UNSER DENKAPPARAT VERWANDELT SICH

IMAGE ir brauchen kein Tipp-Ex mehr, und die 10 Meter Bücher, die statistisch jeder einzelne Mensch der Welt pro Jahr an gespeicherten Daten produziert, benötigen keinen Regalplatz. Worüber beschweren wir uns also? Information ist kostenlos. Wir sollten uns freuen. Sie kann unendlich oft kopiert und verbreitet werden, und auch das kostet nichts. Aber dass Information gratis ist, heißt nicht, dass wir keinen hohen Preis für sie bezahlen. Information kostet Aufmerksamkeit, wie der Nobelpreisträger Herbert Simon schon 1972 feststellte, und eine Flut an Informationen kann buchstäblich zu einer Armutswelle an Aufmerksamkeit führen.16

Durch die Vielzahl der neuen Medien und durch die Fülle an Informationen, die sie digital versenden, hat bei vielen von uns erstaunlicherweise ein Umbau des Denk- und Erinnerungsapparats eingesetzt. Hirnforscher haben gezeigt, dass sich die neuronalen Verschaltungen in unserem Gehirn verändern, ohne genau sagen zu können, ob noch die Glühbirne am Ende des Stromkreises angeht oder schon die Müllpresse.17 Die neue Architektur verändert auch das Ich, das in ihr wohnt - in einem Tempo, das Evolutionsforscher, milde ausgedrückt, in Erstaunen versetzt. Etliche Hinweise sprechen dafür, dass sich auch unsere geistige Architektur zu verändern beginnt. Es ist eine Verwandlung, wie die von Kafkas Held Gregor Samsa, der eines Morgens erwacht und feststellen muss, dass er über Nacht ein Käfer geworden ist.

Und wenn Sie jetzt meinen, dass das ein abgedroschenes Bild ist, werden Sie später erfahren, dass dieses Bild genau beschreibt, was passiert. Es ist tatsächlich wie bei Kafka: Hinter unserer Verwandlung stecken keine bösen Mächte, niemand sitzt bei Google oder im Silicon Valley, um den Menschen das Denken, Lesen und das Erinnern abzugewöhnen. Im Gegenteil: Es waren die Protagonisten der neuen Technologien, allen voran der Computer-Pionier Joseph Weizenbaum, die als Erste vor dem kognitiven Wandel gewarnt haben, mit dem wir es nunmehr zu tun haben.

Viele von uns registrieren zwar eine Veränderung ihres Denkapparats, aber das scheint sie bisher nicht besonders zu beunruhigen. Irgendwo, so meinen wir, steht schon ein Rechner, der aufzeichnet, was wir vergessen haben, uns daran erinnert, was wir zu tun haben, und uns alarmiert, wenn wir einen Fehler gemacht haben.

Das ist, mit einem Lieblingswort der Epoche, ein »systemischer Irrtum«. In seinem Zellkern steckt das, worum es in diesem Buch vor allem geht: unser Wahn, aus Angst vor Kontrollverlust die Welt in Formeln, Systematiken und Algorithmen, kurzum in Mathematik zu verwandeln. Wir werden immer unfähiger, mit Unsicherheiten und Unwahrscheinlichkeiten umzugehen, und sei es mit der Unsicherheit, welche Information sich hinter der SMS verbirgt, die gerade aufgeleuchtet ist. Wir sind in ständiger Alarmbereitschaft.

Ein Alarm, der dauernd angeht, ist keine Information, sondern eine Ruhestörung.

Als man noch Briefe bekam, konnte man sie zur Not nach Tagen beantworten, manchmal gingen sie auch hilfreicherweise verloren. Mittlerweile aber versteckt sich hinter fast jedem akustischen Informationssignal in unserem Alltag ein tatsächlicher, uns jederzeit umgebender menschlicher Kontakt und erzeugt einen Sozialstress, wie man ihn vorher nur von beleidigten Tanten und Onkeln kannte, für deren Ansichtskarte vom Bodensee man sich nicht bedankt hatte. Jeder weiß, dass E-Mails, auf die man nicht innerhalb von 48 Stunden reagiert hat, niemals beantwortet werden. Selbst wenn man sich entschließt, den Alarm zu ignorieren, ist die Galgenfrist nur kurz, bei SMS beträgt sie wenige Stunden, bei »Instant Messaging Services« Minuten. Die Ingenieure dieser Signale aber haben verstanden und basteln bereits an einer Lösung. »Kein Problem«, sagt Mary Czerwinski, die Arbeitsplatzbeauftragte von Microsoft, »der Computer wird eines Tages verstehen, welche Nachricht wichtig ist und welche warten kann.«18

Die Frage ist nur, ob wir selbst überhaupt noch imstande sind, zu unterscheiden, was wichtig ist und was unwichtig? Wie nicht anders zu erwarten, antworten die Experten auch auf diese Frage wieder mit einer technischen Betriebsanleitung. Die Rechner, sagen sie, werden nicht nur die Nachrichten, sondern auch deren Empfänger, also uns, immer besser verstehen.

Nicht wir haben demnach ein Problem, sondern unsere Geräte.

Ich glaube nicht, dass das stimmt. Ich glaube, dass wir ein ziemlich ernstes Problem haben. »Es könnte sein«, schreibt Daniel Dennett, der ein optimistischer Vordenker der Informa-tions-Technologien war, »dass wir ertrinken…, dass wir seelisch überwältigt werden, dass wir uns nicht den großen bösen Manipulationen unterwerfen, sondern nichts anderem als irgendwelchen unwiderstehlichen Liedchen, Signalen und Einzeilern«.19

GOOGLELOS

Ich gehöre zu den (offensichtlich zahlreichen) Leuten, bei denen Google seit rund einer Stunde nicht erreichbar ist. Und wenn ich »Google« sage, meine ich nicht nur die Suchmaschine, bei der ich im Fall ihrer Nicht-Erreichbarkeit nach Ersatz-Suchmaschinen suchen würde. Ich meine auch den Feedreader meiner Wahl. Und, vor allem: das Mailprogramm meiner Wahl. Gut, ich wusste immer schon, dass ich von Google abhängiger bin, als gut sein kann. Aber ich hatte immer gedacht, das würde sich in einer Form rächen, dass meine Mails oder die systematische Auswertung meiner Suchanfragen der letzten zehn Jahre an den Meistbietenden versteigert würden. Nicht, dass Google mich einfach eines Tages ausschließen würde. Das Gefühl ist schlimm. So kündigt sich in unseren Zeiten die Apokalypse an: »Google ist down.« Der Anfang vom Ende. Beunruhigende Gedanken:… soeben ist nun auch in den südlichen Server ein Flugzeug gestürzt… Dazu die Unfähigkeit, die Tatsache zu akzeptieren, den Computer auszumachen und, sagen wir, das Eisfach abzutauen. Nein. F5. Geht es, wenn ich google.fr eingebe? Nix. Google News? Nix. Google Reader? Nix. Hängt YouTube auch? YouTube hängt auch. Sogar die Google-Ads werden nicht angezeigt. Noch mal nach was suchen. F5. Escape. F5. Ins Postfach gucken. Geht nicht. Jetzt? Jetzt? Jetzt? Jetzt? Jetzt? Jetzt?
Nachtrag, 17.31 Uhr: Jetzt.

- 6. März 2008, 17:09 - 105 Kommentare
Stefan Niggemeier

Im Dezember 2005 erschreckte das amerikanische Bildungsministerium die Öffentlichkeit durch den Befund, dass die Zahl der College-Absolventen, die komplexere Texte interpretieren können, in den letzten vierzehn Jahren um zehn Prozent gesunken sei. Das Beunruhigendste daran, erklärte der Beauftragte für Bildungsstatistik, sei, »dass die Untersuchung nicht prüft, ob Sie Proust verstehen, sondern ob Sie Etiketten lesen können«.20

Ende 2007 schloss sich die »National Endowment for Arts« in den Vereinigten Staaten an, die die bislang vollständigste und gründlichste Untersuchung zum Thema »Neues Lesen« vorlegte. Sie trägt den Titel »Lesen oder Nicht-Lesen - eine Frage von nationaler Bedeutung« und stellt fest: »Am alarmierendsten ist, dass sowohl das Lesen wie die Bereitschaft zum Lesen sogar unter College-Absolventen massiv zurückgegangen ist.«21

Die Autoren dieser Studie - übrigens alles andere als Feinde der neuen Technologien und des Internets - zeigten außerdem, welche Folgen der Verlust an Lesekonzentration für die ökonomischen und sozialen Aufstiegschancen hat - nämlich verheerende. Dieser beklemmende Befund wurde nur noch durch die Erkenntnis in den Schatten gestellt, dass eine schnell wachsende Zahl von Kindern und Erwachsenen nicht mehr nur nicht lesen wollen, sondern nicht mehr systematisch lesen können.

Die Studie erbrachte den Beweis für die Veränderung unserer aller Gehirne. Und für die bemerkenswerte Geschwindigkeit, in der die digital entwickeltste Gesellschaft der Welt verlernt, komplexe Texte zu erfassen.

Dieser Schwund der Lesefähigkeit, von dem wir heute ausgehen müssen, bedeutet nicht, dass überhaupt nicht mehr gelesen wird. Aber Menschen, die Bücher und gedruckte Texte aus Freude lesen - so befürchtet etwa der junge amerikanische Schriftsteller Caleb Crain im »New Yorker«22 -, werden in naher Zukunft so selten werden wie die Sammler von Zinnsoldaten. Und auch Caleb Crain bekennt offen seine Aufmerksamkeitsstörung: »Ich glaube, ich suche im Internet Informationen, hinter denen irgendein sozialer Kontakt steht. Aber meine Sehnsucht wird nie erfüllt. Trotzdem suche und suche ich, wenn ich online bin, ohne wirklich zu wissen, wonach ich suche. Es ist, als ob ich an einem Mückenstich kratze, der durch das Kratzen nur noch schlimmer wird.«23

Vielleicht registrieren Menschen, die von Berufs wegen mit der Gutenberg-Welt zu tun haben und die Veränderungen beim Akt des Lesens hautnah erfahren, solche Entwicklungen eher und schmerzvoller als beispielsweise die Statistiker und Informatiker.

Doch wir können der Tatsache nicht mehr aus dem Wege gehen, dass heute alle Bereiche unserer Gesellschaft, die Wissen unterrichten, produzieren, drucken und verbreiten - die Schulen, die Universitäten, Medien und Verlage -, in einer Krise sind.

Unsere Lage hat, damit kein Missverständnis entsteht, nichts damit zu tun, ob einer gut in Mathe war oder Heines Lyrik versteht. Es handelt sich vielmehr darum, den Dingen nicht mehr gewachsen zu sein. Und nichts ist dafür kennzeichnender als die hilflosen gesellschaftlichen Debatten um Pisa, Bologna, Bildung und lebenslanges Lernen. Unser gesamtes Bildungswesen ist instabil geworden, und in ihrer Hilflosigkeit suchen die für die Vermittlung von Wissen Verantwortlichen in »Zertifizierungen« ihren Ausweg, feste Normen also für jeden Professor und Studenten, so, als handele es sich bei ihnen um Komponenten-Zulieferer für Computer-Hardware.

Es gibt auf die Krise nicht die naheliegende Antwort, dass Google oder das Internet uns dumm machen. Darin steckt eine enorme Unterschätzung der revolutionären Kraft, die diese Systeme erst ansatzweise entfaltet haben. Nach fünfzig Jahren Fernsehen können wir immerhin noch die Frage stellen, ob Fernsehen uns verblödet. Nach fünfzig Jahren Internet könnte es sein, dass wir die Frage nicht mehr verstehen, nicht, weil wir dumm, sondern weil wir zu anderen Intelligenzen geworden sind. Objektiv stößt die alte Medienkritik hier an ihre Grenzen: Selbst die schlechtesten Texte im Internet haben vermutlich nicht die gleiche verheerende Wirkung wie der Trash im Privatfernsehen oder visuelle Streams im Netz. Wenn es um die Verkrüppelung geistiger und emotionaler Fähigkeit geht, dann bleibt das Billig-Fernsehen bis auf Weiteres ungeschlagener Spitzenreiter.

Auch Caleb Crain spricht nicht von einer Deformation. Er spricht, wie fast alle, die sich das Bombardement durch die digitalen Signale bewusst machen, von einer Verwandlung. Der Käfer, der einst Gregor Samsa war, ist keine Deformation. Er ist an die Stelle des bisherigen Ichs getreten. Er ist ein Wesen, das sich plötzlich mit acht Füßen, einem dicken Panzer und einer Antenne durch die Welt bewegen muss. »Lesen«, sagt Caleb, verändert den Geist, »aber hier verändert etwas den ganzen Körper«.

Was passiert eigentlich beim Lesen, und was tut es für die Entwicklung von Menschen?

Lesen ist nicht nur ein technischer Akt und nicht nur ein geistiger Prozess, sondern gewissermaßen ein Bauauftrag ans Hirn. Die Hirnforschung hat gezeigt, wie Regionen des Hirns, die eigentlich für ganz andere Aufgaben gedacht sind - zum Beispiel Sehen, das Hören oder auch der Geruchssinn -, im Laufe des Heranwachsens des jungen Lesers sich neu miteinander verbinden.

Das Hirn wächst dabei gewissermaßen über sich selbst hinaus. Und jeder, der Lesen gelernt hat, erinnert sich daran, wie die Lektüre, nachdem man erst an jedem Buchstaben festklebte, schrittweise nicht nur immer intuitiver wurde, sondern wie sich plötzlich auch Raum für die eigene Fantasie und das eigene Ich-Gefühl eröffnen.

»Das Geheimnis im Herz des Lesens«, schreibt Maryanne Wolf, die Verfasserin des maßstabsetzenden Standardwerks zur Biologie des Lesens, »ist die Zeit, mit dem es dem Gehirn die Freiheit gibt, Gedanken zu haben, die tiefer sind als die Gedanken, die ihm bisher gekommen sind.«24

Diese gewonnene Zeit ist keine bloße Poesie, die sich eine leidenschaftliche Leserin erdichtet. In unserem Hirn befinden sich »Verzögerungs-Neuronen«, deren einzige Aufgabe es ist, »die neuronale Übertragung durch andere Neuronen um Millisekunden zu verschleppen. Das sind die nicht zu berechnenden Millisekunden, die in unserem Bewusstsein Linearität und Ordnung schaffen.«25

Es ist, mit anderen Worten, die kleine Verzögerung, die unser lineares Denken steuert und uns befähigt, ein Buch zu lesen. Die Verzögerung schafft Überblick und Nachdenklichkeit, sie ist gewissermaßen Papier und nicht Bildschirm, und sie ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was wir gegenwärtig erleben. Nicht, weil die Gedanken verlöschen. Es gibt mehr davon als je zuvor. Sondern weil dieser winzige, unscheinbare Verzögerungsschalter in einer Welt der totalen Gleichzeitigkeit überfordert, durchbrennt wie eine Sicherung.

»Das ausgebildete Hirn eines Lesers«, sagt Wolf, »hat buchstäblich mehr Zeit zum Denken.« Zeit aber ist es, die die Informationstechnologien mit ihrem »je-schneller-je-mehr-je-besser« uns nimmt. In der unmittelbar bevorstehenden Ära des »Echtzeit-Internets« werden wir sie gar nicht mehr haben.