WIE WIR DIE KUNST DES FLIEGENS VERLERNEN

IMAGE rank Gilbreth war ein glühender Gefolgsmann Frederick Taylors und beschloss eines Tages, sich mit zwei Rasierern gleichzeitig zu rasieren, um Zeit zu sparen. Er gab den Versuch erst auf, als er feststellte, dass er zwei Minuten zusätzlich brauchte, um seine so entstandenen Wunden zu bandagieren.

Die Wunden, die wir heute spüren, sind weniger sichtbar, aber überall, wo Daten über die Veränderung von Lese- und Konzentrationsfähigkeiten zur Verfügung stehen - in Amerika, den Niederlanden und Israel -, werden die Menschen nervös. »Es wäre eine Schande«, fasst der Autor Edward Tenner die Lage zusammen, »wenn es so enden würde, dass eine brillante Technologie die Art von Intellekt bedroht, die sie hervorgebracht hat.«40

»Die Mehrheit der Arten«, warnte bereits vor achtzig Jahren der Evolutionsbiologe J.B.S. Haldane, »hat nach und nach viele ihrer Funktionen verloren. Die Vorläufer von Austern und Entenmuscheln hatten Köpfe. Schlangen haben ihre Gliedmaßen und Strauße und Pinguine ihre Flugfähigkeit eingebüßt. Ebenso leicht könnte der Mensch seine Intelligenz einbüßen.«41

So weit ist es mit Sicherheit noch nicht. Wenn der Verlust der Intelligenz droht, wird uns Google rechtzeitig warnen. Denn Biologen haben festgestellt, dass der Google-Suchalgorithmus das derzeit beste Verfahren ist, den Kollaps von Ökosystemen vorauszusagen. Web-Seiten mit vielen Links werden von Googles page rank hoch gewertet, weil sie von vielen Leuten konsumiert werden und selbst viel Traffic konsumieren. Die Biologen haben durch den Google-Algorithmus feststellen können, dass eine Spezies dann wichtig ist, wenn sie viele unterschiedliche Dinge frisst und von vielen unterschiedlichen Dingen gefressen wird.«42 Da Menschen Informationen fressen, die wiederum die Aufmerksamkeit der Menschen fressen, sind wir eine wichtige Spezies in der digitalen Umwelt. Im Augenblick verlieren wir nicht die Intelligenz, aber wir verlernen das Fliegen, die Fähigkeit, aus der Vogelperspektive den Überblick zu behalten.

Noch zum 23. Oktober 2008 wäre diese Überforderung vielleicht nur unsere Privatangelegenheit gewesen. Denn alle anderen scheinen die Systeme perfekt zu beherrschen. Aber dann erlebte die Welt den Erklärungsnotstand und die Fassungslosigkeit derjenigen, die niemals eine Information ausließen, um niemals zurückzufallen. An diesem Tag gab der frühere amerikanische Notenbankpräsident Alan Greenspan eine Erklärung vor dem amerikanischen Kongress ab, in der der Computer zum Über-Ich wurde, zu einem autoritären Herrscher, dessen Autorität Greenspan mit der von Nobelpreisträgern verglich. Tatsächlich suggerierte er, dass die Rechner den freien Willen der Menschen manipuliert hätten:

»In den letzten Jahrzehnten hat sich ein gewaltiges… System entwickelt, das die Erkenntnisse der besten Mathematiker und Finanzexperten mit der Computer- und Kommunikationstechnologie verband. Für die Entdeckung des Preismodells, das viel zur Entwicklung des Derivate-Markts beigetragen hat, ist ein Nobelpreis verliehen worden… Doch das ganze Denkgebäude ist im Sommer des letzten Jahres zusammengebrochen«43.

Computer werden von Menschen programmiert, und sie tun das, was Menschen von ihnen wollen. Natürlich war das auch ein durchsichtiger Versuch, Verantwortung gleichsam mit technischen Argumenten von sich wegzuschieben. Die Immobilien-Krise, die der ursächliche Auslöser des Crashs war, hatte beispielsweise mit Computern nichts zu tun. Doch da Menschen nicht dazu neigen, Selbstmordprogramme durch Maschinen ausführen zu lassen, reicht es nicht aus, die Krise allein mit moralischen und ökonomischen Defiziten von Menschen zu erklären - im Gegenteil: Es sind Menschen mit diesen Defiziten, die Computer programmieren, die die Auswirkungen ihrer Handlungen auf dem gesamten vernetzten Erdball spürbar machen. Ohne eine Computer-Mathematik, die nur noch Resultate produziert, deren Herleitung man aber nicht versteht, hätte es diese Krise so nicht gegeben.

Richard Dooling, der sich in seinen Büchern mit der Entwicklung künstlicher Intelligenz befasst hat, schrieb unter dem Titel »Der Aufstieg der Maschinen« einen Kommentar in der »New York Times« und behauptete, dass die Finanzkrise tatsächlich der erste Fall einer Weltkrise sei, bei der ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Menschen, sondern nur noch Maschinen am Hebel saßen. Sie hätten den Wall-Street-Quants, den »quantitativen Analysten«, die die Software für die toxischen Papiere schrieben, ein Allmachtsgefühl gegeben, wie es vorher nur die Entwickler der Atombombe gehabt hatten44. Wobei der »Hebel« nicht der berühmte rote Knopf des Atomzeitalters war, sondern das Gehirn selbst: Es dachten die Computer, nicht die Menschen, und die begriffen nur noch die Resultate der Rechnungen, aber nicht, wie diese zustande kamen.

David X. Li, beispielsweise, ein junger chinesischer Mathematiker, galt bis zum Oktober 2008 als nobelpreisverdächtig. Er hatte die Formel entwickelt, von der das Magazin »Wired« später schrieb, es sei die Formel gewesen, die die Wall Street tötete.45 Li hatte einen hochkomplexen Algorithmus entwickelt, der die Risikoabschätzung von Derivaten berechnete, indem er ihn mathematisch mit dem Risiko von Lebensversicherern verglich, die an Witwen oder Witwer, also an überlebende Ehepartner Renten zahlen mussten. Heute ist David X. Li nicht mehr in New York, sondern irgendwo in China und zu Auskünften, wie die »Wired«-Redakteure feststellen mussten, nicht mehr bereit.

Auch hier hatte ein »autoritäres« System den Verstand, die Aufmerksamkeit und die Intuition einer ganzen informationsbesessenen Zunft in die Irre geführt. In den Anhörungen des Kongresses taucht oft der Begriff »Computer« auf und zwar immer an Stellen, wo die Redner ihre intellektuelle Kapitulation erklären wollen. Der Chef des Telekommunikationsriesen Cisco erklärte bündig: »Man könnte sagen, es geriet außer Kontrolle. In jedem Fall hatte niemand mehr die Kontrolle«.46

Es droht genau dies zum Lebensgefühl des heutigen Alltags zu werden: Der Kontrollverlust über Informationen. Die kritische Grenze, die das Verhältnis der Menschen zu den Rechnern erreicht hat, ist in vielen Büchern der letzten fünf Jahre breit dokumentiert. Man kann das wunderbar nachlesen in Miriam Meckels »Glück der Unerreichbarkeit«, das eindrückliche Buch einer Medienwissenschaftlerin über Medien, das in Wahrheit ihre Medienmüdigkeit und ihren Selbstheilungsprozess beschreibt.

Der englische Schriftsteller Nicholas Carr hat in seinem Essay »Macht Google uns dumm?« als Erster den Mut gehabt, auszusprechen, dass er glaube, durch die modernen Technologien dümmer zu werden. Er schrieb: »Während der letzten Jahre hatte ich das unangenehme Gefühl, dass irgendwas oder irgendjemand mit meinem Hirn spielt, die neuronale Architektur umbaut, meine Erinnerung umprogrammiert. Ich denke nicht mehr, wie ich zu denken gewohnt bin.«47

Die Architekten des Internets antworteten ihm damals auf ihre Weise. »Es ist ein Problem Ihres Willens«, entgegnete ihm beispielsweise Larry Sanger, der Mitbegründer von Wikipedia, »ein Denkversagen. Wenn das Ihr Problem ist, sollten Sie niemand dafür verantwortlich machen als sich selbst.«48

Es stimmt: Die generelle Behauptung, Internetkonsum oder gar Google verdumme den Menschen, ist hoffnungslos unproduktiv und macht das Netz zu einer Art Fernseher mit Tastatur. Wer sich einmal nach den Gründen der allgemeinen Zerstreutheit umhört, findet selbst unter den Informations-Gurus viele, die ihre Überforderung eingestehen, und unter den Informa-tions-Kritikern keinen Einzigen, der die neuen Technologien infrage stellen würde. »Es stimmt«, sagt Danny Hillis, »irgendetwas macht uns dümmer, aber es ist nicht Google. Man muss sich Google als Rettungsring vorstellen, den uns jemand zugeworfen hat in der steigenden Flut. Stimmt, wir benutzen ihn, um oben zu bleiben. Aber nicht, weil wir faul sind, sondern weil wir überleben wollen.«49

Als der Neurologe Gary Small, der sich als Hirndoktor für die elektronische i-Generation sieht, eine Untersuchung veröffentlichte, die zu beweisen schien, dass uns googeln sogar klüger macht, weil so mehr Hirnregionen als beim einfachen Lesen aktiviert werden, war der Spott groß, mit dem einige Cyber-Propheten Nicholas Carr überschütteten.50 Allerdings geben Smalls Resultate nicht das her, als was er sie verkaufen will. Sie bestätigen lediglich, dass der Computer wie das Videospiel in der Lage sind, das Hirn umzuprogrammieren und dass zusätzliche Hirnregionen aktiviert werden. Vermutlich erklären sie sogar, ganz gegen das Interesse ihres Verfassers, warum wir im Netz unkonzentrierter sind als beim Lesen eines Buches. Doch selbst im günstigsten Fall ist mit Blick auf die reine Hirnaktivität googeln intellektuell ungefähr so anspruchsvoll wie das Lösen eines Kreuzworträtsels. »Doch ist das Lösen von Rätseln«, fragten denn auch konsequent die klugen Autoren des »freakonomics«-Blogs, »die gleiche Art von Klugheit, die durch das Lesen eines Buches entsteht?«51

Man muss fair sein, um nicht in den Verdacht des Techno-Pessimisten zu geraten. Der kognitive Veränderungsdruck, den das Internet-Zeitalter auf die Menschheit ausübt, ist gewaltig und wird am Ende nur vergleichbar sein mit einer ganzen Kaskade einstürzender Weltbilder, gerade so, als erschienen in kurzen Abständen gleichzeitig Gutenberg plus Marx plus Darwin auf der Bildfläche. Es ist also nicht falsch, sich jetzt schon warm anzuziehen.

Allerdings wäre dieser Wandel nur eine kalte, ewige Sonnenfinsternis, wenn nicht die Vorteile so klar auf der Hand liegen würden. Gerade die Babyboomer-Generationen - zu denen Carr (und auch ich) gehören, also die heute Vierzig- bis Fünfzigjährigen, die im Zeitalter des rein passiven Medienkonsums groß geworden sind - haben Medien und Gesellschaft oft als autoritäre Ein-Weg-Systeme kennengelernt, in denen einer redet und alle zuhören.

Der Literaturkritiker William Deresiewicz, alles andere als ein Technik-Freak, beklagt zwar das Ende der romantischen Einsamkeit durch die neuen Technologien, weist aber zu Recht auf die soziale Wandlung hin, die mit dem Aufkommen des Fernsehens verbunden ist: »Ein Kind, das zwischen den Weltkriegen aufwuchs, war Teil einer Großfamilie in einer überschaubaren, städtischen Gemeinschaft und fand sich nach sechzig Jahren wieder als Großelternteil eines Kindes, das alleine vor einem großen Fernsehschirm in einem großen Haus saß. Wir waren alleine im Weltall. Unter solchen Bedingungen ist das Internet als ein unschätzbarer Segen über uns gekommen. Es erlaubt vielen isolierten Menschen, miteinander zu kommunizieren, und es hilft ausgegrenzten Menschen, Gleichgesinnte zu finden.«52

Der Computer baut großartige Verbindungen zu anderen Menschen auf, der Preis dafür ist aber ein gestörtes Verhältnis zu uns selbst. Im Netz gibt es Blogs und geschriebene Gedanken, Lichtblicke und Geistesblitze von großer literarischer Qualität.Wem es ernst damit ist, die Welt verstehen zu wollen, dem dürfte keiner dieser Blogs entgehen, jeder einzelne wäre es wert, Aufmerksamkeit zu bekommen.

Nur deshalb sind Suchmaschinen entstanden, Twitter-Empfehlungen, News-Aggregatoren, die Aufmerksamkeit bündeln sollen, sie letztlich aber sprengen.

Carr hat zwar als Erster die Kopfschmerzen beschrieben, aber seine Vermutung, dass ausgerechnet Google uns dumm mache, ist sehr anfechtbar. Weder sein Essay noch dieses Buch hier hätten ohne Google geschrieben werden können.

Das eigentliche Problem ist eines, an dem eine Suchmaschine keine Schuld trifft: Wir Benutzer können die Entlastung, die beispielsweise Google uns bringt, nicht richtig nutzen. Denn wäre es anders, würde die Welt, die heute erstmals ihr vergangenes und gegenwärtiges Wissen in Echtzeit abrufen und teilen kann, vor neuen Ideen nur so wimmeln. Und das tut sie nicht.

»Können Sie irgendetwas benennen, das beendet wurde? Kennen Sie ein Problem, das der ganze ›Diskurs‹ im Netz definitiv gelöst hat? Oder, um die Sache einfacher zu machen, nennen Sie nur eine Dummheit, die widerlegt wurde.« Dies forderte beispielsweise wutentbrannt der Schriftsteller David Brin, einer der wichtigsten Science-Fiction-Autoren der Gegenwart, als einige einflussreiche Blogger Tolstois »Krieg und Frieden« für immer als unlesbar beerdigen wollten.

Doch es geht nicht um Intelligenz, es geht nicht um mangelnde Intelligenz oder abnehmende Intelligenz oder Verdummung. Damit Intelligenz überhaupt entsteht und bemerkt wird, benötigen wir Aufmerksamkeit. Und Aufmerksamkeit ist es, die uns mehr und mehr abhandenkommt. Sie ist, wie Maryanne Wolf es nennt, die wichtigste Energiequelle für unser emotionales und geistiges Selbst.