für ›Smythes Stummer Dienst‹ gesehen haben? Oder Sie müßten der einzige Mensch sein, der sie nicht gesehen hat. Ich weiß natürlich nicht viel darüber, irgend so eine Uhrwerkerfindung, durch die alle Hausarbeit mittels Maschinen erledigt werden kann. Sie wissen schon, die Art von ›Drücken Sie auf den Knopf – Ihr Diener der Niemals Trinkt‹. ›Ziehen Sie am Hebel – 10 Hausmädchen, die Niemals Flirten‹. Sie müssen die Anzeigen auch gesehen haben. Nun ja, was immer das auch für Apparate sein mögen, sie bringen haufenweise Geld ein; und das alles für den kleinen Kobold, den ich da hinten in Ludbury gekannte habe. Ich kann mir nicht helfen, aber ich freue mich, daß der arme kleine Kerl auf die Füße gefallen ist; aber Tatsache ist auch, daß ich entsetzliche Angst davor habe, er könnte jede Sekunde auftauchen und mir mitteilen, daß er aus eigener Kraft seinen Weg im Leben gemacht hat – was er ja auch wirklich geschafft hat.«

»Und der andere?« wiederholte Angus in einer Art hartnäckiger Gelassenheit.

Laura Hope stand plötzlich auf. »Mein Freund«, sagte sie. »Ich glaube, Sie sind ein Hexer. Ja, Sie haben recht. Ich habe von dem anderen Mann keine einzige Zeile bekommen; und ich habe nicht die geringste Ahnung, was oder wo er ist. Aber er ist es, vor dem ich mich fürchte. Er ist es, der immer um mich herum ist. Er ist es, der mich halb verrückt gemacht hat. Ich habe tatsächlich das Gefühl, daß er mich verrückt gemacht hat; denn ich habe seine Gegenwart gespürt, wo er nicht sein konnte, und ich habe seine Stimme gehört, wo er nicht gesprochen haben kann.«

»Schön, meine Liebe«, sagte der junge Mann heiter, »und wenn er Satan persönlich wäre, jetzt, da Sie zu jemandem darüber gesprochen haben, ist er erledigt. Verrückt wird man allein, altes Mädchen. Aber wann haben Sie sich denn eingebildet, Sie hätten unseren schielenden Freund gespürt und gehört?«

»Ich habe James Welkin ebenso deutlich gehört, wie ich Sie reden höre«, sagte das Mädchen fest. »Niemand war da, denn ich stand gerade vor dem Geschäft an der Ecke und konnte beide Straßen zugleich beobachten. Ich hatte schon vergessen, wie er lachte, obwohl sein Lachen ebenso eigenartig war wie sein Schielen. Ich hatte fast ein Jahr lang nicht mehr an ihn gedacht. Aber es ist die heilige Wahrheit, daß wenige Sekunden danach der erste Brief seines Rivalen ankam.«

»Haben Sie eigentlich das Gespenst je zum Sprechen oder Quietschen oder sonstwas gebracht?« fragte Angus mit einigem Interesse.

Laura schauderte es plötzlich, doch dann sagte sie mit unerschütterter Stimme: »Ja. Gerade als ich den zweiten Brief von Isidore Smythe gelesen hatte, in dem er mir seinen Erfolg mitteilte, gerade da hörte ich Welkin sagen: ›Und er soll dich doch nicht haben.‹ Es war so deutlich, als ob er im Zimmer wäre. Es ist furchtbar; ich glaube, ich bin schon verrückt.«

»Wenn Sie wirklich verrückt wären«, sagte der junge Mann, »würden Sie sich einbilden, Sie seien normal. Im übrigen aber scheint mir da wirklich etwas Zweifelhaftes um diesen unsichtbaren Herrn zu sein. Zwei Köpfe sind besser als einer – ich erspare Ihnen Anspielungen auf andere Körperteile –, und wenn Sie mir jetzt als einem handfesten praktischen Mann erlauben würden, den Hochzeitskuchen wieder aus dem Schaufenster zu holen – «

Während er noch sprach, war da eine Art von stählernem Schrillen in der Straße draußen, und ein kleines Auto, das mit teuflischer Geschwindigkeit gefahren wurde, schoß vor die Tür des Ladens und stoppte. Und fast noch im gleichen Augenblick stand stampfend ein kleiner Mann mit einem glänzenden Zylinder im Vorraum.

Angus, der bisher eine heitere Gelassenheit aus Gründen der geistigen Hygiene bewahrt hatte, verriet nun die Anspannung seiner Seele, indem er jählings aus dem Hinterzimmer stürmte und dem Neuankömmling entgegentrat. Ein Blick auf ihn genügte völlig, um die wilden Vermutungen eines verliebten Mannes zu bestätigen. Diese äußerst flinke aber zwergische Gestalt, die den schwarzen Bart mit seiner Spitze anmaßend vorstreckte, die schlauen ruhelosen Augen, die niedlichen aber sehr nervösen Finger, das konnte kein anderer sein als der ihm gerade erst beschriebene Mann: Isidore Smythe, der aus Bananenschalen und Streichholzschachteln Puppen schuf; Isidore Smythe, der aus metallenen abstinenten Dienern und flirtlosen Hausmädchen Millionen schuf. Für einen Augenblick sahen sich die beiden Männer, die instinktiv einer des anderen Besitzermiene verstanden, mit jener sonderbaren kalten Großmütigkeit an, die das Wesen der Rivalität ist.

Mr. Smythe jedoch spielte in keiner Weise auf den tiefsten Grund ihrer Gegnerschaft an, sondern sagte einfach und explosiv: »Hat Miss Hope das Ding am Fenster gesehen?«

»Am Fenster?« wiederholte der verblüffte Angus.

»Keine Zeit, andere Dinge zu erklären«, sagte der kleine Millionär knapp. »Hier geht irgendein Unsinn vor, der untersucht werden muß.«

Er wies mit seinem polierten Spazierstock auf das Fenster, das kürzlich durch die Hochzeitsvorbereitungen von Mr. Angus ausgeräumt worden war; und dieser Herr sah erstaunt einen langen Streifen Papier über das Glas geklebt, der sich gewißlich nicht am Fenster befunden hatte, als er kurz zuvor hindurchgeschaut. Er folgte dem energischen Smythe hinaus auf die Straße und stellte fest, daß etwa anderthalb Meter lang Reste von Briefmarkenbögen sorgfältig über die Scheibe geklebt worden waren und daß darauf in krakeligen Buchstaben geschrieben war: »Wenn du Smythe heiratest, wird er sterben.«

»Laura«, sagte Angus und schob seinen großen roten Schopf in den Laden, »Sie sind nicht verrückt.«

»Das ist die Schrift von dem Kerl Welkin«, sagte Smythe mürrisch. »Ich hab ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, aber er hat mich ständig belästigt. In den letzten vierzehn Tagen hat er mir fünfmal Drohbriefe in die Wohnung geschickt, und ich kann nicht einmal herausfinden, wer sie da hinbringt, geschweige denn, ob er es selber tut. Der Portier des Hauses schwört, daß man keine verdächtige Gestalt gesehen habe, und jetzt klebt er hier eine Art Tapetensockelstreifen auf ein öffentliches Schaufenster, während die Leute im Laden – «

»Jaha«, sagte Angus bescheiden, »während die Leute im Laden ihren Tee genießen. Nun, Sir, ich versichere Ihnen, daß ich Ihre vernünftige Art schätze, die Angelegenheit so unmittelbar anzugehen. Über andere Dinge können wir später sprechen. Der Bursche kann noch nicht sehr weit sein, denn ich beschwöre, daß da noch kein Papier war, als ich zuletzt zum Fenster ging, vor 10 oder 15 Minuten. Auf der anderen Seite ist er inzwischen zu weit weg, als daß wir ihn jagen könnten, da wir nicht einmal die Richtung wissen. Wenn Sie meinen Rat annehmen wollen, Mr. Smythe, dann übergeben Sie diese Angelegenheit sofort einem energischen Untersucher, einem privaten eher als einem öffentlichen. Ich kenne da einen ungemein klugen Burschen, der sein Büro knapp 5 Minuten von hier hat, wenn wir mit Ihrem Wagen fahren. Er heißt Flambeau, und obwohl seine Jugend ein bißchen stürmisch war, ist er heute doch ein absolut ehrlicher Mann, und sein Gehirn ist Geld wert. Er wohnt in den Lucknow Mansions in Hampstead.«

»Das ist merkwürdig«, sagte der kleine Mann und wölbte seine schwarzen Augenbrauen. »Ich selbst wohne in den Himalaya Mansions, um die Ecke. Wollen Sie vielleicht mit mir kommen; ich kann dann in meine Wohnung gehen und diese komischen Welkin-Dokumente heraussuchen, während Sie hinüber laufen und Ihren Freund, den Privatdetektiv, holen.«

»Sehr liebenswürdig«, sagte Angus höflich. »Los also, denn je eher wir etwas unternehmen, desto besser.«

Beide Männer nahmen in komischer improvisierter Fairness auf die gleiche formelle Weise Abschied von der Dame, und beide sprangen dann in den schnellen kleinen Wagen. Als Smythe am Steuer um die große Straßenecke bog, sah Angus amüsiert ein riesiges Plakat von »Smythes Stummer Dienst« mit dem Bild einer großen kopflosen Eisenpuppe, die eine Pfanne mit der Inschrift hielt »Eine Köchin, die Niemals Sauer ist«.

»Ich verwende sie auch in meiner eigenen Wohnung«, sagte der kleine schwarzbärtige Mann lachend, »teils aus Reklamegründen, and teils, weil sie wirklich bequem sind. Ehrlich und ohne Schmus, diese meine großen mechanischen Puppen bringen Ihnen die Kohle oder den Rotspon oder das Kursbuch schneller als irgendein lebender Diener, den ich je gekannt habe, wenn man nur weiß, welchen Knopf man drücken muß. Aber ich würde unter uns nie bestreiten, daß solche Dienstboten auch ihre Nachteile haben.«

»Wirklich?« sagte Angus. »Gibt es irgendwas, das sie nicht können?«

»Ja«, antwortete Smythe kühl; »sie können mir nicht sagen, wer diese Drohbriefe in meine Wohnung gebracht hat.«

Des Mannes Auto war klein und schnell wie er selbst; und es war ebenso wie sein häuslicher Dienst seine eigene Erfindung. Wenn er ein Marktschreier war, dann einer, der an seine eigenen Waren glaubte. Das Gefühl von etwas Kleinem und Fliegendem wurde deutlicher, als sie im ersterbenden klaren Abendlicht durch die langen weißen Windungen der Straße fegten. Bald wurden die weißen Kurven enger und schwindelerregender; sie befanden sich, wie man in modernen Religionen zu sagen pflegt, in aufsteigenden Spiralen. Denn sie erklommen einen Teil von London, der mindestens genauso steil ist wie Edinburgh, wenn auch nicht ganz so malerisch. Terrasse erhob sich über Terrasse, und jenes spezielle Hochhaus von Wohnungen, das sie suchten, erhob sich über sie alle zu fast ägyptischen Höhen, von der flachen Abendsonne vergoldet. Doch als sie um die Ecke bogen und in das Halbrund einfuhren, das als die Himalaya Mansions bekannt ist, änderte sich das Bild so jäh wie durch das Öffnen eines Fensters; denn jenes Getürm von Wohnungen hockte über London wie über einem grünen Schiefermeer. Gegenüber den Wohnungen befand sich auf der anderen Seite des gekiesten Halbrunds eine buschige Umzäunung, die eher einer steilen Hecke oder einem Damm glich als einem Garten, und ein Stück darunter verlief ein künstlich angelegter Wasserstreifen, eine Art Kanal, wie der Graben jener von Büschen umschlossenen Festung. Als der Wagen um das Halbrund fegte, kam er an einer Ecke an dem verirrten Stand eines Kastanienbräters vorüber; und am anderen Ende der Biegung konnte Angus die verschwommene Gestalt eines blauen Polizisten sehen, der langsam dahinschritt. Das waren die einzigen menschlichen Gestalten in der Einsamkeit dieses hohen Vororts; aber er hatte das irrationale Gefühl, als gäben sie der wortlosen Poesie Londons Ausdruck. Er empfand so, als ob sie Gestalten in einer Geschichte wären.

Das kleine Auto schoß wie eine Kugel auf das rechte Haus zu und schoß seinen Besitzer wie eine Bombe hinaus. Sofort danach erkundigte er sich bei einem langen Türsteher in schimmernder Uniform und bei einem kurzen Hauswart in Hemdsärmeln, ob irgend jemand oder irgend etwas nach seiner Wohnung gesucht habe. Man antwortete ihm, daß niemand und nichts an diesen beiden Angestellten vorübergekommen sei seit seiner letzten Erkundigung; woraufhin er und der leicht verwirrte Angus im Lift wie in einer Rakete emporgeschossen wurden, bis sie die oberste Etage erreichten.

»Kommen Sie für einen Augenblick rein«, sagte der atemlose Smythe. »Ich will Ihnen die Welkin-Briefe zeigen. Dann können Sie um die Ecke laufen und Ihren Freund holen.« Er drückte auf einen in der Wand verborgenen Knopf, und die Tür öffnete sich von selbst.

Sie öffnete sich zu einem langen bequemen Vorraum, dessen einzige, sozusagen fesselnde Züge die Reihen halbmenschlicher mechanischer Gestalten waren, die auf beiden Seiten wie Schneiderpuppen aufgereiht standen. Wie Schneiderpuppen waren sie kopflos; und wie Schneiderpuppen hatten sie hübsche, überflüssige Höcker an den Schultern und eine hühnerbrüstige Wölbung als Brust; davon abgesehen, waren sie einer menschlichen Gestalt aber auch nicht ähnlicher als irgendein anderer Bahnsteigautomat von etwa menschlicher Höhe. Sie hatten zwei große Haken als Arme, um Tabletts zu tragen; und sie waren zum Zweck der Unterscheidbarkeit erbsengrün oder zinnoberrot oder schwarz angestrichen ; in jeder anderen Hinsicht waren sie nur Automaten, und niemand würde sie zweimal angesehen haben. Zumindest tat das bei dieser Gelegenheit niemand. Denn zwischen den beiden Reihen häuslicher Puppen lag etwas bei weitem Interessanteres als alle Automaten auf Erden. Es war ein weißer zerknitterter Fetzen Papier, bekritzelt mit roter Tinte; und der bewegliche Erfinder hatte es auch schon aufgerafft, fast ehe die Tür ganz auf war. Er überreichte es wortlos Angus. Noch war die rote Tinte nicht getrocknet, und die Botschaft lautete: »Wenn du sie heute gesehen hast, werde ich dich töten.«

Ein kurzes Schweigen, und dann sagte Isidore Smythe ruhig: »Möchten Sie einen kleinen Whisky? Ich jedenfalls habe einen nötig.«

»Danke Ihnen; ich möchte lieber einen kleinen Flambeau«, sagte Angus düster. »Diese Angelegenheit scheint mir langsam ernst zu werden. Ich ziehe sofort los, um ihn herzuholen.«

»Gut so«, sagte der andere mit bewundernswert guter Laune. »Bringen Sie ihn her, so schnell Sie können.«

Als Angus die Vordertür hinter sich schloß, sah er Smythe, wie der einen Hebel umlegte, und eine der Uhrwerkformen, wie sie von ihrem Platz und durch eine Rinne im Boden glitt und ein Tablett mit Syphon und Karaffe trug. Es war ein wenig unheimlich, den kleinen Mann mit diesen toten Dienern zurückzulassen, die zum Leben erwachten, als die Tür sich schloß.

Sechs Stufen unterhalb des Treppenabsatzes von Smythe war der Mann in Hemdsärmeln dabei, irgend etwas mit einem Eimer zu tun. Angus blieb stehen und entlockte ihm, unterstützt durch eine in Aussicht gestellte Bestechung, das Versprechen, daß er an diesem Platz verweilen werde, bis man mit dem Detektiv zurückkomme, und auf jeden Fremden Obacht gebe, der diese Treppe heraufsteige. Dann stürzte er zur Eingangshalle hinab und auferlegte dort dem Türsteher an der Eingangstür ähnliche Wachsamkeitsaufgaben, wobei er den vereinfachenden Umstand erfuhr, daß es keine Hintertür gebe. Damit nicht zufrieden, schnappte er sich den streifewandelnden Polizisten und veranlaßte ihn, gegenüber dem Eingang Posten zu beziehen und ihn zu überwachen; und schließlich hielt er um eine kleine Portion Maronen inne und erkundigte sich nach der vermutlichen Länge des Aufenthaltes dieses Geschäftsmannes in der Gegend.

Der Kastanienverkäufer stellte den Kragen seines Mantels hoch und erklärte, er werde sich voraussichtlich in Kürze entfernen, da es vermutlich bald schneien werde. Und wirklich wurde der Abend nachgerade grau und schneidend, aber Angus gelang es mit all seiner Beredsamkeit, den Kastanienmann an seinem Orte festzunageln.

»Wärmen Sie sich an Ihren eigenen Maronen«, sagte er ernsthaft. »Essen Sie Ihren ganzen Vorrat auf; ich werde dafür sorgen, daß sich das für Sie lohnt. Ich werde Ihnen einen Sovereign geben, wenn Sie hier bis zu meiner Rückkehr warten und mir dann sagen, ob irgendein Mann, eine Frau, ein Kind in jenes Haus gegangen ist, vor dem der Türsteher steht.«

Danach schritt er mit einem letzten Blick auf den belagerten Turm eilig von dannen.

»Jedenfalls habe ich einen Ring um das Zimmer gelegt«, sagte er. »Denn schließlich können sie nicht alle vier die Komplizen von Welkin sein.«

Die Lucknow Mansions befanden sich sozusagen auf einer niedrigeren Plattform jenes Häuserberges, wobei die Himalaja Mansions dessen Spitze genannt werden könnten. Flambeaus Wohnung mit Büro befand sich im Erdgeschoß und stellte jeden erdenklichen Gegensatz zu der amerikanischen Maschinerie und dem kalten hotelgleichen Luxus der Wohnung des Stummen Dienstes dar. Flambeau, ein Freund von Angus, empfing ihn hinter seinem Büro in einem künstlerischen Rokokozimmer, das mit Säbeln, Hakenbüchsen, Raritäten aus dem Orient, Flaschen italienischen Weines, Kochkesseln von Wilden, einer weichfelligen Perserkatze und einem kleinen, verstaubt aussehenden römisch-katholischen Priester verziert war, der ganz besonders fehl am Platze wirkte.

»Das ist mein Freund Father Brown«, sagte Flambeau. »Ich habe mir oft gewünscht, Sie würden ihn kennenlernen. Herrliches Wetter; aber ein bißchen kühl für einen Südländer wie ich.«

»Ja, ich glaube, daß es klar bleiben wird«, sagte Angus und ließ sich auf einer violettgestreiften orientalischen Ottomane nieder.

»Nein«, sagte der Priester harmlos; »es hat zu schneien begonnen.«

Und wirklich begannen, noch während er sprach, die ersten Flocken, die der Mann der Kastanien vorausgesehen hatte, vor der dunkler werdenden Fensterscheibe vorbeizutreiben.

»Tja«, sagte Angus gewichtig. »Leider bin ich in Geschäften gekommen, und zwar in ziemlich schwierigen Geschäften. Tatsache ist, Flambeau, daß keinen Steinwurf von hier ein Mann lebt, der dringend Ihre Hilfe braucht; er wird andauernd von einem unsichtbaren Gegner gejagt und bedroht – einem Schuft, den niemand jemals gesehen hat.« Während nun Angus die ganze Geschichte von Smythe und Welkin berichtete, wobei er mit Lauras Erzählung begann und dann zu seinen eigenen Erlebnissen kam, und vom übernatürlichen Gelächter an der Ecke zweier leerer Straßen sprach und von den seltsamen deutlichen Worten in einem leeren Raum, hörte Flambeau immer gespannter zu, der kleine Priester aber schien wie ein Möbelstück ausgeschlossen zu bleiben. Und als es zu dem bekritzelten Markenpapier kam, das über das Fenster geklebt war, erhob sich Flambeau und schien mit seinen breiten Schultern das ganze Zimmer zu füllen.

»Wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte er, »halte ich es für besser, wenn Sie mir den Rest der Geschichte auf dem schnellsten Weg zum Haus dieses Mannes erzählen. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß keine Zeit zu verlieren ist.«

»Ausgezeichnet«, sagte Angus und erhob sich ebenfalls, »obwohl er für den Augenblick sicher genug ist, denn ich habe vier Männer aufgestellt, die das einzige Schlupfloch zu seinem Bau bewachen.«

Sie traten auf die Straße hinaus, wobei der kleine Priester mit der Folgsamkeit eines kleinen Hundes hinter ihnen hertrottete. Dabei sagte er heiter wie einer, der Konversation macht: »Wie schnell der Schnee dicht auf dem Boden liegenbleibt.«

Und während sie sich durch die steilen Seitenstraßen mühten, die schon silbern überpudert waren, beendete Angus seinen Bericht; und als sie den Halbkreis mit den hochgetürmten Wohnungen erreichten, hatte er Muße, seine Aufmerksamkeit den vier Wachtposten zuzuwenden. Der Kastanienverkäufer schwor sowohl vor wie nach dem Empfang eines Sovereigns hartnäckig, daß er die Tür beobachtet und keinen Besucher eintreten gesehen habe. Der Polizist war noch entschiedener. Er sagte, er habe Erfahrungen mit Gaunern aller Art, im Frack wie in Lumpen; er sei nicht so grün, daß er von Verdächtigen erwarte, verdächtig auszusehen; er habe nach irgend jemand Ausschau gehalten, und bei Gott, da sei niemand gewesen. Und als alle drei Männer sich um den vergoldeten Türsteher versammelten, der immer noch lächelnd und breitbeinig vor dem Portal stand, war das Urteil noch endgültiger.

»Ich habe das Recht, jedermann, ob Herzog oder Hausierer, zu fragen, was er in diesen Wohnungen wolle«, sagte der fröhliche goldbetreßte Riese, »und ich beschwöre, daß niemand gekommen ist, den ich hätte fragen können, seit dieser Herr wegging.«

Der unbedeutende Father Brown, der im Hintergrund stand und bescheiden auf das Pflaster schaute, wagte hier sanft zu bemerken: »Es ist also niemand die Treppen hinauf- oder heruntergelaufen, seit der Schnee zu fallen begann? Es begann, während wir alle noch bei Flambeau waren.«

»Niemand war hier drinnen, Sir, das können Sie mir glauben«, sagte der Amtsinhaber mit strahlender Autorität.

»Dann frage ich mich, was das hier ist?« sagte der Priester und starrte ausdruckslos wie ein Fisch auf den Boden.

Die anderen blickten ebenfalls alle nieder; und Flambeau verwendete einen wilden Schrei und eine französische Geste. Denn es war unfraglich wahr, daß in der Mitte des vom Mann in goldenen Tressen bewachten Eingangs und in der Tat sogar zwischen den arrogant gespreizten Beinen des Riesen hindurch ein faseriges Muster grauer Fußabdrücke in den weißen Schnee gestapft verlief.

»O Gott!« rief Angus unwillkürlich; »der Unsichtbare Mann!«

Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und raste die Treppe hinauf, gefolgt von Flambeau; Father Brown aber stand immer noch in der schneebedeckten Straße und blickte sich um, als habe er jedes Interesse an seiner Frage verloren.

Flambeau war in der richtigen Stimmung, die Tür mit seinen breiten Schultern aufzubrechen; aber der vernünftigere wenn auch weniger intuitive Schotte tastete den Rahmen der Tür ab, bis er den unsichtbaren Knopf gefunden hatte; und die Tür schwang langsam auf.

Sie ließ im wesentlichen das gleiche vollgestellte Innere sehen; der Vorraum war dunkler geworden, auch wenn ihn hier und da die letzten rötlichen Speere des Sonnenuntergangs trafen, und die eine oder die andere der kopflosen Maschinen war um des einen oder anderen Zweckes willen von ihrem Platz bewegt worden, und sie standen jetzt hier und da im dämmrigen Raum umher. Das Grün und Rot ihrer Röcke dunkelte im Dämmer, und ihre Ähnlichkeit mit menschlichen Formen nahm gerade durch ihre Formlosigkeit zu. Doch in der Mitte von all dem lag genau dort, wo das Papier mit der roten Tinte gelegen hatte, etwas, das sehr wie rote Tinte aussah, die aus ihrer Flasche ausgelaufen war. Aber es war keine rote Tinte.

Mit jener französischen Mischung von Vernunft und Heftigkeit sagte Flambeau einfach: »Mord!«, und indem er sich in die Wohnung stürzte, hatte er all ihre Ecken und Schränke in fünf Minuten erforscht. Falls er aber erwartet hatte, eine Leiche zu finden, so fand er keine. Isidore Smythe befand sich einfach nicht am Platze, weder tot noch lebend. Nach der rasendsten Suche trafen die beiden Männer einander mit schweißüberströmten Gesichtern und starren Blicken wieder im Vorraum. »Mein Freund«, sagte Flambeau und sprach vor Aufregung französisch, »nicht nur ist Ihr Mörder unsichtbar, sondern er macht auch den Ermordeten unsichtbar.«

Angus blickte sich in dem dämmrigen Raum voller Puppen um, und in irgendeiner keltischen Ecke seiner schottischen Seele begann sich ein Schaudern zu regen. Eine der lebensgroßen Puppen überschattete unmittelbar den Blutfleck, herbeigerufen vielleicht von dem Erschlagenen unmittelbar bevor er niederstürzte. Einer der hochschultrigen Haken, die dem Ding als Arme dienten, war ein bißchen angehoben, und Angus hatte plötzlich die schreckliche Vorstellung, daß das Eisenkind des armen Smythe selbst ihn niedergeschlagen habe. Die Materie hatte rebelliert, und die Maschinen hatten ihren Meister getötet. Doch selbst wenn, was hatten sie dann mit ihm getan?

»Ihn aufgefressen?« flüsterte die Nachtmahr ihm ins Ohr; und einen Augenblick lang ward ihm übel beim Gedanken an zerfetzte menschliche Überbleibsel, von all diesem hirnlosen Uhrwerk verschlungen und zermalmt.

Er gewann sein geistiges Gleichgewicht mit heftiger Anstrengung zurück und sagte zu Flambeau: »Das war’s also. Der arme Kerl ist verdunstet wie eine Wolke und hat einen roten Fleck auf dem Fußboden hinterlassen. Diese Geschichte gehört nicht zu dieser Welt.«

»Da bleibt nur eins zu tun übrig«, sagte Flambeau, »ob sie nun zu dieser oder der anderen Welt gehört, ich muß runterlaufen und mit meinem Freund sprechen.«

Sie stiegen hinab, kamen an dem Mann mit dem Eimer vorbei, der erneut versicherte, daß er keinen Eindringling habe passieren lassen, hinab zu dem Türsteher und dem herumlungernden Kastanienmann, die beide steif und fest ihre eigene Wachsamkeit beschworen. Als Angus sich aber nach seiner vierten Bestätigung umsah, konnte er sie nicht erblicken und rief einigermaßen nervös: »Wo ist der Polizist?«

»Um Vergebung«, sagte Father Brown; »mein Fehler. Ich habe ihn gerade die Straße hinabgeschickt, um etwas zu überprüfen – das ich für wert halte, überprüft zu werden.«

»Na schön, aber wir brauchen ihn schnell zurück«, sagte Angus abrupt, »denn der Unglückliche da oben ist nicht nur ermordet, sondern auch ausgelöscht worden.«

»Wie?« fragte der Priester.

»Father«, sagte Flambeau nach einer Pause, »ich glaube bei meiner Seele, daß diese Sache mehr in Ihre Kompetenz fällt als in meine. Weder Freund noch Feind hat das Haus betreten, und doch ist Smythe verschwunden, wie von Feen entführt. Wenn das nicht übernatürlich ist, dann – «.

Während er sprach, wurde ihnen allen durch einen ungewöhnlichen Anblick Einhalt geboten; der große blaue Polizist kam um die Ecke des Halbkreises gerannt. Er kam direkt auf Brown zu.

»Sie hatten recht, Sir«, keuchte er, »sie haben gerade die Leiche vom armen Mr. Smythe unten im Kanal gefunden.«

Angus griff sich wild an den Kopf. »Ist er hinabgelaufen und hat sich selbst ertränkt?« fragte er.

»Ich schwöre, daß er niemals heruntergekommen ist«, sagte der Wachtmeister, »und er wurde auch nicht ertränkt, denn er starb an einem tiefen Stich ins Herz.«

»Und doch haben Sie niemanden eintreten gesehen?« sagte Flambeau mit ernster Stimme.

»Wir wollen ein bißchen die Straße hinuntergehen«, sagte der Priester.

Als sie am anderen Ende des Halbkreises ankamen, bemerkte er plötzlich: »Wie dumm von mir! Ich habe vergessen, den Polizisten etwas zu fragen. Ich möchte wissen, ob sie einen hellbraunen Sack gefunden haben.«

»Warum einen hellbraunen Sack?« fragte Angus erstaunt.

»Wenn es ein Sack von irgendeiner anderen Farbe war, fängt der Fall wieder von vorne an«, sagte Father Brown; »aber wenn es ein hellbrauner Sack war, dann ist der Fall erledigt.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Angus mit herzhafter Ironie. »Denn soweit es mich betrifft, hat er noch nicht einmal begonnen.«

»Sie müssen uns alles darüber erzählen«, sagte Flambeau mit einer sonderbar gewichtigen Einfachheit wie ein Kind.

Ohne es zu merken, schritten sie mit immer schnelleren Schritten die lange Biegung der Straße gegenüber dem hohen Halbkreis hinab, Father Brown führte hurtig, aber wortlos. Schließlich sagte er mit einer fast rührenden Unbestimmtheit: »Ich fürchte, Sie werden das alles sehr prosaisch finden. Wir beginnen immer beim abstrakten Ende der Dinge, und diese Geschichte kann man nirgendwo sonst beginnen.

Haben Sie je bemerkt, daß Menschen nie auf das antworten, was Sie sagen? Man antwortet auf das, was Sie meinen – oder was Sie nach deren Ansicht meinen. Stellen Sie sich vor, da sagt eine Dame in einem Landhaus zu einer anderen: ›Ist irgend jemand bei Ihnen im Haus?‹, dann wird die Dame niemals antworten: ›Ja; der Butler, die drei Hausknechte, das Stubenmädchen und so weiter‹, obwohl das Stubenmädchen im Zimmer sein kann oder der Butler hinter ihrem Stuhl. Sie sagt: ›Niemand ist außer uns im Haus‹, womit sie meint, niemand von der Art, die Sie meinen. Und nun stellen Sie sich vor, ein Arzt erkundigt sich im Zusammenhang mit einer Epidemie: ›Wer ist im Haus?‹, dann wird die Dame sich des Butlers, des Stubenmädchens und all der anderen erinnern. So wird Sprache immer verwendet; man bekommt eine Frage nie wörtlich beantwortet, selbst wenn man sie wahrheitsgemäß beantwortet bekommt. Als diese vier ehrlichen Männer sagten, daß keiner das Mietshaus betreten habe, meinten sie nicht wirklich, daß keiner es betreten hätte. Sie meinten keinen, den sie hätten verdächtigen können, Ihr Mann zu sein. Ein Mann ging ins Haus, und er kam heraus, aber sie haben ihn nicht wahrgenommen.«

»Ein unsichtbarer Mann?« fragte Angus, und seine roten Augenbrauen hoben sich.

»Ein dem Geiste unsichtbarer Mann«, sagte Father Brown.

Ein oder zwei Minuten später sprach er in derselben unaufdringlichen Weise weiter wie ein Mann, der vor sich hin denkt: »Natürlich kann man erst dann an einen solchen Mann denken, wenn man an ihn denkt. Und das ist, wo seine Schlauheit ins Spiel kommt. Aber ich kam durch zwei oder drei kleine Dinge im Bericht von Mr. Angus darauf, an ihn zu denken. Da war erstens die Tatsache, daß dieser Welkin lange Spaziergänge unternahm. Und dann war da die Menge Markenpapier auf dem Fenster. Und dann waren da vor allem die beiden Dinge, die die junge Dame sagte – Dinge, die nicht wahr sein konnten. Werden Sie nicht böse«, fügte er rasch hinzu, als er eine plötzliche Kopfbewegung des Schotten bemerkte; »sie glaubte schon, daß sie wahr waren, aber sie können nicht wahr sein. Eine Person kann nicht ganz alleine in einer Straße sein, wenn sie eine Sekunde danach einen Brief bekommt. Sie kann nicht ganz alleine in einer Straße sein, wenn sie beginnt, einen Brief zu lesen, den sie gerade bekommen hat. Jemand muß ihr da sehr nahe sein; er muß dem Geiste unsichtbar sein.«

»Warum muß ihr denn jemand nahe sein?« fragte Angus.

»Weil«, sagte Father Brown, »wenn man Brieftauben ausschließt, ihr jemand den Brief gebracht haben muß.«

»Wollen Sie damit etwa sagen«, fragte Flambeau heftig, »daß Welkin die Briefe seines Nebenbuhlers zur Dame seines Herzens brachte?«

»Ja«, sagte der Priester. »Welkin brachte die Briefe seines Nebenbuhlers zur Dame seines Herzens. Wissen Sie, er mußte das tun.«

»Ich halte das nicht länger aus«, explodierte Flambeau. »Wer ist dieser Kerl? Wie sieht er aus? Was ist die übliche Aufmachung für einen dem Geiste unsichtbaren Mann?«

»Er ist ziemlich ordentlich angezogen in Rot, Blau und Gold«, erwiderte der Priester prompt und präzis, »und in diesem auffallenden, ja geradezu bunten Kostüm betrat er unter 8 menschlichen Augen die Himalaya Mansions; er tötete kaltblütig Smythe und kam wieder auf die Straße herunter, wobei er die Leiche in seinen Armen trug – «

»Hochwürden«, schrie Angus und blieb stehen, »sind Sie verrückt geworden, oder bin ich es?«

»Sie sind nicht verrückt«, sagte Brown, »nur ein bißchen unaufmerksam. Sie haben zum Beispiel einen Mann wie diesen nicht bemerkt.«

Er machte drei schnelle Schritte vorwärts und legte einem gewöhnlichen vorüberkommenden Briefträger die Hand auf die Schulter, der, von ihnen unbemerkt, im Schatten der Bäume herumgewirtschaftet hatte.

»Irgendwie bemerkt niemand je Briefträger«, sagte er nachdenklich; »und doch haben sie Leidenschaften wie andere Männer, und sie tragen sogar große Säcke mit sich, in denen kleine Körper leicht verstaut werden können.«

Der Briefträger hatte sich, statt sich ihnen natürlich zuzuwenden, weggeduckt und war gegen den Gartenzaun getaumelt. Er war ein dünner blondbärtiger Mann von gewöhnlichem Aussehen, aber als er mit ängstlichem Gesicht über die Schulter schaute, blickte alle drei Männer ein fast teuflisches Schielen an.

Flambeau kehrte zu Säbeln, purpurnen Teppichen und persischer Katze zurück, da es vielerlei Dinge gab, denen er sich widmen mußte. John Turnbull Angus kehrte zu der Dame in dem Laden zurück, mit der dieser unbedachtsame junge Mann höchst glücklich zu werden gedachte. Father Brown aber durchwanderte jene schneebedeckten Hügel unter den Sternen während vieler Stunden mit einem Mörder, und was sie einander zu sagen hatten, wird niemals bekannt werden.