Die falsche Form

 

Einige der großen Straßen, die von London aus nach Norden gehen, setzen sich tief ins Land hinein fort als eine Art verdünnten und durchlöcherten Gespenstes einer Straße, das trotz großer Lücken zwischen den Häusern die Idee der Straße aufrechterhält. Da gibt es eine Gruppe Läden, gefolgt von einem umzäunten Feld oder einer Pferdekoppel, und dann eine berühmte Gaststätte, und dann vielleicht eine Gemüsegärtnerei oder eine Baumschule, und dann eine einsame weitläufige Villa, und dann ein weiteres Feld und ein weiteres Wirtshaus, und so fort. Wer nun eine dieser Straßen durchwandert, der wird an einem Haus vorüberkommen, das möglicherweise seinen Blick fesseln wird, obwohl er seine Anziehungskraft nicht zu begründen vermag. Es ist ein langes niedriges Haus, parallel zur Straße, vorwiegend weiß und blaßgrün gestrichen, mit einer Veranda und Sonnenblenden, mit erkerähnlichen Vorbauten unter jenen wunderlichen Kuppeln wie hölzerne Regenschirme, die man noch in einigen altmodischen Häusern antreffen kann. Und in der Tat ist es ein altmodisches Haus, sehr englisch und sehr vorstädtisch im guten alten wohlstandatmenden Sinn von Clapham. Und doch ruft das Haus den Eindruck hervor, als sei es vor allem für heißes Wetter gebaut. Wenn man auf den weißen Anstrich blickt und auf die Sonnenblenden, denkt man undeutlich an indische Turbane, ja sogar an Palmen. Ich kann dieses Gefühl nicht bis in seine Wurzeln aufdecken; vielleicht wurde das Haus von einem Angloindien-Mann gebaut.

Jeder, der an diesem Haus vorbeikommt, sagte ich, wird von ihm unbeschreiblich fasziniert werden; wird das Gefühl haben, es handele sich um einen Ort, über den eine Geschichte zu erzählen wäre. Und damit hätte er recht, wie Sie sofort erfahren werden. Denn dies ist die Geschichte – die Geschichte jener seltsamen Vorgänge, die sich in ihm in der Pfingstzeit des Jahres 18.. wirklich ereignet haben.

Jeder, der an diesem Haus am Donnerstag vor Pfingstsonntag nachmittags gegen halb fünf vorbeikam, hätte gesehen, wie sich die Vordertür öffnete und Father Brown von der kleinen Kirche Sankt Mungo herauskam, eine große Pfeife rauchend und in Gesellschaft seines sehr großen französischen Freundes namens Flambeau, der eine sehr kleine Zigarette rauchte. Diese Personen mögen für den Leser von Interesse sein oder nicht, in Wahrheit aber waren sie keineswegs die einzigen interessanten Dinge, die sichtbar wurden, als sich die Vordertür des weißen und blaßgrünen Hauses öffnete. Es gibt weitere Eigentümlichkeiten dieses Hauses, die als erstes beschrieben werden müssen, nicht nur, damit der Leser diese tragische Geschichte verstehen kann, sondern auch, damit er sich vorzustellen vermag, was das Öffnen der Tür enthüllte.

Das ganze Haus war auf dem Grundriß eines T erbaut, aber eines T mit einem sehr langen Querstück und einem sehr kurzen Schwanzstück. Das lange Querstück bildete die Vorderseite, die entlang der Straße lief, mit der Vordertür in der Mitte; es war zwei Stock hoch und umfaßte nahezu alle wichtigen Zimmer. Das kurze Schwanzstück, das sich unmittelbar gegenüber der Vordertür nach hinten erstreckte, war einen Stock hoch und enthielt nur zwei lange Räume, deren einer in den anderen führte. Der erste dieser beiden Räume war das Arbeitszimmer, in dem der gefeierte Mr. Quinton seine wilden orientalischen Gedichte und Romane schrieb. Der hintere Raum war ein Glashaus voller tropischer Blüten von ganz eigenartiger und fast monströser Schönheit und an Nachmittagen wie diesem vom prangenden Sonnenlicht glühend. So kam es, daß wenn die Haustür offen stand, mancher Vorüberkommende buchstäblich stehenblieb, um zu starren und zu staunen; denn er blickte durch eine Flucht reicher Wohnräume auf etwas, das wirklich wie die Verwandlungsszene in einem Märchenspiel wirkte: purpurne Wolken und goldene Sonnen und karmesinrote Sterne, gleichzeitig voll sengenden Lebens und doch durchsichtig und fern.

Leonard Quinton, der Dichter, hatte diesen Effekt höchst sorgfältig selbst arrangiert; und es ist zweifelhaft, ob er seine Persönlichkeit je in einem seiner Gedichte so vollkommen verwirklicht hat. Denn er war ein Mann, der Farben trank und in ihnen badete, der seiner Lust auf Farben nachgab bis zur Vernachlässigung der Formen – selbst der guten Formen. Das hatte seinen Genius völlig auf orientalische Kunst und Bildwelt gelenkt; auf jene verwirrenden Teppiche oder blendenden Stickereien, in denen alle Farben in ein glückliches Chaos gestürzt erscheinen, nichts darstellend und nichts lehrend. Er hatte versucht, vielleicht nicht mit vollendetem künstlerischem Erfolg, aber mit anerkannter Einbildungsgabe und Erfindungskraft, Epen und Liebesgeschichten zu komponieren, die den Tumult greller und selbst grausamer Farben widerspiegelten; Erzählungen von tropischen Himmeln in brennendem Gold oder blutrotem Kupfer; von östlichen Helden, die unter zwölfturbanigen Herrschermitren auf purpurn oder pfauengrün bemalten Elefanten reiten; von riesigen Edelsteinen, die hundert Negersklaven nicht schleppen könnten, die aber in uralten und fremdartig farbigen Feuern glühen.

Kurz (um es auf alltäglichere Weise darzustellen), er befaßte sich viel mit orientalischen Himmeln, die schlimmer sind als die meisten westlichen Höllen; mit orientalischen Monarchen, die wir vielleicht Wahnsinnige nennen würden; und mit orientalischen Edelsteinen, die ein Juwelier in der Bond Street (falls die hundert stolpernden Neger sie ihm in den Laden brächten) vielleicht gar nicht als echt ansähe. Quinton war ein Genie, wenn auch ein morbides; und selbst seine Morbidität zeigte sich eher in seinem Leben als in seinem Werk. Vom Temperament her war er schwächlich und launisch, und seine Gesundheit hatte schwer unter orientalischen Versuchen mit Opium gelitten. Seine Frau – eine hübsche, hart arbeitende und in der Tat überarbeitete Frau – widersprach dem Opium, aber widersprach noch sehr viel mehr einem lebenden indischen Eremiten in gelben und weißen Roben, den ihr Gatte bereits vor Monaten bei sich aufgenommen hatte, ein Vergil, seinen Geist durch die Himmel und Höllen des Ostens zu geleiten.

Aus diesem Künstlerhaushalt also traten Father Brown und sein Freund vor die Tür; und wenn man nach ihren Gesichtern urteilte, traten sie sehr erleichtert heraus. Flambeau hatte Quinton während wilder Studienzeiten in Paris gekannt, und sie hatten ihre Bekanntschaft während eines Wochenendes erneuert; aber ganz abgesehen von seiner seriösen Entwicklung während der letzten Zeit, kam Flambeau jetzt mit dem Dichter nicht mehr gut aus. Sich mit Opium umzubringen und kleine erotische Verse auf Jungfernpergament zu schreiben entsprach nicht seiner Vorstellung, wie ein Gentleman zum Teufel gehen sollte. Als die beiden auf der Türschwelle stehenblieben, ehe sie einen Spaziergang durch den Garten unternahmen, wurde das vordere Gartentor gewaltsam aufgeschmissen und ein junger Mann, die Melone in den Nacken geschoben, stolperte in seiner Eilfertigkeit die Stufen herauf. Es war ein liederlich aussehender Jüngling, dessen prunkvoll rote Krawatte völlig zerknittert war, als ob er mit ihr geschlafen hätte, und andauernd focht und schlug er mit einem jener kleinen knotigen Bambusstöckchen um sich.

»Hören Sie«, sagte er atemlos, »ich will den alten Quinton sprechen. Ich muß ihn sprechen. Ist er ausgegangen?«

»Mr. Quinton ist zu Hause, glaube ich«, sagte Father Brown und säuberte seine Pfeife, »aber ich weiß nicht, ob Sie ihn sprechen können. Im Augenblick ist der Arzt bei ihm.«

Der junge Mann, der wohl nicht ganz nüchtern war, stolperte in die Eingangshalle; und im gleichen Augenblick kam der Doktor aus Quintons Arbeitszimmer, schloß die Tür und begann sich die Handschuhe anzuziehen.

»Mr. Quinton sprechen?« sagte er kühl. »Nein, tut mir leid, können Sie nicht. Tatsächlich dürfen Sie es auf gar keinen Fall. Niemand kann ihn jetzt sprechen; ich habe ihm gerade sein Schlafmittel gegeben.«

»Na, hören Sie mal, alter Knabe«, sagte der Jüngling mit der roten Krawatte und versuchte, den Doktor liebevoll bei den Rockaufschlägen zu packen. »Hören Sie zu. Ich bin einfach völlig blank, sage ich Ihnen. Ich – «

»Hat gar keinen Zweck, Mr. Atkinson«, sagte der Doktor und zwang ihn zurückzutreten; »wenn Sie die Wirkung einer Droge ändern können, werde ich meine Entscheidung ändern«, und indem er seinen Hut aufsetzte, trat er hinaus zu den beiden anderen in den Sonnenschein. Er war ein stiernackiger, gutmütiger kleiner Mann mit einem schmalen Schnurrbart, unsäglich gewöhnlich, und machte dennoch einen fähigen Eindruck.

Der junge Mann mit Melone, der über die allgemeine Idee hinaus, nach den Röcken von Menschen zu grapschen, mit keinerlei Takt im Umgang mit ihnen begabt zu sein schien, stand vor der Tür, so verblüfft, als ob er körperlich hinausgeworfen worden sei, und beobachtete schweigend, wie die anderen drei zusammen durch den Garten von dannen schritten.

»Das war eben eine satte fette Lüge, die ich da erzählt habe«, bemerkte der Arzt lachend. »Tatsächlich wird der arme Quinton sein Schlafmittel erst in einer halben Stunde bekommen. Aber ich will nicht, daß ihn dieses kleine Viech pestert, der sich nur Geld leihen will, das er niemals zurückzahlen wird, selbst wenn er könnte. Er ist ein dreckiger kleiner Lump, obwohl er Frau Quintons Bruder ist, und die ist die feinste Frau, die es je gegeben hat.«

»Ja«, sagte Father Brown, »sie ist eine gute Frau.«

»Also schlage ich vor, daß wir uns im Garten herumtreiben, bis dieser Lümmel verschwunden ist«, fuhr der Doktor fort, »und dann werde ich mit der Medizin zu Quinton gehen. Atkinson kann nicht rein, denn ich habe die Tür abgeschlossen.«

»In dem Fall, Dr. Harris«, sagte Flambeau, »können wir ebensogut hinten rum um das Gewächshaus gehen. Da gibt es zwar keinen Eingang, aber es lohnt sich, das zu sehen, selbst von außen.«

»Ja, und ich könnte einen Blick auf meinen Patienten werfen«, lachte der Doktor, »denn er liebt es, auf einer Ottomane am Ende des Gewächshauses zu liegen, mitten zwischen all den blutroten Poinsettien; ich würde da eine Gänsehaut kriegen. Was machen Sie denn da?«

Father Brown war für einen Augenblick stehengeblieben und hob aus dem hohen Gras, darin es fast völlig verborgen war, ein sonderbar gekrümmtes orientalisches Messer auf, das herrlich mit bunten Steinen und farbigen Metallen eingelegt war.

»Was ist das?« fragte Father Brown und betrachtete es mit einiger Ablehnung.

»Ach, das gehört wohl Quinton«, sagte Dr. Harris unbekümmert; »er hat haufenweise chinesischen Krimskrams im ganzen Haus. Oder vielleicht gehört es dem sanften Hindu, den er sich an der Leine hält.«

»Welchen Hindu?« fragte Father Brown, der immer noch auf den Dolch in seiner Hand starrte.

»Ach, irgend so einen indischen Zauberer«, sagte der Doktor leichthin; »natürlich ein Schwindler.«

»Sie glauben also nicht an Magie?« fragte Father Brown, ohne aufzublicken.

»Blödsinn! Magie!« sagte der Doktor.

»Es ist sehr schön«, sagte der Priester mit einer leisen träumerischen Stimme; »die Farben sind sehr schön. Aber es hat die falsche Form.«

»Wozu?« fragte Flambeau und starrte ihn an.

»Zu allem. Es ist die falsche Form an sich. Haben Sie das bei östlicher Kunst nie gespürt? Die Farben sind berauschend lieblich; aber die Formen sind niedrig und schlecht – mit Absicht niedrig und schlecht. Ich habe in einem türkischen Teppich wirklich üble Dinge gesehen.«

»Mon Dieu!« rief Flambeau lachend.

»Da sind Buchstaben und Zeichen in einer Sprache, die ich nicht kenne; aber ich weiß, daß sie für böse Worte stehen«, fuhr der Priester fort, dessen Stimme leiser und leiser wurde. »Die Linien laufen absichtlich falsch – wie Schlangen, die sich zur Flucht krümmen.«

»Wovon zum Teufel sprechen Sie eigentlich?« fragte der Doktor mit lautem Lachen.

Flambeau gab ihm ruhig zur Antwort: »Den Father überkommt manchmal diese mystische Wolke«, sagte er; »aber ich kann Ihnen versichern, daß ich ihn nie so gesehen habe, wenn da nicht etwas Böses in der Nähe war.«

»Ach Quatsch!« sagte der Wissenschaftler.

»Sehen Sie doch nur«, rief Father Brown und hielt das gekrümmte Messer auf Armeslänge, als ob es eine glitzernde Schlange wäre. »Sehen Sie die falsche Form denn nicht? Sehen Sie nicht, daß es keinen gesunden und einfachen Zweck hat? Es hat keine Spitze wie ein Speer. Es schneidet nicht wie eine Sense. Es sieht nicht aus wie eine Waffe. Es sieht aus wie ein Foltergerät.«

»Na schön, da Sie es nicht zu mögen scheinen«, sagte der fröhliche Harris, »sollten wir es lieber seinem Besitzer zurückbringen. Sind wir denn noch nicht am Ende dieses verdammten Gewächshauses? Dies Haus hat die falsche Form, wenn Sie wollen.«

»Sie verstehen nicht«, sagte Father Brown und schüttelte den Kopf. »Die Form dieses Hauses ist sonderbar – sogar lächerlich. Aber da ist nichts Falsches an ihm.«

Während sie redeten, kamen sie um die gläserne Rundung, die das Gewächshaus abschloß, eine ununterbrochene Rundung, denn da waren weder Tür noch Fenster, durch die man an jenem Ende hätte eintreten können. Doch das Glas war klar, und die Sonne schien noch hell, obwohl sie bereits unterzugehen begann; und sie konnten nicht nur die flammenden Blüten im Innern sehen, sondern auch die zerbrechliche Gestalt des Dichters, der in einer braunen Samtjacke lässig auf dem Sofa lag, offenbar über einem Buch dösend. Er war ein blasser schlanker Mann mit lockerem braunem Haar und einer Bartkrause, die das Paradox seines Gesichts war, denn der Bart ließ ihn weniger männlich aussehen. Diese Züge waren allen dreien wohlbekannt; aber selbst wenn es nicht so gewesen wäre, dürfte angezweifelt werden, ob sie ausgerechnet dann auf Quinton geblickt hätten. Ihre Blicke waren auf ein anderes Objekt geheftet.

Mitten auf ihrem Weg stand unmittelbar außerhalb der Endrundung des gläsernen Baues ein großer Mann, dessen Gewandung in makellosem Weiß auf seine Füße wallte und dessen nackter brauner Schädel wie sein Gesicht und sein Nacken in der untergehenden Sonne schimmernder Bronze gleich glänzte. Er blickte durch das Glas auf den Schläfer und war bewegungsloser als ein Gebirge.

»Wer ist das?« rief Father Brown, der zurückfuhr und den Atem pfeifend einsog.

»Ach, das ist nur dieser Hindu-Schwindler«, knurrte Harris; »aber ich weiß nicht, was beim Teufel er hier tut.«

»Es sieht aus wie Hypnotismus«, sagte Flambeau und biß sich in den schwarzen Schnurrbart.

»Warum müßt Ihr unmedizinischen Kerle nur immer solchen Unfug über Hypnotismus schwatzen?« rief der Doktor. »Das sieht vielmehr nach Einbruch aus.«

»Auf jeden Fall wollen wir mit ihm sprechen«, sagte Flambeau, der immer für Handlung war. Ein langer Schritt brachte ihn zu der Stelle, wo der Inder stand. Er beugte sich aus seiner großen Höhe herab, die selbst die des Orientalen überragte, und sagte mit gelassener Unverschämtheit:

»Guten Abend, Sir. Was wünschen Sie?«

Ganz langsam, wie ein großes Schiff in den Hafen gleitet, wandte sich das große gelbe Gesicht und blickte schließlich über die weiße Schulter. Es überraschte sie zu sehen, daß die gelben Augenlider wie im Schlaf geschlossen waren. »Danke«, sagte das Gesicht in ausgezeichnetem Englisch. »Ich wünsche nichts.« Dann öffnete er die Lider halb, wie um einen Schlitz schillernden Augapfels zu zeigen, und wiederholte: »Ich wünsche nichts.« Dann öffnete er die Augen weit zu einem erschreckend starren Blick, sagte: »Ich wünsche nichts« und schritt raschelnd in den rasch dunkelnden Garten hinein.

»Christen sind bescheidener«, murmelte Father Brown; »sie wünschen sich was.«

»Was um alles in der Welt hat er da getan?« fragte Flambeau, runzelte seine schwarzen Brauen und senkte die Stimme.

»Mit Ihnen möchte ich lieber später reden«, sagte Father Brown.

Das Sonnenlicht war noch Wirklichkeit, aber es war das rote Licht des Abends, und die Masse der Gartenbäume und Büsche wurde vor ihm dunkler und dunkler. Sie umrundeten das Ende des Gewächshauses und schritten schweigend die andere Seite entlang, um wieder zur Vordertür zu gelangen. Als sie so dahinschritten, schienen sie etwas in der tieferen Ecke zwischen Arbeitszimmer und Haupthaus aufzuscheuchen, wie man einen Vogel aufscheucht; und wieder sahen sie den weißgewandeten Fakir aus dem Schatten gleiten und um die Ecke zur Vordertür hin schlüpfen. Zu ihrer Überraschung aber war er nicht allein gewesen. Sie fanden sich plötzlich durch das Auftauchen von Frau Quinton aufgehalten und gezwungen, ihre Verwirrung zu unterdrücken, wie sie mit ihrem schweren goldenen Haar und dem ehrlichen blassen Gesicht aus dem Zwielicht auf sie zukam. Sie sah ein wenig streng aus, war aber durchaus höflich.

»Guten Abend, Dr. Harris«, war alles, was sie sagte.

»Guten Abend, Frau Quinton«, sagte der kleine Doktor herzlich. »Ich wollte gerade hineingehen und Ihrem Mann sein Schlafmittel geben.«

»Ja«, sagte sie mit klarer Stimme. »Ich glaube, es ist die richtige Zeit.« Und sie lächelte sie an und verschwand rasch im Haus.

»Die Frau ist überfordert«, sagte Father Brown; »das ist die Art von Frauen, die zwanzig Jahre lang ihre Pflicht und dann etwas Schreckliches tun.«

Der kleine Arzt sah ihn zum erstenmal mit einem interessierten Blick an. »Haben Sie mal Medizin studiert?« fragte er.

»Sie müssen vom Geist einiges kennen und den Körper«, antwortete der Priester; »wir müssen vom Körper einiges kennen und den Geist.«

»Nun ja«, sagte der Doktor, »ich glaube, ich werde jetzt reingehen und Quinton sein Zeug geben.«

Sie waren um die Ecke der Vorderfront gebogen und näherten sich dem Vordereingang. Als sie in ihn einbogen, sahen sie den Mann in der weißen Robe zum drittenmal. Er kam so gerade auf die Eingangstür zu, daß er eigentlich nur aus dem gegenüberliegenden Arbeitszimmer gekommen sein konnte. Aber sie wußten, daß die Tür zum Arbeitszimmer verschlossen war.

Father Brown und Flambeau jedenfalls behielten diesen seltsamen Widerspruch für sich, und Dr. Harris war nicht der Mann, der seine Gedanken auf das Ungewöhnliche verschwendet. Er ließ den allgegenwärtigen Asiaten seinen Abgang nehmen und trat dann energisch in die Halle. Da fand er eine Gestalt vor, die er inzwischen ganz vergessen hatte. Der alberne Atkinson lungerte immer noch herum, summte und porkelte mit seinem knotigen Stock an den Dingen herum. Das Gesicht des Doktors zog sich vor Widerwillen und Entschlossenheit zusammen, und er flüsterte seinen Gefährten rasch zu: »Ich muß die Tür wieder abschließen, sonst kommt diese Ratte noch rein. Aber ich bin in zwei Minuten zurück.«

Er schloß die Tür schnell auf und schloß sie hinter sich wieder ab und blockierte so einen blinden Ansturm des jungen Mannes mit der Melone. Der junge Mann warf sich ungeduldig in einen Stuhl in der Halle. Flambeau betrachtete eine persische Illustration an der Wand; Father Brown, der sich in einem Zustand der Betäubung zu befinden schien, blickte starräugig auf die Tür. Nach etwa vier Minuten wurde die Tür wieder geöffnet. Diesmal war Atkinson schneller. Er sprang vorwärts, hielt die Tür für einen Augenblick auf und schrie: »Hör mal, Quinton, ich brauche – «

Vom anderen Ende des Arbeitszimmers kam die klare Stimme Quintons, in einer Mischung aus Gähnen und müde gellendem Lachen.

»Ich weiß, was du willst. Nimm’s dir und laß mich in Frieden. Ich schreibe gerade ein Gedicht über Pfauen.«

Bevor die Tür sich schloß, flog ein halber Sovereign durch die Öffnung; und Atkinson, der vorwärts stolperte, schnappte ihn mit einzigartiger Geschicklichkeit.

»Das ist also erledigt«, sagte der Doktor, schloß grimmig die Tür ab und führte die anderen hinaus in den Garten.

»Der arme Leonard kann jetzt ein bißchen Ruhe finden«, sagte er zu Father Brown; »jetzt ist er mit sich allein für eine oder zwei Stunden eingeschlossen.«

»Ja«, sagte der Priester; »und seine Stimme klang heiter genug, als wir ihn verließen.« Dann sah er sich nachdenklich im Garten um, sah die liederliche Gestalt von Atkinson dastehen und mit dem halben Sovereign in seiner Tasche klimpern, und dahinter im purpurnen Zwielicht die Gestalt des Inders, der auf einer Grasbank steil aufgerichtet saß, sein Gesicht der sinkenden Sonne zugewandt. Da sagte er abrupt: »Wo ist Frau Quinton?«

»Sie ist hinauf in ihr Zimmer gegangen«, sagte der Doktor. »Das ist ihr Schatten auf der Jalousie.«

Father Brown blickte auf und betrachtete stirnrunzelnd einen dunklen Umriß an dem von Gaslicht erleuchteten Fenster.

»Ja«, sagte er, »das ist ihr Schatten«, und er ging ein oder zwei Schritte weiter und warf sich in einen Gartenstuhl.

Flambeau setzte sich neben ihn; aber der Doktor war eine jener energischen Personen, die ganz natürlich auf ihren Beinen leben. Er wanderte rauchend in die Dämmerung hinein, und die beiden Freunde blieben zusammen zurück.

»Mon Père«, fragte Flambeau, »was ist los mit Ihnen?«

Father Brown schwieg bewegungslos eine halbe Minute, dann sagte er: »Aberglaube ist unreligiös, aber hier liegt irgend etwas in der Luft. Ich glaube, das hat mit dem Inder zu tun – wenigstens teilweise.«

Er versank in Schweigen und beobachtete den fernen Umriß des Inders, der immer noch starr dasaß, wie im Gebet. Zuerst erschien er bewegungslos, aber als Father Brown ihn beobachtete, sah er, daß der Mann sich in einer rhythmischen Bewegung ganz leise hin und her wiegte, ebenso wie die dunklen Baumkronen sich ganz leise hin und her wiegten in dem leichten Wind, der die dämmrigen Gartenpfade entlangkroch und die gefallenen Blätter ein bißchen verschob.

Die Landschaft wurde schnell dunkel, wie vor einem Sturm, aber sie konnten immer noch alle Gestalten an ihren unterschiedlichen Plätzen sehen. Atkinson lehnte gegen einen Baum, mit teilnahmslosem Gesicht; Quintons Frau war immer noch an ihrem Fenster; der Doktor schlenderte um das Ende des Gewächshauses herum, sie konnten seine Zigarre wie ein Irrlicht sehen; und der Fakir saß immer noch starr und doch sich wiegend da, während die Bäume über ihm zu schwanken und fast zu brausen begannen. Mit Sicherheit kam ein Sturm auf.

»Als der Inder mit uns sprach«, fuhr Brown in leichtem Plauderton fort, »hatte ich eine Art Vision, eine Vision von ihm und seinem ganzen Universum. Und doch sagte er nur dreimal das gleiche. Als er zum erstenmal sagte ›Ich wünsche nichts‹, bedeutete das lediglich, daß er undurchdringlich sei, daß Asien sich nicht selbst aufgebe. Dann sagte er wiederum ›Ich wünsche nichts‹, und ich wußte, er meinte, daß er sich selbst genüge wie der Kosmos und daß er weder einen Gott brauche noch irgendwelche Sünden anerkenne. Und als er zum drittenmal sagte ›Ich wünsche nichts‹, da sagte er das mit flammenden Augen. Und ich wußte, daß er buchstäblich meinte, was er sagte; daß nichts sein Begehren und seine Heimat sei; daß er sich nach nichts sehnte wie nach Wein; daß Vernichtung, die reine Zerstörung von allem und jedem – «

Zwei Tropfen Regen fielen; und aus irgendeinem Grunde fuhr Flambeau zusammen und blickte hoch, als hätten sie ihn gestochen. Und im gleichen Augenblick begann der Doktor unten am Ende des Gewächshauses auf sie zuzulaufen und ihnen im Rennen etwas zuzurufen.

Als er wie eine Kanonenkugel zwischen sie schoß, näherte sich der ruhelose Atkinson zufällig der Hausfront; und der Doktor ergriff ihn beim Kragen mit einem krampfigen Griff. »Teufelswerk!« schrie er. »Was hast du ihm angetan, du Hund?«

Der Priester war aufgesprungen und hatte die stählerne Stimme eines kommandierenden Offiziers.

»Keine Schlägerei!« rief er kühl. »Wir sind genug, um jeden festzuhalten, den wir halten wollen. Was ist los, Doktor?«

»Mit Quinton ist irgendwas nicht in Ordnung«, sagte der Doktor totenblaß. »Ich habe ihn gerade durch die Scheiben gesehen und mir gefällt gar nicht, wie er daliegt. Jedenfalls nicht so, wie ich ihn verlassen habe.«

»Wir wollen zu ihm gehen«, sagte Father Brown kurz. »Sie können Mr. Atkinson loslassen. Ich hatte ihn die ganze Zeit im Auge, seit wir Quintons Stimme gehört haben.«

»Ich werde hierbleiben und auf ihn aufpassen«, sagte Flambeau hastig. »Sie gehen rein und sehen nach.«

Der Doktor und der Priester flogen zur Tür des Arbeitszimmers, schlossen sie auf und stürzten in den Raum. Dabei fielen sie fast über den großen Mahagonitisch in der Mitte des Raumes, an dem der Dichter meistens schrieb; denn das Zimmer war nur durch ein kleines Feuer erleuchtet, das für den Kranken brannte. In der Mitte dieses Tisches lag ein einzelnes Blatt Papier, offenkundig absichtlich dort belassen. Der Doktor schnappte es sich, warf einen Blick darauf, reichte es Father Brown, rief: »Guter Gott, sehen Sie sich das an!« und stürzte in den rückwärts liegenden gläsernen Raum, wo die furchtbaren tropischen Blumen eine karmesinfarbene Erinnerung an den Sonnenuntergang zu bewahren schienen.

Father Brown las die Worte dreimal, ehe er das Papier sinken ließ. Die Worte lauteten: »Ich sterbe von eigener Hand; und dennoch sterbe ich ermordet!« Sie waren in der wirklich unnachahmlichen, um nicht zu sagen unleserlichen Handschrift von Leonard Quinton.

Dann strebte Father Brown, das Papier immer noch in der Hand, dem Gewächshaus zu, nur um seinem ärztlichen Freund zu begegnen, der mit einem Gesichtsausdruck der Gewißheit und des Entsetzens zurückkam. »Er hat es getan«, sagte Harris.

Sie gingen zusammen durch die prangende unnatürliche Schönheit von Kakteen und Azaleen und fanden Leonard Quinton, Dichter und Romancier, mit von seiner Ottomane herabhängendem Haupt, dessen rote Locken den Boden fegten. In seine linke Seite war der sonderbare Dolch getrieben, den sie im Garten aufgelesen hatten, und seine schlaffe Hand ruhte noch auf dem Griff.

Draußen war der Sturm losgebrochen, wie die Nacht bei Coleridge, und Garten und Glasdach verdunkelte der prasselnde Regen. Father Brown schien das Papier aufmerksamer zu studieren als die Leiche; er hielt es dicht vor seine Augen und schien zu versuchen, es im Zwielicht zu lesen. Dann hielt er es gegen das schwache Licht empor, und in diesem Augenblick zuckte ein Blitz daher so weiß, daß das Papier gegen ihn schwarz erschien.

Dunkelheit voll Donner folgte, und nach dem Donner sagte Father Browns Stimme aus der Dunkelheit: »Doktor, dieses Papier hat die falsche Form.«

»Was meinen Sie?« fragte Dr. Harris und starrte ihn stirnrunzelnd an.

»Es ist nicht viereckig«, antwortete Brown. »Da ist so eine Art Rand an der Ecke abgeschnitten. Was bedeutet das?«

»Woher zum Teufel soll ich das wissen?« brummte der Doktor. »Was meinen Sie, sollen wir diesen armen Kerl nicht aufheben? Er ist mausetot.«

»Nein«, antwortete der Priester; »wir müssen ihn lassen, wie er liegt, und nach der Polizei schicken.« Aber immer noch untersuchte er das Papier.

Als sie durch das Arbeitszimmer zurückgingen, blieb er am Tisch stehen und hob eine kleine Nagelschere auf. »Aha«, sagte er einigermaßen erleichtert; »damit hat er es also getan. Und doch – « Und er runzelte die Brauen.

»Ach hören Sie doch auf, mit dem Papierfetzen herumzumachen«, sagte der Doktor mit Nachdruck. »Das war eine seiner Marotten. Er hatte deren Hunderte. Er hat sein gesamtes Papier so beschnitten«, und er wies auf einen Stapel unbenutzten Konzeptpapiers auf einem anderen und kleineren Tisch. Father Brown ging hin und nahm ein Blatt auf. Es hatte die gleiche unregelmäßige Form.

»Tatsächlich«, sagte er. »Und hier sehe ich die abgeschnittenen Ecken.« Und zur Empörung seines Kollegen begann er sie zu zählen.

»Stimmt«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln. »23 Blatt und 22 abgeschnittene Ecken. Und da ich sehe, daß Sie ungeduldig sind, wollen wir wieder zu den anderen gehen.«

»Wer soll es seiner Frau sagen?« fragte Dr. Harris. »Wollen Sie nicht zu ihr gehen und es ihr beibringen, während ich einen Diener zur Polizei schicke?«

»Wie Sie wollen«, sagte Father Brown gleichgültig. Und er ging hinaus zur Tür in der Eingangshalle.

Auch hier fand er ein Drama vor, allerdings eines von der groteskeren Art. Es zeigte nichts Geringeres als seinen riesigen Freund Flambeau in einer Haltung, an die er seit langem nicht mehr gewöhnt war, während auf dem Gehsteig zu Füßen der Treppe der liebenswerte Atkinson mit den Beinen in der Luft strampelte und Melone und Spazierstöckchen in entgegengesetzte Richtungen den Gehsteig entlang davonflogen. Atkinson war schließlich Flambeaus fast väterlicher Obsorge müde geworden und hatte sich unterfangen, ihn niederzuschlagen, wobei mit dem König der Apachen zu spielen kein leichtes Unterfangen war, selbst nicht nach der Abdankung dieses Monarchen.

Flambeau setzte gerade an, sich erneut auf seinen Gegner zu werfen und ihn von neuem zu packen, als der Priester ihm leicht auf die Schulter klopfte.

»Schließen Sie Frieden mit Mr. Atkinson, mein Freund«, sagte er. »Bittet euch gegenseitig um Vergebung und sagt ›Gute Nacht‹. Wir brauchen ihn nicht länger festzuhalten.« Nachdem aber Atkinson sich einigermaßen mißtrauisch erhoben und Hut und Stock an sich gerafft hatte und zum Gartentor ging, fragte Father Brown mit ernsterer Stimme: »Wo ist dieser Inder?«

Alle drei (denn der Doktor hatte sich ihnen angeschlossen) wandten sich unwillkürlich der verschwommenen Grasbank mitten zwischen den rauschenden, im Dämmerlicht purpurnen Bäumen zu, wo sie den braunen Mann zuletzt sich in seinen fremdartigen Gebeten wiegend gesehen hatten. Der Inder war verschwunden.

»Hol ihn der Teufel«, sagte der Doktor und stampfte wütend auf. »Jetzt weiß ich, daß es der schwarze Kerl getan hat.«

»Ich dachte, Sie glaubten nicht an Zauberei«, sagte Father Brown ruhig.

»Tu ich auch nicht«, sagte der Doktor und rollte die Augen. »Ich weiß nur, daß ich den gelben Teufel schon verabscheute, als ich noch dachte, er sei ein falscher Zauberer. Und ich werde ihn noch mehr verabscheuen, wenn ich zu der Überzeugung kommen sollte, daß er ein wirklicher ist.«

»Daß er verschwunden ist, bedeutet nichts«, sagte Flambeau. »Denn wir hätten ihm nichts beweisen und nichts gegen ihn unternehmen können. Man kann der Ortspolizei schlecht mit einer Geschichte von Selbstmord, herbeigeführt durch Zauberei oder Autosuggestion, kommen.«

Inzwischen war Father Brown ins Haus gegangen, um der Frau des Toten die Neuigkeit zu überbringen.

Als er wieder herauskam, sah er etwas bleich und ergriffen aus; doch was sich zwischen ihnen bei jener Unterredung abgespielt hat, ist nie bekanntgeworden, selbst nachdem alles bekanntgeworden war.

Flambeau, der sich ruhig mit dem Doktor unterhielt, war überrascht, seinen Freund so rasch wieder neben sich auftauchen zu sehen; aber Brown nahm das nicht zur Kenntnis, sondern zog lediglich den Doktor auf die Seite. »Sie haben doch nach der Polizei geschickt, oder?« fragte er.

»Ja«, sagte Harris. »Sie müssen in etwa zehn Minuten hier sein.«

»Wollen Sie mir einen Gefallen tun?« sagte der Priester ruhig. »Die Wahrheit ist, daß ich jene sonderbaren Geschichten sammle, welche oftmals wie im Fall unseres Hindu-Freundes Elemente enthalten, die man schlecht in einen Polizeibericht schreiben kann. Nun möchte ich, daß Sie mir zu meiner privaten Verwendung einen Bericht über diesen Fall schreiben. Ihr Beruf erfordert Klugheit«, sagte er und sah dem Arzt ernst und stetig ins Gesicht. »Ich meine manchmal, daß Sie bestimmte Einzelheiten dieses Falles kennen, die zu erwähnen Sie nicht für zweckmäßig gehalten haben. Mein Beruf ist ein verschwiegener wie der Ihre, und ich werde alles, was Sie mir aufschreiben, streng vertraulich behandeln. Aber schreiben Sie alles auf.«

Der Doktor, der den Kopf ein bißchen zur Seite geneigt und nachdenklich zugehört hatte, sah dem Priester für einen Augenblick ins Gesicht und sagte: »In Ordnung«, und ging ins Arbeitszimmer, dessen Tür er hinter sich schloß.

»Flambeau«, sagte Father Brown, »da steht eine Bank auf der Veranda, wo wir vor dem Regen geschützt rauchen können. Sie sind mein einziger Freund auf Erden, und jetzt möchte ich mit Ihnen reden. Oder vielleicht mit Ihnen schweigen.«

Sie machten es sich auf der Verandabank bequem; Father Brown nahm gegen seine sonstige Gewohnheit eine gute Zigarre an und rauchte sie stetig und schweigend, während der Regen das Verandadach kreischen und klappern machte.

»Mein Freund«, sagte er schließlich, »das ist ein sehr sonderbarer Fall. Ein sehr sonderbarer Fall.«

»Das scheint mir auch so«, sagte Flambeau mit einem leichten Schaudern.

»Sie nennen ihn sonderbar, und ich nenne ihn sonderbar«, sagte der andere, »und doch meinen wir ganz gegensätzliche Dinge. Der moderne Verstand verwechselt dauernd zwei verschiedene Ideen: Geheimnis im Sinn des Wundersamen, und Geheimnis im Sinn des Komplizierten. Das ist die halbe Schwierigkeit mit Wundern. Ein Wunder ist verblüffend; aber es ist einfach. Es ist einfach, weil es ein Wunder ist. Es ist Macht, die direkt von Gott (oder vom Teufel) kommt und nicht indirekt durch die Natur oder den menschlichen Willen. Nun glauben Sie, daß dies hier wundersam ist, weil es ein Wunder ist, weil es Zauberei ist, die ein teuflischer Inder beging. Verstehen Sie wohl, ich sage nicht, daß es nicht geistig oder teuflisch ist. Himmel und Hölle allein wissen, durch welche Einflüsse der Umgebung fremdartige Sünder ins Leben der Menschen geraten. In diesem Falle aber ist meine Meinung folgende: Wenn es reine Magie war, wie Sie glauben, dann ist das wundersam; aber es ist nicht geheimnisvoll – das heißt, nicht kompliziert. Das Wesen eines Wunders ist geheimnisvoll, aber seine Art ist einfach. Nun war aber die Art dieses Falles das Gegenteil von einfach.«

Der Sturm, der für eine Weile abgeflaut war, schien wieder zuzunehmen, und von fernher kam ein schweres Rollen wie von schwachem Donner. Father Brown ließ die Asche seiner Zigarre fallen und fuhr fort:

»Dieser Vorfall ist«, sagte er, »von verdrehtem, häßlichem, komplexem Wesen, das weder den direkten Schlägen des Himmels noch denen der Hölle zu eigen ist. Wie man die krumme Spur einer Schnecke erkennt, erkenne ich die krumme Spur eines Menschen.«

Der weiße Blitz öffnete für ein Blinzeln sein riesiges Auge, der Himmel schloß sich wieder, und der Priester fuhr fort:

»Von allen diesen krummen Dingen war das krummste die Form jenes Stücks Papier. Sie war krummer als die Form des Dolches, der ihn tötete.«

»Sie meinen das Papier, auf dem Quinton seinen Selbstmord bekannte«, sagte Flambeau.

»Ich meine das Papier, auf das Quinton ›Ich sterbe von eigener Hand‹ geschrieben hat«, antwortete Father Brown. »Die Form dieses Papiers, mein Freund, war die falsche Form; die falsche Form, wenn ich je eine in dieser bösen Welt gesehen habe.«

»Es war doch nur eine Ecke abgeschnitten«, sagte Flambeau, »und soviel ich weiß, war alles Papier von Quinton auf diese Art beschnitten.«

»Das war eine sehr befremdliche Art«, sagte der andere, »und für meinen Geschmack und mein Gefühl eine sehr üble Art. Sehen Sie, Flambeau, dieser Quinton – Gott möge seine Seele in Gnaden aufnehmen! – war vielleicht in gewisser Hinsicht ein bißchen ein Lumpenhund, aber er war wirklich ein Künstler, mit dem Zeichenstift wie mit der Feder. Seine Handschrift war, obwohl schwer zu lesen, kühn und schön. Ich kann nicht beweisen, was ich sage; ich kann überhaupt nichts beweisen. Aber ich sage Ihnen aus felsenfester Überzeugung, daß er nie imstande gewesen wäre, dieses gemeine Stückchen von einem Papierblatt abzuschneiden. Wenn er sich das Papier zu irgendeinem Zweck hätte zurechtschneiden wollen, damit es paßt oder fürs Binden oder für was auch immer, dann hätte er mit der Schere einen ganz anderen Schnitt gemacht. Erinnern Sie sich an die Form? Es war eine gemeine Form. Es war eine falsche Form. Wie das hier. Erinnern Sie sich nicht?«

Und mit seiner glühenden Zigarre machte er vor sich in der Dunkelheit so schnelle unregelmäßige Vierecke, daß Flambeau sie wie glühende Hieroglyphen auf der Dunkelheit sehen konnte – Hieroglyphen wie jene, von denen sein Freund gesprochen hatte, die unentzifferbar sind, aber keine gute Bedeutung haben können.

»Aber«, sagte Flambeau, als der Priester die Zigarre wieder in den Mund steckte, sich zurücklehnte und an die Decke starrte. »Angenommen, jemand anders benutzte die Schere. Warum sollte jemand anders Quinton dazu bringen, Selbstmord zu begehen, indem er Stückchen von seinem Konzeptpapier abschnitt?«

Father Brown lehnte immer noch zurück und starrte an die Decke, aber er nahm die Zigarre aus dem Mund und sagte: »Quinton hat niemals Selbstmord begangen.«

Flambeau starrte ihn an. »Zum Teufel«, schrie er; »warum hat er denn dann den Selbstmord gestanden?«

Der Priester lehnte sich vornüber, stützte die Ellbogen auf die Knie, blickte zu Boden und sagte mit leiser deutlicher Stimme: »Er hat niemals den Selbstmord gestanden.«

Flambeau legte seine Zigarre hin. »Sie meinen«, sagte er, »daß das Schriftstück gefälscht war?«

»Nein«, sagte Father Brown; »Quinton hat es schon selbst geschrieben.«

»Was wollen Sie denn dann?« sagte Flambeau ärgerlich; »Quinton schrieb mit eigener Hand: ›Ich sterbe von eigener Hand‹ auf ein einfaches Stück Papier.«

»Von falscher Form«, sagte der Priester ruhig.

»Verdammte Form!« schrie Flambeau. »Was hat die Form damit zu tun?«

»Da lagen 23 Blatt beschnittenes Papier«, machte Brown ungerührt weiter, »aber nur 22 abgeschnittene Ecken. Also war eine der abgeschnittenen Ecken zerstört worden, vermutlich die von dem beschriebenen Blatt. Sagt Ihnen das was?«

Verständnis leuchtete in Flambeaus Gesicht auf, und er sagte:

»Quinton hatte noch mehr geschrieben, ein paar weitere Wörter. ›Man wird sagen, ich sterbe von eigner Hand‹, oder ›Glaubt nicht, ich –‹«

»Immer heißer, wie die Kinder sagen«, sagte sein Freund. »Aber das Stückchen war kaum einen halben Zoll breit; kein Platz für ein Wort, geschweige denn für fünf. Können Sie sich etwas kaum Größeres als ein Komma denken, was der Mann mit der Hölle im Herzen als Zeugnis wider sich wegschneiden mußte?«

»Ich kann mir nichts denken«, sagte Flambeau schließlich.

»Und was ist mit Anführungszeichen?« sagte der Priester und schleuderte seine Zigarre weit weg ins Dunkel wie eine Sternschnuppe.

Kein Wort kam aus des anderen Mannes Mund, und Father Brown sagte wie jemand, der aufs Grundsätzliche zurückkommt:

»Leonard Quinton war ein Romancier, und er schrieb an einem orientalischen Roman über Zauberwesen und Hypnotismus. Er – «

In diesem Augenblick wurde die Tür hinter ihnen energisch geöffnet, und der Doktor kam heraus, den Hut auf dem Kopf. Er drückte dem Priester einen großen Umschlag in die Hand.

»Hier ist das Dokument, das Sie haben wollten«, sagte er, »und jetzt muß ich nach Hause. Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagte Father Brown, als der Doktor energisch zum Gartentor schritt. Er hatte die Vordertür offengelassen, so daß ein Strahl des Gaslichtes auf sie fiel. In diesem Licht öffnete Brown den Umschlag und las die folgenden Worte:

 

»Lieber Father Brown – Vicisti, Galilaee! Oder anders, verflucht seien Ihre Augen, die alles so sehr durchschauen. Kann es denn möglich sein, daß hinter dem Zeugs, was Sie verzapfen, doch etwas steckt?

Ich bin ein Mann, der seit seiner Knabenzeit an die Natur geglaubt hat, und an alle natürlichen Funktionen und Instinkte, egal ob man sie moralisch oder unmoralisch nennt. Lange bevor ich Arzt wurde, als ich noch Schuljunge war und mir Mäuse und Spinnen hielt, glaubte ich schon, daß ein gutes Tier zu sein das Beste auf Erden sei. Doch jetzt bin ich darin erschüttert; ich habe an die Natur geglaubt; aber jetzt sieht es so aus, als könne die Natur den Menschen verraten. Kann in Ihrem Humbug doch etwas stecken? Mir scheint, ich werde morbide.

Ich liebte Quintons Frau. Was war daran falsch? Die Natur befahl es mir, und Liebe ist es, die die Welt in Gang hält. Auch war ich ehrlich der Überzeugung, daß sie mit einem sauberen Tier wie mir glücklicher sein würde als mit jenem kleinen verrückten Quälgeist. Was war daran falsch? Ich sah als Mann der Wissenschaft lediglich den Tatsachen ins Gesicht. Sie wäre glücklicher gewesen.

Nach meinem eigenen Glauben stand es mir völlig frei, Quinton zu töten, was für alle das beste war, selbst für ihn. Aber als gesundes Tier hatte ich nicht die Absicht, mich selbst zu töten. Ich entschloß mich daher, es niemals zu tun, es sei denn, daß ich eine Möglichkeit sähe, damit ungestraft davonzukommen. Diese Möglichkeit sah ich heute morgen.

Ich war heute insgesamt dreimal in Quintons Arbeitszimmer. Als ich das erste Mal hineinging, wollte er über nichts anderes reden als über eine verrückte Geschichte von Zauberei mit dem Titel ›Der Fluch eines Heiligen‹, an der er schrieb und die sich nur darum drehte, wie ein indischer Einsiedler einen englischen Oberst dazu bringt, sich selbst zu töten, indem er an ihn denkt. Er zeigte mir die letzten Seiten und las mir sogar den letzten Absatz vor, der ungefähr so lautete: ›Der Eroberer des Punjab, nurmehr ein gelbes Skelett, aber immer noch ein Riese, schaffte es, sich auf den Ellenbogen aufzurichten und seinem Neffen ins Ohr zu keuchen: „Ich sterbe von eigener Hand; und dennoch sterbe ich ermordet!“‹ Nun hatte es sich durch einen Zufall aus hundert ergeben, daß diese letzten Worte auf den Kopf eines neuen Blattes geschrieben waren. Ich verließ das Zimmer und ging hinaus in den Garten, vergiftet von einer fürchterlichen Möglichkeit.

Wir wanderten um das Haus herum, und es geschahen zwei weitere Dinge zu meinen Gunsten. Sie mißtrauten dem Inder, und Sie fanden einen Dolch, wie ihn ein Inder am wahrscheinlichsten verwenden würde. Ich ergriff die Gelegenheit, steckte ihn in die Tasche, ging zurück in Quintons Arbeitszimmer und gab ihm sein Schlafmittel. Er war absolut dagegen, mit Atkinson auch nur zu sprechen, aber ich bestand darauf, daß er rufe und den Burschen beruhige, denn ich wollte einen eindeutigen Beweis dafür, daß Quinton noch am Leben war, als ich den Raum zum zweitenmal verließ. Quinton legte sich im Gewächshaus nieder, und ich kam durch das Arbeitszimmer heraus. Ich habe geschickte Hände, und so hatte ich in anderthalb Minuten getan, was ich tun wollte. Ich hatte den ganzen ersten Teil von Quintons Roman in den Kamin geworfen, wo er zu Asche verbrannte. Dann sah ich, daß das mit den Anführungszeichen nicht ging, also schnitt ich sie ab und beschnitt, um es wahrscheinlicher zu machen, den ganzen Stoß auf die gleiche Weise. Dann kam ich mit dem Wissen heraus, daß Quintons Bekenntnis seines Selbstmordes auf dem vorderen Tisch lag, während Quinton dahinter im Gewächshaus lag, am Leben, wenn auch schlafend.

Der letzte Akt war ziemlich verzweifelt; Sie können sich das vorstellen: Ich gab vor, Quinton tot liegen gesehen zu haben, und rannte in seinen Raum. Ich hielt Sie mit dem Papier auf und, da ich ein Mann mit schnellen Händen bin, tötete Quinton, während Sie sich sein Selbstmordbekenntnis ansahen. Er war betäubt im Halbschlaf, und so legte ich seine eigene Hand auf den Dolch und trieb ihn ihm in den Leib. Das Messer war von so eigenartiger Form, daß nur ein Chirurg den genauen Winkel berechnen konnte, in dem es sein Herz erreichen würde. Ich frage mich, ob Sie das bemerkt haben.

Als ich es getan hatte, geschah etwas Außerordentliches. Die Natur verließ mich. Mir wurde übel. Ich fühlte mich, als hätte ich etwas Falsches getan. Ich glaube, mein Gehirn versagt; ich fühle eine Art verzweifelten Vergnügens beim Gedanken daran, daß ich die Sache jemandem erzählt habe; daß ich sie nicht allein zu tragen habe, wenn ich heirate und Kinder habe. Was ist mit mir los?… Wahnsinn… oder kann jemand Reue empfinden, wie in den Gedichten von Byron! Ich kann nicht weiterschreiben.

JAMES ERSKINE HARRIS

 

Father Brown faltete den Brief sorgfältig zusammen und verwahrte ihn in seiner Brusttasche, als von der Gartenglocke ein lautes Läuten erscholl und die nassen Regenmäntel von mehreren Polizisten in der Straße draußen erglänzten.