WARUM WIR UNS MEHR UND MEHR DEN MASCHINEN ANPASSEN

IMAGE as Erste, was Ihr Computer über Menschen lernte, war, dass er Panik verhindern und in bestimmten Grenzen die Befehlsgewalt an sich reißen musste.

Überall, wo Sie mit Rechnern in Kontakt treten, die sich der Organisation und Zusammenarbeit von Menschen und Maschinen widmen - also praktisch überall, vom Textverarbeitungsprogramm bis zum Wahlcomputer -, arbeitet noch immer irgendwo im hintersten Winkel der Software der Ururgroßvater all dieser Programme, die Reste eines Codes namens »Leviathan«, der vor Jahrzehnten im Auftrag der amerikanischen Luftwaffe entwickelt worden ist, um Panik bei einem atomaren Erst-schlag der Russen zu verhindern. Das Philosophenehepaar Beatrice und Sidney Rome hatte damit das erste komplexe Mensch-Maschine-Programm überhaupt entwickelt. Es sollte dem Zweck dienen, Menschen in komplexen Entscheidungssituationen Instruktionen zu erteilen. Und da Bruchstücke von Computerprogrammen, die seit Generationen kein Programmierer mehr angeschaut hat, in die jeweils neuesten Systeme kopiert werden, helfen einige jener Daten-Gene von Leviathan, die einst gelernt haben, einen Atomschlag zu managen, uns dabei, mit unserem neuesten Betriebssystem fertig zu werden.

Glücklicherweise musste das Programm der Romes niemals unter Beweis stellen, dass es im Ernstfall wirklich funktioniert. Nach allem, was wir wissen, scheiterte es an der geringen Speicherkapazität der damaligen Rechner. Aber die späteren Abkömmlinge dieses Programms haben, wie der Wissenschaftshistoriker George Dyson in seinem Klassiker »Darwin unter den Maschinen« bemerkt, noch in den meisten der heute existierenden Computersysteme und Netzwerke mächtig zu tun. Und weil sie die Schnittstelle zwischen Menschen und Rechnern markieren, kann es nicht schaden, einmal nachzuschauen, was sie dort eigentlich tun.

Das Ehepaar Rome simulierte in seinem Programm Menschen »unter sozialen Zwängen«, sogenannte »intelligente Agenten«. Jeder dieser »Agenten« hatte einen gewissen Entscheidungsspielraum, und die Art, wie dieser Entscheidungsspielraum genutzt wurde, tauften die Romes »Taylor« - in Erinnerung an den Erfinder der Arbeitsoptimierung.38 Es war nichts anderes als eine mathematische Funktion, die sterblichen Menschen im Ernstfall ziemlich genau vorschreiben würde, was sie zu tun oder zu lassen hatten.

»Taylor« ist, wenn man so will, die Verkörperung der Intoleranz der Maschinen gegenüber menschlicher Toleranz und menschlichen Schwächen, jedenfalls der erste Versuch, menschliches Verhalten dem Rechner unterzuordnen. »Wir lassen nicht die Arbeiter denken. Wir denken selbst«, sagte der wirkliche Taylor39, und manchmal scheint es genau das zu sein, was heute unsere Computer sagen: Ihr Menschen seid die Arbeiter, die funktionieren, das Denken übernehmen wir.

»Leviathan« ist, wie man heute erkennen kann, ein historischer Übergang. Er überträgt das Körper- und Muskeltrainingsprogramm des wirklichen Taylor im industrialisierten neunzehnten Jahrhundert in den Bereich unseres Gehirns. Das Gehirn muss sich anpassen und den Instruktionen der Zentraleinheit des Computers folgen, es ist der Übergang von Körper zu Geist.Wenn es ihnen gelänge, so schrieben die Romes, den Input lebender Menschen zu verarbeiten, würde eine Zeit anbrechen, in der Menschen Computern nicht nur Befehle erteilten, sondern bereit wären, Befehle von ihnen auszuführen.

Schriftsteller und Künstler haben wohl am meisten unter dem Konflikt zwischen Körper und Geist (manche sagen: Natur und Seele) gelitten, ein Leiden, das jeder nachvollziehen kann, der sich ein Buch über eine neue Hollywood-Diät kauft und daran verzweifelt, dass in seinem Körper nicht geschieht, was im Geist so einfach scheint.

Aber in Wahrheit waren es die Mathematiker, die René Descartes' Satz »Der Körper wird den Geist immer beim Denken behindern« am meisten zustimmen konnten.

Es geht bei uns nicht mehr nur um Körper und Geist, sondern um den »Geist in der Maschine« und unseren menschlichen Geist. Täglich, ja minütlich, sobald die Maschine eine neue E-Mail oder eine neue Anweisung produziert, findet eine Auseinandersetzung zwischen zwei kognitiven Welten statt. Dem Befehl, der auf Ausführung durch den Menschen wartet, und dem Inhalt, der den Menschen in der Struktur eines Befehls weitergegeben wird. Deshalb ist selbst das einfache Surfen im Web am Ende so anstrengend. Wir spüren, dass es irgendwo einen Befehl oder einen Alarm gibt, der uns lenkt. Wir suchen nicht nur nach Neuigkeiten, wir suchen immer auch nach Erlösung von dem, was uns lenkt.

Es war geradezu zwingend, dass aus diesem System, das im Internet perfektioniert wurde, die Frage entstehen würde, ob man Herr seines freien Willens ist. Die Frage ist so konkret geworden, dass sie längst nicht mehr nur die Angelegenheit von Moralphilosophen ist. Viele reden darüber, was ein geistiger Urheber in Zukunft eigentlich noch sein wird. Aber das hat nicht nur mit der Frage des Copyrights zu tun, also damit, wem welcher Gedanke, welches Foto oder welche Texte gehören. Es wird viel grundsätzlicher werden und jeden betreffen: Es geht um den »geistigen Urheber« in einem fundamentalen Sinn, um die Frage, ob wir uns noch durchgehend als intelligente und schöpferische Urheber in unseren eigenen Köpfen fühlen werden. Anders gesagt: Ob wir noch die Kontrolle über unsere Gedanken und Handlungen haben.