WIE DAS WERKZEUG SEINEN ERFINDER UMARBEITET

IMAGE ast kein Computer-Pionier des einundzwanzigsten Jahrhun-derts glaubt mehr daran, in absehbarer Zeit die künstliche Intelligenz der Science-Fiction-Filme zu schaffen. Das war anders in den sechziger Jahren. Damals wurde ausgerechnet von der Psychologie der erste Computer programmiert, der wie ein Mensch kommunizieren sollte. Es war vermutlich der erste und einzige Computer, der den berühmten Turing-Test bestand. Es handelt sich dabei um ein Experiment, das sich das mathematische Genie Alan Turing ausgedacht hatte: Wenn ein Mensch mit einem anderen Menschen und einem Computer kommuniziert, die er beide nicht sieht, und er nach den Antworten nicht mehr entscheiden kann, wer Mensch und wer Computer ist, dann können Maschinen denken.

Der Computer, der den Test bestand, hieß »Parry« und war von dem amerikanischen Psychiater Kenneth Colby programmiert worden. »Parry« simulierte Paranoia und, so die naive Hoffnung, sollte Ärzten zeigen, wie man die Krankheit heilt - letztlich, indem man den Computer therapiert. Hier ein Beispiel, wie Parry mit einem Arzt redet, der wohlgemerkt nicht feststellen kann, ob er mit einem echten Menschen oder einer Maschine redet:


interviewer: Warum bist du im Krankenhaus?
parry: Ich gehöre hier gar nicht her.
interviewer: Wer hat dich denn hierher gebracht?
parry: Die Cops.
interviewer: Warum hast du mit der Polizei Ärger?
parry: Weil die Cops ihren Job nicht tun.
interviewer: Was machen Sie denn?
parry: Cops verhaften die falschen Leute.
interviewer: Manchmal aber auch die richtigen.
parry: Das Gesetz sollte sich lieber um dieseitalienischen Idioten kümmern.
interviewer: Bist du Italiener?
parry: Meine Familie ist britisch, aber ich wurde in Amerika geboren.
interviewer: Kennst du irgendwelche italienischen Idioten?
parry: Ich versuche die Unterwelt zu vermeiden.
interviewer: Aber du hast Angst vor der Unterwelt?
parry: Die Mafiosi sind die schlimmsten Gangster.
interviewer: Hast du Verbindungen zur Mafia?
parry: Kapier doch, die kennen mich.
interviewer: Woher kennen sie dich?
parry: Sie spionieren mir nach.
interviewer: Wieso spionieren sie dir nach?
parry: Sie suchen nach falschen Beweisen, um mir etwas anzuhängen.117

Wir erinnern uns an den Satz von George Miller, wonach die gesamte psychologische Literatur nichts anderes ist, als die Bauanleitung für eine Maschine.

Heute glaubt man zwar noch an die Bauanleitung, aber nicht mehr an den Bau intelligenter Roboter. Ausnahmen, wie der Ingenieur und Fantast Ray Kurtzweil (in dessen Stiftung Google-Gründer Larry Page investiert hat), der davon ausgeht, dass die Maschinen in wenigen Jahrzehnten intelligenter sein werden als die Menschen, bestätigen die Regel.

Dafür, dass die Idee der intelligenten Maschinen aufgegeben wurde, gibt es zwei Gründe. Der erste, sehr wichtige Grund war ein Buch, das im Jahre 1989 erschien, »Des Kaisers neuer Geist« (dt. Computerdenken).Verfasst wurde es von Roger Penrose, dem Lehrer von Stephen Hawking und einem der bedeutendsten Physiker unserer Zeit. Penrose widersprach einer Grundannahme aller Computerwissenschaft: dass sich Natur und menschliches Denken auf Algorithmen reduzieren lasse. Die Debatte, die er auslöste, war enorm, die Beschimpfungen, denen er sich ausgesetzt sah, grenzten an Rufschädigung, doch die allgemeine Wut war erklärlich: Durch die leidenschaftlich vorgetragene These eines so anerkannten Wissenschaftlers versiegten die finanziellen Fördermittel für die Erforschung künstlicher Intelligenz.

Man weiß nicht genau, ob man Penrose dankbar sein soll. Denn seine Intervention richtete die Aufmerksamkeit der technischen Intelligenz auf den Menschen. Wenn es gelänge, ihn besser mit dem Computer zu vernetzen, könnte der Computer von menschlicher Intelligenz lernen und Menschen bei kognitiven Aufgaben unterstützen. Und das war der zweite Grund für den Bewusstseinswandel: das Internet, dessen Chancen noch in den neunziger Jahren selbst von Eingeweihten unterschätzt wurden. Hier bot sich eine sehr viel leichtere und profitablere Möglichkeit, Intelligenz zu erzeugen. Menschen produzieren den Input durch ihre Gedanken, Fotos und Sounds, und der Computer vernetzt all diese Daten wie die Neuronen in einem gigantischen Hirn. Deshalb sprechen die meisten Software-Ingenieure mittlerweile von der Ko-Evolution von Mensch und Maschine.

Die gesamte Revolution der Algorithmen über unser Leben hat eine Vorgeschichte, die jetzt erst durch den Siegeszug des Internets wirklich verständlich wird. Denn was sich nun in ungeheurer Geschwindigkeit in einer Welt vollzieht, in der das ganze Leben der nächsten Generation zum Datenmaterial wird, hat ein Vorspiel.

Ehe unsere Existenz vernetzt wurde, wurden es die Wissenschaften. Von heute aus betrachtet, auf dem Gipfelpunkt einer Computerrevolution, die noch in den frühen achtziger Jahren kaum jemand vorausgesehen hat, scheint es, dass ganze Wissenschaftszweige sich computerisierten: von der Linguistik über die Ökonomie bis zum Arbeitsplatzmanagement, von der Psychologie bis zur Hirnforschung, von der Pädagogik bis zur Medienwissenschaft. Es wirkt jetzt, als seien die unterschiedlichsten Disziplinen wie in einem Brennglas, dem Computer, zusammengeschlossen.

Als die Finanzkrise ihren Höhepunkt erreichte und deutlich wurde, welche Rolle der Computer in ihr spielte, schrieb Jaron Lanier, der als Bürgerrechtsbewegter in der digitalen Welt eine wichtige Rolle spielt: »Es ist wirklich möglich, dass Evolutionspsychologie, künstliche Intelligenz, die Verherrlichung des Mooreschen Gesetzes und der Rest des ganzen Pakets zu etwas völlig Neuem wird, so wie Freud oder Marx in ihrer Zeit. Oder sogar noch größer, weil diese Ideen letztlich in die Software eingebaut werden, die unsere Gesellschaft kontrolliert.«118

Die moderne Hirnforschung beispielsweise könnte die Aufregung des Internet-Pioniers Jaron Lanier nicht verstehen, der in einem legendären Schlagabtausch Pattie Mae vorwarf, durch digitale Steuerungen die Willensfreiheit des Menschen auszuhöhlen.119 »Verschaltungen legen uns fest«, schreibt der Hirnforscher Wolf Singer und löste damit eine bis ins Strafrecht reichende Debatte darüber aus, ob der Mensch für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden kann.120

In der wirklichen Welt, so Singer, werden wir von neurochemischen Prozessen programmiert, die unsere angeblich freien Handlungen bestimmen. »Die Idee eines freien, menschlichen Willens ist mit wissenschaftlichen Überlegungen prinzipiell nicht zu vereinbaren«, ergänzt der Psychologe Wolfgang Prinz, Direktor des Max-Planck-Instituts für Neurowissenschaften.121

Natürlich sind die Hirnforscher nicht weltfremd. Wolf Singer ist der erste, der einräumt, dass Kultur, Erziehung, Normen den Menschen so programmieren können, dass er subjektiv zu einem Wesen des freien Willens wird. Sie argumentieren wie die Quantenphysiker. Was die Wissenschaft erkannt hat - zum Beispiel, dass der Mensch nicht der Urheber seiner Taten ist -, muss im wirklichen Leben - etwa im Strafrecht - keine Rolle spielen. Immerhin reden wir ja auch im einundzwanzigsten Jahrhundert noch davon, dass die Sonne »aufgeht«, obwohl in Wahrheit ja die Erde sich bewegt. Aber der Vergleich stimmt nicht. Denn jetzt haben wir das computergesteuerte Internet als sozialen Lebensraum erobert. Unterhalb der Benutzeroberflächen befinden sich die Maschinenräume, die Nicht-Informa-tiker niemals zu sehen bekommen. Aber dort werden unsere digitalen Doppelgänger gebaut, und ihre moralische Rechtfertigung stammt, worauf Danny Hillis hinweist, auch aus der Hirnforschung. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt, bis das Werkzeug, also der Computer, den Menschen ein weiteres Mal verwandelt.

Auch in unserem Kopf haben wir nur eine Suchmaschine, deren Dopaminproduktion wir durch codierte Akazien steuern oder anzapfen müssen.

Sie misstrauen der nächsten Software-Generation, die jetzt schon weiß, welches Restaurant Ihnen gefällt?

Entspannen Sie sich, sagen die Informatiker. Sie haben ja, wie eine Auswertung Ihrer Assoziationen belegt, Ihre Entscheidung längst getroffen, weil Sie vergleichbar sind mit einer Vielzahl anderer Menschen, die eine ähnliche Such-, Facebook-, Twitter-, Bloggeschichte haben wie Sie selbst. Die Entscheidung findet nur etwas früher im Computer statt als bei Ihnen. Und die Neurowissenschaft assistiert: Ich will, was ich tue.

»Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.« Das sagt Wolfgang Prinz und fügt hinzu: »Eine Entscheidung (findet) früher im Gehirn als im Bewusstsein einer Person statt. Das kann nur bedeuten, dass unser bewusster Willensimpuls so etwas wie ein Ratifizieren einer Entscheidung ist, die das Gehirn schon getroffen hat: Ich will, was ich tue.«

Man kann dieses Spiel immer weiterspielen, es auf Konsum, Moral, Erziehung ausdehnen: Die Matrix funktioniert, ohne sich selbst zu widersprechen.122

Es wäre unfair, die Hirnforscher dafür verantwortlich zu machen, dass die Abteilung künstliche Intelligenz ihre Theorien gewissermaßen in die Computer einbaut. Allerdings scheint sie die buchstäbliche »Verarbeitung« ihrer Theorien im Bereich der Informationstechnologien zumindest in Europa noch nicht wirklich zu interessieren.

Zum Beispiel die Thesen von Jeff Hawkins, der einst den Palm-Pilot erfand, den Großvater aller Smartphones. Hawkins hat ein Buch über »Intelligenz« geschrieben, das der amerikanische Medizinnobelpreisträger und Hirnforscher Eric Kandel überraschenderweise bereits zum Klassiker erklärt hat.Wir müssen die neurobiologische Triftigkeit von Hawkins' Thesen hier nicht diskutieren; entscheidend ist, dass Hawkins, der glaubt, menschliches Denken lasse sich vollständig durch Algorithmen erklären, ohne viel Federlesens zugibt, dass unsere Kommunikation mit den modernen Technologien nur funktioniert, wenn wir von der Berechenbarkeit des Menschen ausgehen.

Prognosen durch Analogieschlüsse (also zum Beispiel die Musikempfehlungen bei Apple Genius), sagt er, »sind das Gleiche wie Urteile, die auf Stereotypen beruhen.«123 Die Computer docken dort in unserem Denken an, wo wir schon selbst wie Computer sind, bei Automatismen und Routinen.Wir erinnern uns an die schmeichelnden Computer und das Experiment mit dem Kopierer. Sie sind Beispiele für solche Stereotypen, die geistlose Handlungen erzeugen. Jetzt wird man digital fortwährend in Stereotypen trainiert, wie komplex und vielfältig ihre Algorithmen auch sein mögen. Das kommt unserer Angst vor Kontrollverlust entgegen. Es führt aber im schlimmsten Fall zu einer neuen Welt, in der wir nicht nur auf Sinnes- und Gedankenreize dressiert werden, wie heute bei der blinkenden SMS, sondern auch bis zu einem gewissen Grad vorausberechnete Handlungen und Gedanken ausführen. Wir werden später sehen, dass das keine Science-Fiction ist, sondern durch die zweite große Welle der Informationsüberflutung - das Echtzeit-Netz - geradezu erzwungen wird.

Fassen wir an dieser Stelle noch einmal zusammen:

Teile der modernen Psychologie und die Neurobiologie haben die Mutter aller unserer Programmierungen geschaffen. Sie ist mit unerschütterlicher Energie dabei, uns zu Kindern einer mentalen Revolution zu erziehen. Sie beurteilt menschliches Denken und Verhalten nach Computersimulationen. Sie verwebt alles mit allem: So wie auf einer Webpage unsere Erinnerungen mit unseren Reiseplänen, unser ökonomisches Verhalten mit unserer Risikobereitschaft, unsere Gesundheit mit unserem DNA-Code verschmelzen, so verflechten sich die Wissenschaften mit den Codes der Software - so sehr, dass Computer in einigen Bereichen der Kognitionswissenschaften und der Psychologie längst als Ersatz für menschliche Testpersonen herhalten müssen. Was man dort entdeckt, wird auf Menschen übertragen. Was man nicht entdeckt, existiert nicht.124 Der Siegeszug der Technologie wurde damit bezahlt, dass man Penroses Warnung gewissermaßen gegen sich selbst kehrte: Wenn nicht alles in der Welt durch Algorithmen zu erklären ist, dann sorgen wir halt dafür, dass nur noch das in der Welt wahrgenommen wird, was nach algorithmischen Prinzipien funktioniert.

Das Werkzeug hat also den Kopf, der es ersann, umgearbeitet.

In diesem Fall war das Werkzeug im Begriff, nicht nur die Welt, sondern ein Weltbild zu erschüttern - doch die Dramatik begriffen viele erst, als das letzte »missing link«, der letzte und wichtigste Baustein in Gestalt des Internets, sichtbar wurde. Erst seit dem Jahre 2007, als die Anzahl der Internetuser zur kritischen Masse wurde und gleichzeitig Google die algorithmische Intelligenz zur Alltagssache machte, ist das neue Weltbild perfekt.